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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Die „Schweningerkur.“

Von Dr. Jul. Weiß.


Was ist die „Schweningerkur“? Danach hat schon mancher und manche nicht bloß aus müßiger Neugier, sondern aus des Leibes eigenem Bedürfnis gefragt. Schweninger selbst hat erst jüngst in einem Aufsatze, der in der „Bibliothek der gesamten medizinischen Wissenschaften“ erschienen ist, eine überraschend drastische Antwort auf diese Frage gegeben. „Eine Merkwürdigkeit unter den Kuren bleibt die sogenannte Schweningerkur. Sie ist in jeder Beziehung ein raffinierter Betrug. Man hat eben hier nur läuten, aber nicht schlagen gehört; die ‚Entdecker‘ dieser ‚Kur‘ haben aus einigen individuell gegebenen Verordnungen gewisse Lehren, Schablonen, Prinzipien erdichtet, diese dann zusammengestellt und dem erzielten Gebräu den Namen der ‚Schweningerkur‘ gegeben. Diese Lehre oder die Identificierung mit der Oertelkur wurde des weiteren sogar in wissenschaftlich medizinischen Werken vorgetragen. Schweninger selbst[1] hat mit dieser ‚Kur‘ nicht das Geringste zu thun. Er ist ein solcher Feind jeder Schablone, daß er während seiner ganzen ärztlichen Thätigkeit niemals, am wenigsten aber seinem vornehmsten Kranken eine sogenannte ‚Kur‘ verordnet hat, über welche die haarsträubendsten Kurfabeln verbreitet worden sind, während darüber thatsächlich keine authentischen Aeußerungen bis jetzt vorliegen ...“

Diese Aeußerungen sind nun jüngst von seiten Schweningers in einer Schrift, betitelt „Die Fettsucht“[2], nachgeholt worden. Alle, die es angeht, dürften die wahrhaft volkstümlich abgefaßte Schrift mit sichtlichem Vergnügen und zum eigenen Nutzen und Frommen lesen.

„Die Behandlung der Fettsüchtigen“ – sagt Schweninger – „ist seit alters auf verschiedenen Wegen versucht und mit verschiedenen Mitteln erreicht worden. Aber alle Behandlungsmethoden, die bis auf den heutigen Tag versucht worden sind, litten und leiden an der Schablone, Kurzsichtigkeit, Engherzigkeit (nicht immer der Autoren, sondern mehr der Nachbeter), an mangelnder Individualisierung und legen nicht genug Wert auf eingehende und nach Zeit, Umständen und Bedürfnissen abwechselnde Verordnungen.“

Riesiges Aufsehen hat es seinerzeit erregt, als der englische Rentier Banting die ihm von seinem Arzte Harvey verordnete ausschließliche Fleischdiät als diejenige Kur empfahl, welche allen Fettsüchtigen sicheren Erfolg gewährleiste. Daß diese Empfehlung nicht für alle Fälle passe, hat der Göttinger Professor Ebstein bewiesen, indem er gerade durch die Gestattung von Fetten und kohlenhydrathaltigen Speisen (Butter, Mehlspeisen, Brot etc.) und durch die Einschränkung der Fleischkost die besten Erfolge erzielte. Jüngst hat endlich Professor Oertel in München darauf hingewiesen, daß die möglichste Einschränkung der Flüssigkeitszufuhr das Wesen jeder Fettsuchtbehandlung ausmache. Danach wäre im Oertelschen Sinne die berühmte „Semmelkur“ in Lindewiese eine der besten Behandlungsarten der Fettleibigen. Schweninger verurteilt alle diese Verfahren, welche nur einzelnen Gesichtspunkten Rechnung tragen. Für jede einzelne fettleibige Person müssen unter Berücksichtigung aller auf dem Vorleben, der Untersuchung und Beobachtung gewonnenen Anhalte besondere Verordnungen gegeben und nach der Art der sichtbaren Wirkung später abgeändert werden. „Der Mensch ist zum Teil das Produkt seiner Lebensweise und daher wird die Fettentziehungskur zum Teil in der Bekämpfung althergebrachter, namentlich übler Gewohnheiten ihr Ziel erreichen.“ Schweninger hält es für notwendig, nicht nur Essen und Trinken, sondern auch geistige Thätigkeit, Bewegung, Ruhe, Lagerung, Bekleidung, Wohnung des Fettsüchtigen genau zu überwachen. Der Erfolg der Behandlung muß genau geprüft werden, was insbesondere durch wiederholte Messungen von Brust- und Leibumfang, sowie des Körpergewichtes zu geschehen hat. Schweninger zählt eine Reihe von Vorschriften für Fettleibige auf, wobei er aber ausdrücklich betont, daß dieselben nur unter strengster Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse und der je nach Bedürfnis notwendigen Abänderungen befolgt werden dürfen.

Alles, was den Kreislauf des Blutes hemmt, verlangsamt und damit zu Stockungen führt, muß aus der Kleidung des Patienten entfernt werden. Zu den einengenden und einschnürenden Kleidungsstücken sind vor allem zu rechnen: das unheilvolle Mieder, die um das Bein gelegten Strumpfbänder, enge Kragen oder Aermel, stramm angeschnallte Hosen oder Säbelgürtel, Bauchriemen, enggebundene Röcke etc. Den Damen wäre zu empfehlen, selbst die Fischbeine und Stahlstangen aus den Taillen zu entfernen. Wie genau Schweninger jede Einzelheit in der Lebensweise der Kranken zu erwägen weiß, zeigt das Verbot des Ringetragens. Man sehe nur die Finger an, an denen fortdauernd enganliegende Ringe getragen werden! Da findet man unmittelbar dem Ring entlang einen Wulst von abgelagertem Fett, das eben als Folge von verlangsamtem Blutumlauf durch den Druck des Ringes entstanden ist.

Allgemeine kalte Abreibungen oder Bäder widerrät Schweninger den Fettleibigen dringend, da sie bei der vorhandenen Schwäche ihres Herzens und Gefäßsystems geradezu gefährlich sind, dagegen empfiehlt er häufige Waschungen einzelner Körperstellen mit heißem sowohl als mit kaltem Wasser. Dem Laien könnte dies als ein Widerspruch erscheinen; in Wahrheit aber wird sowohl durch örtliche kalte Abwaschungen als durch örtliche heiße Bäder ein und dasselbe erstrebt und erreicht: Anregung des Stoffwechsels, bessere Blutverteilung, Steigerung des Verbrennungsprozesses im Körper und folglich Verbrauch des überflüssigen Fettes.

Einen Gegensatz zwischen Kälte und Wärme giebt es in der Heilkunst ebensowenig wie in der Physik; beide bedeuten nur Gradunterschiede, und in der Praxis soll nicht die Hauptfrage sein, ob Kälte oder Wärme, sondern: wann, wo, wieviel, wie lange, wie oft, in welcher Zusammenstellung und Abwechslung. So empfiehlt Schweninger seinen Patienten einerseits, täglich abwechselnd Brust und Bauch, oder beide Arme oder beide Beine mit kaltem Wasser abzureiben, anderseits beide Hände und Arme bis über die Ellbogen in möglichst heißes Wasser zu stecken. Das Abreiben und Abwaschen soll der Leidende selbst besorgen, nicht etwa, wie das so üblich, durch einen Badediener vornehmen lassen, denn er bedarf der Muskelthätigkeit. Desgleichen rät Schweninger, daß der Kranke sich selbst massiere. Der „geprüfte“ Masseur ist unnötig, meist wird einzig und allein der Patient selbst genügen, der – wie Schweninger treffend sagt – „seine Hände stets bei sich trägt und jeden passenden Augenblick benutzen kann, um einen Bruchteil seines Auftrages auszuführen, den der Arzt ihm zuvor in allen seinen Einzelheiten vorgemacht hat.“ Es ist dabei auch die seelische Anregung nicht zu unterschätzen, die darin liegt, daß der Kranke selber durch eigene Thätigkeit zu seiner Gesundung beizutragen lernt. Bei der Massage, dem üblichen Streichen, Drücken, Kneten, Hacken, Zwacken und Kneifen, soll ganz besonders der Bauch berücksichtigt werden, nicht nur, weil er in den meisten Fällen der Hauptsitz der Fettablagerung ist, sondern weil gleichzeitig hierdurch auf die bei Fettleibigen meist träge Darmthätigkeit eine Anregung ausgeübt wird.

Wenn Schweninger aber im allgemeinen Muskelthätigkeit und Bewegung anempfiehlt, so warnt er doch anderseits vor Ueberanstrengung. Es herrscht beim Publikum der Glaube, als könne der Fettleibige sich durch viel Bewegung des übermäßigen Fettes entledigen, und so wird auch dicken Menschen geraten, große Fußwanderungen zu unternehmen, alle Berge zu besteigen, den ganzen Tag zu rudern oder Schlittschuh zu laufen u. a. dgl. Anstrengungen auf sich zu nehmen. Leider kommt nur zu oft der Mißerfolg, wenn nichts Schlimmeres als Folge dieses thörichten Handelns sich einstellt. „Ueberanstrengung“ – sagt Schweninger – „heißt Stockung, Lähmung, mäßige Bewegung bedeutet Anregung, Belebung.“ Besondere Beachtung verdient, was Schweninger über die „Lagerung“ sagt. Er nennt das Sitzen eigentlich keine richtige Ruhe nach dem Gehen, da die Beine herunterhängen; einige Minuten in wagerechter Lage verbracht, gewähren nach einem Gange größere Erholung als ein längeres Sitzen, auch die Bauchlage bezeichnet Schweniuger als zuträglich, „sie müßte eigentlich unsere übliche Lage sein und ist uns vielleicht nur infolge der Kultur und Civilisation abhanden gekommen.“

Der wichtigste Teil der Schweningerschen Schrift betrifft die Ernährungsfrage. Ueber die Theoretiker auf dem Gebiete der Ernährungslehre urteilt Schweninger ziemlich scharf. Ihr Hauptfehler besteht nach ihm darin, daß man vergessen hat, der Mensch lebe nicht von dem, was er ißt und trinkt, sondern von dem, was und wie er verdaut und ausnutzt. Bei der Wahl der zu erlaubenden

  1. Schweninger schreibt von sich in der dritten Person.
  2. Sammlung medizinischer Abhandlungen. Wien, Max Merlin. 1894.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_330.jpg&oldid=- (Version vom 29.10.2020)