Seite:Die Gartenlaube (1894) 316.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

übrig, als allein den Sprung auf das Schneefeld hinab zu wagen. Er gelang, aber seine Gewalt warf mich im Abprall über das Schneefeld hinaus mitten unter die scharfen Steintrümmer hinein. Das war also das!“

Und dabei deutete er auf sein von Narben durchfurchtes und entstelltes Gesicht.

„Die Thorheit, so etwas allein zu unternehmen, hat sich verhältnismäßig noch gelinde gerächt. Es waren zehn Wahrscheinlichkeiten gegen eine, daß ich nicht mehr lebendig herabkam.“

Ein Herr aus der Gesellschaft fragte den Erzähler, ob die Aussicht von der Spitze nach seiner Meinung im Verhältnis zu den überstandenen Gefahren genußreich gewesen sei. Der kühne Bergsteiger verneinte das und sagte, er müsse aufrichtig gestehen, daß von der benachbarten leicht zugänglichen Kuhalp aus sich ein anziehenderes und lehrreicheres Bild biete. als von jenem Zacken. „Uebrigens dürfte schwerlich jemals ein Besteiger dieses letzteren zu der Stimmung kommen, solche Eindrücke auf sich wirken zu lassen. Er hat, wenn er einmal dort oben ist, an anderes zu denken. Meine Belohnung war lediglich die Verblüffung der Badegäste, als sie am nächsten Tage den Steinmann erblickten.“

Es wurde noch allerlei über ähnliche Unternehmungen gesprochen und so mancher Fall berichtet, in welchem das Leben eines Reisenden um jämmerlicher Kleinigkeiten willen verloren gegangen war. Eine Muskelzerrung, ein an sich ganz unbedeutendes Unwohlsein, ein Abirren vom Wege, irgend eine Witterungslaune können die schlimmsten Folgen nach sich ziehen, wenn nicht ein Genosse zur Seite geht.

An jenem Abend ahnten wir alle nicht, wie rasch sich dafür eine weitere ergreifende Bestätigung finden sollte.

Etwa acht Tage später befand ich mich mit zwei Genossen, die damals mit in der „Rose“ zu Tiers gewesen waren, auf einem bequemen, vielfach beschrittenen Uebergang zwischen jenen weißen Bergen, die man von der Schwelle der „Rose“ aus sieht. Wir rasteten eben vor einer behaglich eingerichteten Hütte, die dort den Wanderern als Obdach dient. Vor der Hütte brechen Quellen aus dem Moosboden und flechtenbehangene Bergtannen schneiden schöne Bilder aus dem nahen Ferner aus. Hoch oben erscheinen weiße Zelte, von Wolken umzogen. Manchmal donnerte es herab von Eislawinen, welche die Wärme des Mittags löste. Es war ein Alpenbild, wie man es schöner und gewaltiger nicht wünschen kann.

Mit einmal kam ein Hirt, welcher nach verlaufenen Hammeln gesucht hatte, und berichtete, unten beim Weißen Bach habe er eine gestürzte Kuh liegen gesehen. Sie liege gerade unter dem Palfen, auf dem das viele Edelweiß wachse.

Da wir, obwohl es noch früh am Nachmittag war, der schönen Aussicht und der bequemen Unterkunft halber in diesem Berghause zu übernachten beschlossen hatten, so lagen immerhin noch ein paar Stunden vor uns, die wir mit Herumschlendern auf diesem Almenboden zubringen konnten. Es lockte uns das Wort „Edelweiß“, und wir beschlossen, jenem Palfen einen Besuch abzustatten. Der Schafhirt diente uns als Begleiter und Führer. Nachdem wir lange Zeit auf einem ebenen mit Speik und Edelraute bedeckten Boden dahingegangen waren, senkte sich der Grund etwas und wir hörten alsbald das Rauschen eines Wasserfalles aus einer Tiefe herauf, deren Rand augenscheinlich ganz nahe sein mußte. In der That brach die geneigte Weidefläche jäh ab und wir blickten urplötzlich auf eine um etwa vier- oder fünfhundert Meter tiefere Thalstufe, zu welcher diese unsere Wiese in einer einzigen fast lotrechten Wand abstürzte. Als wir so weit gekommen waren, daß wir den untersten Teil des Wasserfalles schauen konnten, deutete der Hirt auf einen schwärzlichen Gegenstand, der, wie es schien, halb im Wasser lag, und sagte: „Dort liegt die Küh.“ Ich richtete mein Fernrohr auf die Stelle, trat aber nach wenigen Augenblicken erschrocken einen Schritt zurück. Das war kein Tier, sondern offenbar ein Mensch.

Uns verging der Gedanke an Edelweiß; wir umschritten auf immer noch bequemem Pfade den Absturz und gelangten bald an die Stelle. Bei unserer Annäherung flatterten einige Raben auf und verloren sich zwischen den Bergerlen. Und dann bot sich uns ein Bild von entsetzlicher Schauerlichkeit, niemals werde ich den Anblick des zur Hälfte im Wasser liegenden, grausam zerschundenen und entstellten Toten vergessen.

Ich sorgte zunächst dafür, daß er ganz aus dem Wasser herausgezogen wurde, ließ ihn mit einem kleinen Hügel von Steinen überdecken und schickte den Hirten ins Thal hinab, damit er die bei solchen Gelegenheiten notwendigen obrigkeitlichen Personen herbeihole. Es war offenbar, daß der Verunglückte entweder in der Dunkelheit oder bei schlechtem Wetter sich durch die Bequemlichkeit des Wiesenpfades hatte verführen lassen, ihn für den richtigen Thalweg zu halten, und dann unversehens an den Rand der Wand gelangt und über dieselbe unmittelbar oder auch in mehreren Abstürzen hinabgefallen war. Das letztere erschien als das Wahrscheinlichere. Es war keine Spur von einer Reisetasche oder sonstigen Habseligkeiten zu entdecken, kein Hut, kein Stock, nichts von dem, was auch die am bescheidensten ausgestatteten Wanderer an oder mit sich zu tragen pflegen. Das alles mußte ihm auf den staffelweisen Abstürzen entfallen sein.

Wir machten deshalb nicht mehr den gleichem Weg zurück, sondern schlugen den Hirtensteig ein, der sich in ziemlich steilen Windungen in der unmittelbaren Nähe jener Wand hinaufzieht. Unsere Vermutung erwies sich als richtig. Bald sahen wir die Fetzen eines Kleidungsstückes an einem Felsblock hängen. Weiter hinauf fand sich ein halb vermoderter Hut zwischen Steinen eingekeilt. Gerade unter dem Rand aber erblickten wir einen Gegenstand, der wie ein schwarz eingebundenes Buch aussah. Der unternehmendste von uns stieg hinüber und brachte eine lederne Brieftasche mit.

Wie groß war mein Entsetzen, als ich in Briefen sofort den nämlichen Namen fand, der mir mehrmals in Zeitungen vorgekommen war, den Namen des jungen Mannes, welcher damals nach seiner tollkühnen Besteigung von Tiers aus spurlos verschollen war. Er hatte also nicht die Verwegenheit jener Besteigung mit seinem Leben gebüßt, sondern diesen einfachen Gang, von welchem gesagt wird, daß ihn Kinder unternehmen können. Und abermals war es also eine „leichte Partie“ gewesen, welche das Unglück herbeigeführt hatte.[1] War noch ein Zweifel übrig, so schwand er beim Anblick der Tagebuchblätter, welche die Tasche enthielt. Es fanden sich Bleistiftnotizen darin vor, welche bis zur Ankunft im Berghause fortgesetzt waren. Aus ihnen ging hervor, daß der Verunglückte nach dem Verlassen jener Zinne eine ganz andere Richtung als die vermutete eingeschlagen und sich sofort in Eilmärschen nach diesem Teile des Gebirges gewendet hatte, wo wir ihn jetzt gefunden. Es konnte also der Tag festgestellt werden, an dem er oben in der Hütte vorgesprochen haben mußte. Dadurch wurde alles übrige aufgeklärt, denn die Leute auf dem Berghause erinnerten sich, daß an dem bezeichneten Tage – es war ein Feiertag gewesen – ein junger Mensch von dem von mir beschriebenen Aeußeren dagewesen sei. Es herrschte damals schlechtes und dunkles Wetter, „beim Joch war’s finster,“ bemerkte der Wirt des Berghauses. Man hatte den Wanderer, als er weiter wollte, zugeredet, hier über Nacht zu bleiben oder sich von einem der Männer, welche an diesem Tage feierten, begleiten zu lassen. Er hatte das abgelehnt – und war in den Tod gegangen.

Am nächsten Tag kamen die Diener des Gesetzes und wir fanden uns wieder an der Unglücksstätte ein. Alles geschah in der vorhergesehenen Ordnung. Die Ueberreste wurden auf ein von uns herbeigeschafftes Brett geschnallt und der Zug bewegte sich nach der Höhe. Außer uns waren aber noch andere Zuschauer da – zwei Adler, die unverwandt von einem unzugänglichen Zacken herabschauten. Als wir weiter oben ins Alpenrosengestrüpp gerieten, pflückten wir Zweige mit den brennroten Blüten und flochten die ganze Gestalt des Armen damit ein, damit das entsetzliche Schaustück den Augen der Müßigen entzogen bleibe.

So kehrte der junge Mensch zu dem Hause zurück, von welchem er vor Wochen ausgegangen war. Derjenige, an den der Vater seine Hoffnung, die Mutter und die Geschwister ihre Sorgen verschwendet hatten, zog nun als eine stille Last auf den Schultern armer Hirten durch die wolkentragenden Berge. Um seine zerfallende irdische Hülle schlangen sich die Blumen, die in der Farbe der Liebe glühen. Aber wir empfanden doch den Stachel, der in dem frühen Ende dieses jungen Mannes lag, und durch alles Mitgefühl ließ sich die Anklage nicht übertäuben: „Durch eigene Schuld!“



  1. Dr. W. Schultze, der in den „Mitteilungen des D. u. Ö. Alpenvereins“ die alpinen Unglücksfälle des Jahres 1893 einer Betrachtung unterzieht, kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, daß die leichten Touren verhältnismäßig am meisten Opfer fordern, deshalb, weil sie von Anfängern und Ungeübten unterschätzt werden. Von den 30 Unglücksfällen in dem genannten Jahre fielen 18 (= 60%) auf führerlose Touristen, darunter 12 auf durchaus leichte Touren. Die Redaktion.     




Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 316. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_316.jpg&oldid=- (Version vom 28.10.2020)