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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

gefunden hat. Das Pergament muß Euch gehören, es lag auf Eurem Weg – Ihr müßt es verloren haben.“

„Nein, Herr Waze, das Blatt gehört mir nicht!“ Eberwein nahm den Streif und rollte ihn auf. „Auch keinem meiner Brüder. Ein Fahrender, der Euer Haus gesucht, mag wohl das Blatt verloren haben ... es ist ein weltlich Lied.“ Und mit halblauter Stimme las er:

„Es schwebt der fürstliche Aar im Blau,
Den Blick gerichtet zur Ferne,
Ihn lockt Frau Sonne, ihn kümmern nicht
Die kleinen Knechte, die Sterne.
Sein Blick späht über die Berge hin,
Sucht nimmer Thal und Halde,
Ihn kümmert das Nest der Raben nicht,
Das sie bauten im finsteren Walde.
Es mag bestehen, es mag vergeh’n
Und fallen den zausenden Winden,
Es mögen die Füchse schleichen und späh’n
Und ihre Beute finden.
Der fürstliche Aar nimmt hohen Flug,
Die Blicke fernab gewendet,
Und nimmer frägt er, wie der Streit
Im tiefen Wald sich endet.“

„Ein Meisterlied!“ schrie Herr Waze wie von Sinnen, „ein Meisterlied!“ und faßte die schwere frischgefüllte Bitsche. „Dem unbekannten Sänger einen festen Trunk zur Minne! Er meint es gut mit den Füchsen!“ Sein heiseres Lachen erstickte in der Kanne.

Eberwein ließ die Rolle sinken und blickte befremdet, von peinlicher Empfindung erfaßt, an der Tafel umher. Ueberall sah er funkelnde Augen und brennende Gesichter. Ihm war, als stünde er inmitten eines tollen Traumes. Herr Waze stieß die geleerte Kanne auf den Tisch, lachend, und kreischte. „Setzt Euch doch, mein lieber fürstlicher Herr! Euch zu Ehren will ich schmausen und zechen ... und ich mein’, es hat mir im Leben noch kein Mahl geschmeckt, wie es heut’ mir schmecken soll! Euch zu Ehren! Nur Euch zu Ehren! Ihr seid ja mein Herr! Mein Herr!“ Seine Worte gingen unter im Geschrei und Gelächter seiner Söhne.

Eberwein strich mit der Hand über die Stirne und ließ sich nieder. Seine Sinne taumelten, er wußte nicht, was er that. Er hörte nicht, daß die Thür der Kammer sich öffnete, aus welcher Henning trat, einen hochstämmigen Rüden am Halsband führend ... er sah nicht, daß Recka, bleich bis in die Lippen und mit blitzenden Augen ihren Vater streifend, von der Tafel wich und den Saal verließ, als wollte sie nicht teilhaben an dieser Stunde. Mit zitternden Händen griff er nach einem Brot, segnete es und brach es entzwei. „Nehmt, Herr Waze!“ Er reichte die Hälfte des Brotes über den Tisch. Da griff eine Hand über seine Schulter. „Mir die ander’ Hälft’ ... meinen Hirschmann hungert!“

Schallendes Gelächter erhob sich um den Tisch. Eberwein sprang auf und sah, wie Henning das gesegnete Brot dem Hunde zuwarf, der es mit klaffendem Rachen haschte. Glühende Zornröte fuhr über das Gesicht des Mönches. Mit beiden Händen faßte er die Tafel an der Kante und stürzte sie um, daß Herr Waze mit dem Sessel wankte, daß die hölzernen Teller, die zinnernen Schüsseln und die Metkannen klirrend und polternd über den Estrich rollten. „So end’ ich dieses Mahl,“ klang seine Stimme mit schrillem Hall, „und nichts mehr hab’ ich gemein mit Euch!“

Schreiend vor Wut, mit geballten Fäusten und verzerrtem Gesicht sprang Herr Waze auf; seine Söhne aber starrten auf die Lippen des Mönches ... er war es doch gewesen, der diese Worte gerufen, und dennoch schien es ihnen, als hätten sie ihren Vater gehört. So klang seine Stimme im Zorn. „Faßt ihn! Faßt ihn!“ schrie Herr Waze. „Er hat mein Haus geschändet – das soll er büßen!“

Henning war der erste, dessen Fäuste nach Eberwein griffen. Da sah auch der Hund in dem Mönche einen Feind seines Herrn und stürzte heulend auf ihn los. Mit einem Faustschlag streckte Eberwein das Tier zu Boden. „Feinde über mir!“ klang seine schmetternde Stimme, und eine Metkanne von der Erde raffend, schwang er sie zum Schlage wider Henning. Doch er schlug nicht; aus erhobenem Arm ließ er die Kanne sinken, und zwei der Wazemannssöhne beiseite schleudernd, gewann er mit mächtigem Sprung das an der Mauer hängende Kreuz, griff nach ihm mit beiden Händen und rief: „Vergieb, o Herr, die Sünde meines heißen Blutes! Bei Dir ist die Rache, bei Dir die Hilfe!“

Da faßten sie seine Arme, seine Brust, seinen Hals ... er stand und wehrte sich nicht, während sie an ihm hingen wie die Hunde am gestellten Hirsch. Geifernd, die geballten Fäuste vor Eberweins Augen streckend, leerte Herr Waze in unflätigen Worten die Schale seiner Wut über ihn aus. Ein bitteres Lächeln zuckte um Eberweins bleiche Lippen. „Knecht Waze, nun kenn’ ich Dich! Nun zeigst Du mir Dein wahres Gesicht!“

„Fort mit ihm! Hinunter in meinen tiefsten Keller!“

Ueber das Geschrei der Söhne, die den Gefangenen zur Thüre stießen, hob sich Eberweins Stimme: „Waze, ich warne Dich! Da Du Gott nicht fürchtest, so fürchte den Kaiser, vor dessen Gericht ich Dich berufe, der Fürst seinen ungetreuen Knecht!“

„Der Kaiser!“ höhnte Herr Waze mit schallendem Gelächter. „Wo ist er denn, Dein Kaiser? In vierzig Jahren hab’ ich ihn nicht gesehen, hab’ keinen Ruf von ihm gehört, hab’ keinen Mann zu seinem Heer geschickt. Schrei’ doch, schrei’, ob er Dich hört, ob er kommt! Ich mein’, er wird den Käfig so leicht nicht finden, in dem ich Dich bergen will. Packt ihn, meine Füchslein, hinunter mit ihm!“

Schreiend stießen sie ihn aus dem Saal und über eine steile Treppe hinunter, eine schwere Thüre wurde vor ihm aufgerissen, er taumelte in Finsternis und kalte Moderluft, hinter ihm dröhnten die Bohlen, und der eiserne Riegel klirrte. Draußen Gelächter, das sich entfernte, Geschrei, welches unterging wie in weiter Ferne ... dann dumpfe Stille.

Eberwein streckte im Dunkel die Arme aus, seine Hände griffen den nassen Fels der Mauer und einen eisernen Ring. Ein kalter Schauer rann ihm durch die Glieder, und die Knie brachen ihm. Die Arme schlug er über die Brust, als möchte er gewaltsam den Sturm seiner Seele bezwingen, und aus heißem Herzen sprach er laut ein Gebet. Plötzlich aber verstummte er, denn ein Geräusch war an sein Ohr gedrungen. Mattes Stöhnen klang aus einem Winkel des finsteren Raumes. Erschrocken sprang Eberwein auf. „Wer teilt meinen Kerker? Bist Du ein Mensch, so rede!“ Das Stöhnen wurde zum Wimmern, eine wortlose Sprache des Schmerzes, welche Eberweins Herz erzittern machte. „Gott des Erbarmens!“ stammelte er, warf sich zu Boden, und über die Fliesen kriechend, tastete er mit den Händen vor sich her. Er fühlte halb verfaultes Stroh und jetzt einen menschlichen Körper, fast nackt, mit schlaffen Armen und steifen Fingern, mit bartlosem Gesicht und kurzgeschorenem Haar. „Der Knabe, den ich suchen kam! ... Wazemann, Wazemann!“ Mit beiden Armen griff er zu und hob das Haupt des Knaben an seine Brust, dessen Zunge lallte: „Wer ist bei mir?“

„Einer, der es mit Dir gut meint!“

Da klang es wie der schluchzende Aufschrei eines Verzweifelnden: „Giebt’s denn noch einen, der gut ist?“

„Ja, ja, ja!“ rief Eberwein, die Stimme halb erstickt von Zähren. „Allgütiger im Himmel, wie blind war meine Seele! Ich wähnte, daß ich irre ging, von Dir verlassen ... nun seh’ ich: es war der Weg Deiner Liebe, die mich hierhergeführt, um dieses Kind zu finden!“ Er fühlte, wie die Hände des Knaben an ihm emportasteten, wie die kalten zitternden Finger sein Antlitz berührten, welches naß von Thränen war.

„Er weint ... einer, der weint um den armen Huzebuben! Bist auch ein Geißhirt, hat er Dich auch gebüßt?“ Und wie der Sinkende den Balken, den eine mitleidige Welle ihm zugeworfen, so umklammerte der Bub’ mit beiden Armen seinen Gesellen und schmiegte sich an ihn unter strömendem Schluchzen. Aus der Höhe des Hauses klang ein dumpfer Lärm hernieder – das Johlen der Wazemannssöhne, welche die gestürzte Tafel wieder aufgerichtet hatten und die Kannen leerten auf das Glück ihrer kommenden Zeit.

Eberwein tastete in der Finsternis umher, und seine Hand fand an der Mauer einen vorspringenden Stein; er setzte sich und hob den Knaben auf seinen Schoß. der Bub’ wimmerte, denn die Bewegung mehrte seine Schmerzen, und auf Eberweins Frage begann er, von Schluchzen unterbrochen, zu erzählen, was er verschuldet hatte, welche Strafe er gelitten, welche Qual und Marter er in diesem finsteren Verließ ertragen; seine Sprache war arm an Worten, und sie sagte doch mehr, als Eberweins Herz zu ertragen vermochte. Er drückte das Gesicht des Knaben an seine Brust, um ihn verstummen zu machen, und während er ihm mit zärtlicher Hand die struppigen Haare streichelte, flüsterte er, die heimatliche Sprache seiner Berge redend: „Mußt nimmer weinen, Büebli! Schau’, es hebt für Dich die gute Zeit wieder an. Ich thu’ Dich pflegen, daß Du gesunden sollst, und will Dich lieb haben all mein Leben lang.“ Und weißt, meine Arm’, die tragen Dich schon, bis Du wieder laufen kannst auf Deinen Füßen. Wohl wohl, hab’ nur acht, wenn die Thür sich aufthut, wie ich Dich hinauftrag’ in die liebe Sonn’!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 326. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_326.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2020)