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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

und ob der Abstieg gelingen werde, der immer schwieriger ist als das Heraufkommen. Das alles aber wird aufs erheblichste gesteigert, wenn die stützende Hand und die in jeder Hinsicht hilfreiche Anwesenheit des Führers mangelt. Der Einzelne kann an Stellen dem Verderben anheimfallen, wo er mit einem Genossen nur geringe Schwierigkeiten findet.

Diese Auseinandersetzung fand den Beifall eines Anwesenden, und er unterstützte sie durch Mitteilung einer Geschichte, die sich vor wenigen Tagen auf dem vielbetretenen Uebergange von der Brennerstraße ins Tuxer Thal abgespielt hatte.

Ein Student war gegen Abend von Hintertux fortgegangen, um die Brennerbahn zu erreichen. Das Tuxer Joch, ein begraster Wall, wird unter diejenigen Uebergange gerechnet, denen man in der Regel ein „Führer entbehrlich“ beisetzt. Der Student war auch ohne Schwierigkeit bereits auf der westlichen Abdachung des Joches angekommen, als er von einem Grasbande abrutschte und einige Schritte weit gegen einen Felsblock stürzte. In der Anstrengung, sich zu helfen, zog er sich weiter gar nichts als eine einfache Muskelzerrung am Fußknöchel zu. Bald fing dieselbe an zu schmerzen und er setzte sich wieder, um zu rasten. Er zog den Schuh aus, um die Art der Verletzung zu betrachten, konnte ihn aber nicht wieder anziehen, da der Fuß rasch anschwoll. Die beginnende Dämmerung und die Schmerzen in dem nur mit dem Strumpfe bekleideten Fuße machten den Gang unsicher. Bald mußte er sich abermals niederlassen. Jetzt rief er in die beginnende Nacht hinein, damit ihn vielleicht ein Ochsenhirt höre und Hilfe bringe, aber nur das Geräusch der Wildwasser gab ihm Antwort. Er versuchte nun, mit Aufbietung der letzten Kraft thalwärts zu kommen; indessen die Dunkelheit oder der Schmerz verwirrten ihm das Unterscheidungsvermögen, er geriet, anstatt in die Nähe der Ochsenhütte, weiter aufwärts an eine brüchige Stelle, über welche er in den Thalbach hinabrutschte. Dieser war nicht tief, aber die Wellen durchnäßten den ganzen Körper. Gleichwohl gelang es dem Unglücklichen, wieder über die Rutschfläche hinauszukommen, aber nur, um abermals in den Bach hinabzugleiten, wo er nun, zwischen zwei Blöcken eingekeilt, festsaß. Jetzt half das Schreien gar nichts mehr, denn das Tosen des Baches hätte auch eine noch viel stärkere Stimme völlig übertönt.

So verging die Nacht, es verging aber auch der größte Teil des nächsten Tages. Denn erst gegen Abend kam über das Joch ein Reisender mit einem Führer, der das jetzt sehr schwach gewordene Rufen vernahm. Die Ferienfreude des armen jungen Menschen war dahin und er darf sich noch beglückwünschen, wenn er nicht eine schwere und dauernde Schädigung seiner Gesundheit davongetragen hat. Mit einer kleinen Ausgabe für einen Führer wäre er diesem Abenteuer entronnen.

„Lassen wir die Bezeichnung ‚Führer‘ fallen,“ nahm nunmehr ein Mann das Wort, den ich während dieses Abends schon öfter mit Verwunderung betrachtet hatte. Ich kann sein Gesicht nicht besser schildern, als indem ich es – von seiner Magerkeit abgesehen – mit einer Mondkarte vergleiche. Da waren Risse und Rillen, zerschundene Stellen, allenthalben Furchen und Vertiefungen. „Wenn man sich an das Wort ‚führen‘ hält,“ bemerkte er, „so kann wirklich in vielen Fällen von einem solchen Mann ganz abgesehen werden. Handelt es sich bloß um das Finden des Wegs, so giebt es viele Berge, bei denen das jeder selbst vermag. Wiederum giebt es ganz außerordentliche Spitzen, auf welche es kein Führen giebt, weil noch niemand droben war. Setzen wir aber statt Führer ‚Begleiter‘, so kommen wir für solche Gänge wie den des eben erwähnten Studenten dem Sachverhalt näher. Gefunden hat er den Weg auch allein. Hätte er aber einen Begleiter zur Seite gehabt, so hätte das wenig bedeutende Vorkommnis einer Verstauchung eine ganz andere Wendung genommen. Pfade, welche in die Bergwelt führen, sollte man darum niemals allein beschreiten. Die Unglückschronik, welche uns die Fälle von einsamem Sterben und Verderben erzählt, ist so umfangreich, daß jene weit grausigeren und mehr besprochenen Katastrophen, in welchen Wanderer und Führer den Untergang finden, an Anzahl dagegen verschwinden. Diese letzteren finden ihren Wiederhall in allen Zeitungen. Die ungleich häufigeren Fälle aber, in denen ein einsamer Wanderer gleichsam ‚in der Stille‘ verunglückt, gehen zumeist unbeachtet vorüber. Erstlich fällt das Verschwinden eines solchen regelmäßig erst nach einiger Zeit auf. Dann heißt es, dieser oder jener wird ‚vermißt‘. Findet man ihn irgendwo, so ist oft schon so viel Zeit darüber hingegangen, daß man sich an die frühere Nachricht nicht mehr erinnert, und kommt er nicht zum Vorschein, so wird überhaupt nicht mehr davon gesprochen. Ungezählte Leichname liegen noch heute da und dort in den Wildnissen der Eiswelt. – Einsam herumgehen bleibt immer bedenklich. Diese Lehre finden Sie auch in meinem Gesicht eingegraben. Und ich kann es fast ein Wunder nennen, daß sie nicht von meinem Leichenstein erzählt wird. Hätte ich einen Menschen neben mir gehabt, so wäre mir diese lästige Auszeichnung erspart geblieben.“

Wie jedes Beispiel, das den Augen leibhaftig entgegentritt, mehr erregt als ein anderes, so geschah es auch hier. Alles wollte wissen, was da vorgegangen war. Wir erfuhren es alsbald.

„Der Hauptantrieb zu verwegenen Unternehmungen ist die Eitelkeit. Der eine will seine Kletterthaten in Fachzeitschriften gepriesen sehen, ein zweiter klettert, um andere durch seine Leistungen zu verblüffen, ein Dritter, weil irgend einer an seiner Fähigkeit zweifelt, dies oder jenes durchzuführen. So erging es mir, als es sich auf der Veranda des Bärenbads im Stubai eines Tages um die ‚Sonnenmauer‘ handelte. Als ich vorüberging, hörte ich sagen: ‚Da kommt ja einer der ärgsten Bergfexen. Von dem können wir erfahren, ob es möglich ist, auf die Sonnenmauer hinaufzukommen.‘ Ich entnahm aus dieser Aeußerung, daß sich das Gespräch vorher um jene unerstiegene Spitze, welche stets die Blicke der Gäste des Bärenbades anzieht, gehandelt hatte. Als ich die Veranda betrat, wurde das Gespräch noch immer fortgesetzt. Schließlich nahm ich daran teil, indem ich behauptete, daß ich es nicht gerade für unmöglich hielte, die Spitze zu erreichen. Meine Worte erregten allgemeinen Widerspruch. Nur ein einziger gab sie bedingt zu, indem er meinte, die Sache ließe sich möglicherweise durchführen, doch nur unter der Voraussetzung, daß vorher an den schlimmsten Stellen Haken, Ringe, Drahtseile, Leitern u. dgl. angebracht würden. Von diesem Augenblicke an war mein Entschluß gefaßt. Ich wollte zeigen, was ein verwegener Wille vermag. Schon am nächsten Tage mußte ich, das stand bei mir fest, die Unternehmung wagen, damit noch die nämlichen Gäste, die heute gegenwärtig gewesen, ihren Irrtum widerlegt sehen könnten. Niemand erfuhr etwas von meiner Absicht. Als ich am nächsten Morgen den Weg antrat, schienen mir die Stimmen der Berglerchen, die sich in den Wänden der Sonnenmauer herumtrieben, von glücklicher Vorbedeutung. Ich will die Gesellschaft nicht mit der Erzählung davon langweilen, wie ich da über die lotrechten Absätze und Wände hinaufkam. Ich kann nur sagen, daß vier bis fünf Stunden lang jeder Fehlgriff mit der Hand mich Hunderte von Metern hinabgestürzt hätte. Ich bin nicht kopfscheu, aber einmal wäre ich doch beinahe dem Schwindel zum Opfer gefallen, als eine vom Wind getriebene Wolke rasch unter mir hindurchjagte und es mir einen Augenblick lang schien, als ob die Wolke stillstände und der Berg sich in der entgegengesetzten Richtung bewegte. Als ich oben ankam, erblickte ich in der furchtbaren Tiefe einige bewegliche dunkle Punkte. Zugleich hörte ich verwehten Glockenschall. Die Feldarbeiter wurden zum Mittagessen gerufen. Dann baute ich auf den losen Trümmern einen Steinmann und trat den Rückweg an. Es war dies übrigens an jenem Tage nicht das letzte Mal, daß ich den Gipfel betrat. Ich mußte noch sechs- oder siebenmal auf ihn zurückkehren, um nach einer anderen Möglichkeit des Abstieges zu suchen, da ich in der einen und anderen von mir eingehaltenen Richtung nicht mehr weiterzukommen vermochte. Roch jetzt bricht mir bei der Erinnerung an jene Stunden fast der Angstschweiß aus. Oft genug mußte ich den Rücken fest an die Wand drücken und mit den Füßen an den glatten Felsennadeln, auf welche selbst ich nicht hinabblicken konnte oder durfte, nach einem Stützpunkt herumtasten. Die Schuhe hatte ich schon längst zurücklassen müssen. Einige Zeit lang hatte ich sie noch auf dem Rücken getragen, dann aber war ich genötigt, sie auch von dort zu entfernen und hinabzuwerfen. Schließlich gelangte ich vor einen hervortretenden, buckelig unterhöhlten Felswulst. In seinem Schutz mochte sich wohl zu anderer Jahreszeit unten eine mächtige Ansammlung von Schnee erhalten. Damals aber war diese schon soweit hinweggeschmolzen, daß ihr äußerster Rand nur noch in einiger Entfernung von dem Felsbuckel zu sehen war. Hätte ich nun einen Genossen gehabt, so hätte er mich oder ich ihn soweit zu halten oder zu stützen vermocht, daß er auf jenes Schneefeld hinabgekommen wäre und dann den Nachfolgenden hätte auffangen können. Unter den vorhandenen Umständen aber blieb mir nichts

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 315. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_315.jpg&oldid=- (Version vom 5.5.2022)