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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

es damit aufnehmen wollen, hatte gehofft, eine Liebe wie die seinige werde es lernen, alles zu überwinden. Aber er hatte nicht die stille gewaltige Macht bedacht, die ein Toter besitzt, eine Macht, die stärker ist als die jedes Lebenden.

Als jetzt Montrose das eine Wort „Dich!“ aussprach und seiner jungen Gemahlin dazu in die Augen sah, mit seinem tiefen zwingenden Blick, da errötete das liebliche Gesicht wie schuldbewußt – sie gedachte ihrer Träume, in denen Albrecht Kamphausen und nicht ihr Gemahl herrschte.

Ein neckisches Lüftchen weich und kosend, kam gezogen und hob die goldflimmernden Löckchen um Stirn und Nacken der jungen Frau. Drüben lag das Meer, es dehnte sich ruhevoll, in so tiefer satter Bläue, wie die Ostsee, an der Ilse heimisch war, sie niemals gezeigt, aber das war doch die heimische See gewesen, und hier, so schön und berückend es war, blieb doch immer die Fremde! Obgleich die Veranlassung so traurig war, die sie heimrief – Ilse wollte fast dankbar dafür sein. Ihr Gatte hatte beabsichtigt, mit ihr langsam die Riviera entlang zu reisen und dann in bequemen Etappen nordmärts zu fahren – nun sollte sie heute abend schon der Schnellzug nach der Heimat führen! Ilses Herzschlag ging rascher bei diesem Gedanken; sie sehnte sich nach dem Vater, nach dem alten wunderlichen Onkel Erich und seinen „Kajüten“, in denen sie jedes Stück an ihr kurzes Glück erinnerte, sehnte sich auch nach der „Perle“, die ihr teuer geworden war wie ein lebendes Wesen. Hatte sie doch um der „Perle“ willen das schwerste Opfer ihres Lebens gebracht, und wir liebeu immer, wenn auch oft mit bitteren Schmerzen, was unserem Herz ein Opfer gekostet.

Durch die Gebüsche und Bäume leuchtete es hell; dort zog sich eine Promenade hin, die um diese Stunde – es war vier Uhr nachmittags – sehr belebt war. Zuweilen klang das Stimmengewirr, dazwischen ein Ausruf oder ein helles Kinderlachen zu den beiden herauf, die jetzt stumm, jedes in seine eigenen Gedanken vertieft, nebeneinander auf der Terrasse saßen.

Plötzlich scholl von der Straße her ein Hundebellen, in tiefen und dröhnenden Brustlauten. Das Tier war nicht zu sehen, die Bäume und Büsche entzogen es dem Blick, aber es war offenbar ganz in der Nähe der Terrasse. Herr von Montrose sah erstaunt auf, als Ilse eine rasche Bewegung machte. Alles Blut schien ihr zum Herzen geströmt zu sein, ihr Gesicht war weiß geworden wie ihr Kleid. Ihr Gatte betrachtete sie voll Besorgnis, und sein Erstaunen wuchs, als sie sich weit im Schaukelstuhl vorneigte, dessen Lehnen mit beiden Händen umklammerte, wie um sich daran festzuhalten, und mit lauter Stimme: „Korsar! Korsar!“ rief. Da kam es in mächtigem Satz über die Brüstung, welche die Anlagen und die Terrasse von der Promenade trennte – ein riesiger schwarzweißer Leonberger mit langem Behang und buschigem Schweif. Hinter ihm her ertönte Kindergeschrei – hatte er in seinem ungestümen Lauf ein Kind umgerissen? Vormärts schoß er in langen Sprüngen, ein paar junge Gebüsche knickend, und nun die Stufen, die zu der Terrasse emporführten in wildem Anlauf nehmend, warf er sich in wuchtigem Anprall gegen Ilse.

Wie sich dann der Leonberger ihr zu Füßen schmiegte und leise winselnde Laute ausstieß, die beinahe menschlich klangen, wie sie sich zu ihm niederbeugte und mit ihrer zitternden Rechten den klugen Kopf des schönen Tieres streichelte, da war sie so fassungslos, daß sie auf Montroses wiederholte besorgte und dringende Fragen immer und immer nur die eine Autmort fand: „Korsar! Korsar!“ Und der Hund gebärdete sich wie sinnlos vor Freude – jetzt platt am Boden liegend, wie um seine demütige Untermerfung zu zeigen, nun wieder emporspringend, mit lautem Gebell die junge Frau umkreisend, und nun plötzlich aufhorchend, fest auf den Füßen stehend, den Kopf seitmärts gewendet, unruhig den Schweif bewegend, als wollte er sagen: „Hast Du denn nicht gehört?“ Ja, sie hatte gehört – eine laute gebietende Männerstimme, die aus ziemlicher Nähe wiederholt rief: „Korsar! Hierher, Korsar! Zu mir!“

Aher Korsar gehorchte nicht. Zweimal gab er Antwort mit seinem dröhnenden tiefen Bellen, zum Zeichen, wo er zu finden sei, im übrigen blieb er, wo er war. Jetzt bog ein hochgewachsener Mann in dunkler Kleidung um eine Gruppe von Pinien und näherte sich langsam der Terrasse. Ilse stand plötzlich auf, wie von unsichtbaren Händen in die Höhe gezogen, und ging dem Näherkommenden ein paar Schritte entgegen. Er kam unbefangen auf sie zu, den Hut in der Hand, bereit, die fremde Dame für Korsars ungehöriges Betragen um Verzeihung zu bitten – als er die Gestalt im meißen Kleide und das Gesicht näher ins Auge faßte, blieb er wie in den Erdboden gewurzelt stehen.

Auch Montrose war aufgestanden, mit einem jäh erwachten Schreck starrte er dem Fremden ins Gesicht. Es waren edelgeschnittene Züge, aber auffallend bleich. Die Augen lagen tief und hohl, die Wangen waren eingefallen, um den Mund zogen sich schmerzlich bittere Falten; die Haltung der hochgewachsenen Gestalt hatte etwas Müdes, Kraftloses. Korsar wandte den klugen Kopf von einem zum andern, ging dann die drei Stufen der Terrasse herab und rieb sich gegen seines Herrn Knie, als wollte er vermitteln.

Sein Herr ermannte sich endlich und sprach. Es kostete ihn eine gewaltsame Anstrengung, und die Stimme hatte keinen Klang, aber er sprach. „Verzeihen Sie, bitte, verzeihen Sie mir! Ich konnte nicht ahnen, wen ich hier finden würde – ich wollte Ihnen nie wieder begegnen, da ich wußte, wußte –“ Er brach ab, der Schweiß trat ihm auf die Stirn, sein Atem fing an, hörbar zu gehen.

„Albrecht!“ sagte Ilse ganz leise, wie aus einem Traum heraus. Er schien das nicht zu hören oder nicht hören zu wollen; er sah immer nur Herrn von Montrose an. „Ich – ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig,“ wandte er sich an diesen. „Wollen Sie sie anhören oder soll ich gehen und Ihnen später schreiben?“

Montrose suchte nach einer Antmort. Endlich wandte er sich zu Ilse. „Dies ist Kapitän Kamphausen?“ fragte er, Ilse nickte stumm. „Und willst Du ihn hören? Du hast zu entscheiden!“

Sie sah mit einem wirren Blick um sich, als wähnte sie, zu träumen. Konnte denn, konnte dies Wirklichkeit sein? Aber sie fühlte ja Korsars weiche heiße Zunge an ihrer Hand, und dort stand Albrecht – Albrecht, den sie so inbrünstig geliebt und betrauert ....

Voller Angst hob sie ihre Hände empor und drückte sie gegen die Schläfen. Wild wirbelten ihr die Gedanken durcheinander, – wunderbare Rettungen Schiffbrüchiger, von denen sie gehört und gelesen, fuhren ihr durch den Sinn. Also zu denen gehörte Albrechts Schicksal nun auch! Und nun war alles, alles zu spät, alles vorbei! Sie mar eines andern Gattin, es gab keine Hilfe für sie und Albrecht Kamphausen!

Montrose umfaßte sie und geleitete sie zu ihrem Schaukelstuhl zurück, ganz mechanisch setzte sie sich nieder. Dann fragte ihr Gatte sie von neuem: „Willst Du ihn hören? Du hast zu entscheiden!“

Ihr klang das letzte Wort wie Hohn. Sie und entscheiden! Sie hatte ja schon entschieden, hatte selbst mit fester Hand die Würfel ihres Lebens geworfen; was war jetzt noch zu thun? Aber sie hatte die Frage verstanden und mußte sie beantworten, sie nickte also und suchte in Albrechts Auge zu lesen, aber er schaute beharrlich von ihr fort. Montrose schob ihm einen Stuhl hin und er ließ sich darauf nieder wie ein völlig erschöpfter Mann. Korsar hatte noch eine Weile fragend zu Ilse aufgesehen, jetzt aber streckte er sich zu seines Herrn Füßen und ließ den Kopf hängen, als verdiente er Schelte, als wüßte er, was er angestiftet.

Eine bange Pause. Zuletzt fing Kamphausen an, zu sprechen. Sein umdüsterter Blick hatte lange auf Montrose gehaftet, als wollte er sich dessen Bild einprägen für alle Zeiten, jetzt sah er von ihm fort und zum Meer hinüber, wie wenn er dem seine Erlebnisse berichten müßte. Seine Stimme hatte gegen früher einen ganz veränderten Klang, es lag etwas Eintöniges, absichtlich Kaltes und Nüchternes darin, er sprach so, als ob er die Geschichte eines fremden Mannes nacherzählte.

„Ich kann mich kurz fassen, es ist nicht viel zu sagen. Ich muß nur von neuem betonen, daß es keinen Augenblick in meiner Absicht lag, hier wie ein Romanheld, wie ein Gespenst aus dem Grabe aufzutauchen. Ich habe jede Begegnung vermeiden wollen. Ich hörte, Sie seien in Rom, und dorthin habe ich geschrieben, um Ihnen zu sagen, daß ich lebe, daß ich absichtlich nie Ihren Weg kreuzen würde, daß aber der Zufall Ihnen Kenntnis von meinem Dasein geben könnte und daß ich dem zuvorzukommen wünschte. Das steht in meinem Brief an Sie, es sind nur wenige Zeilen – man wird sie ohne Zweifel Ihnen aus Rom nachsenden.“

Albrecht hatte während des letzten Satzes vom Meer weggeblickt und Montrose angesehen, zum Zeichen, daß er jenen kurzen Brief an ihn gerichtet. Montrose verneigte sich und Kamphausen wandte seine Augen wieder der See zu. „Was mit mir geschehen ist, nach dem Schiffbruch, davon kann ich selbst kein Wort sagen, ich muß es andern nacherzählen, jenen, die mich fanden und aufnahmen.“

(Schluß folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 321. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_321.jpg&oldid=- (Version vom 13.11.2023)