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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Das Nordthor.

habe Wisby so ausgeplündert, daß es sich niemals wieder von diesem Schlage habe erholen können. Das ist in diesem Umfang nicht richtig. Wohl hat er es wacker gebrandschatzt, aber da er das ganze Land behielt, so blieb die Stadt selbst unversehrt. Erst 160 Jahre später, 1525, fügte es ein tragisches Verhängnis, daß Lübeck, Wisbys Nachfolgerin als Vorort der Hanse, mit seinen Geschützen die Stadt so traurig zurichten mußte, weil sie wieder einmal Freibeutern als Stützpunkt gedient hatte. Da ferner die Reformation viele Kirchen überflüssig machte, so ließ man die meisten zerfallen. Der Glanz und der Handel Wisbys aber waren für immer dahin, der alte Hafen versandete ganz und gar, und erst in diesem Jahrhundert wurde durch Dammbauten dem Meer ein neuer Hafen abgerungen. Das untenstehende Bild zeigt uns den gewaltigen Wellenbrecher, über den nur ein kleines Türmchen schüchtern sein Dach zu strecken wagt.

Weder die Stadt- noch die Landbevölkerung Gotlands hat jemals wieder die alte Thatkraft erlangt. Heiter und vergnügt lebt das Volk dahin, spielt seine herrlichen, uralten gymnastischen Spiele, woran zuweilen Mädchen und oft Greise teilnehmen, und pflegt seine Erinnerungen an die große Vorzeit des wunderbaren Eilands. Die schönen Schatzsagen Gotlands bekommen immer wieder neue Nahrung durch glückliche Funde, die dieser und jener in der jüngsten Zeit wirklich und wahrhaftig gethan hat. Warum sollen da die alten Sagen nicht auch wahr sein? Zum Beispiel die Geschichte von dem Schustergesellen Hans Turitz aus Salzwedel, der um die Zeit der Reformation ausgewanderte Wisbyer Geistliche zu Rom in ihrer plattdeutsch geführten Unterhaltung belauschte und von der goldenen Gans und ihren Jungen zu St. Klemens hörte. Er zog heim nach Wisby, hob den Schatz und wurde endlich Bürgermeister, wie noch klar und deutlich auf seiner Grabtafel zu lesen.

Besonders grübelte man viel darüber nach, wie es möglich war, daß Gotland so leicht eine Beute Waldemars werden konnte. Es mußte natürlich Verrat im Spiele gewesen sein, und geschäftig spann die Sage diesen Faden aus. Der dänische Goldschmied Niels, so hieß es, hatte dem König viel von dem Reichtum der Stadt erzählt; in dessen Hause lebte Waldemar eine Zeit lang als Geselle, und von der schönen Goldschmiedstochter erfuhr er noch mehr Geheimnisse. Auch des reichen Bauern Unghanses Tochter hielt es mit dem Feinde. Noch bis auf den heutigen Tag zeigt man an der Meerseite der Stadtmauer den sogenannten „Jungfrauenturm“, in den die Verräterin lebendig eingemauert worden sein soll.

Am Wellenbrecher.

Aber die Krone aller gotländischen Sagen bilden doch die Karfunkelsagen. Am Giebel der Marienkirche oder, wie andere lieber wollen, inmitten der Giebelrosetten der Nikolaikirche waren zwei gewaltige Karfunkelsteine eingesetzt, die gaben des Nachts so hellen Schein von sich, daß die Schiffer sich nach ihnen wie nach zwei Leuchtfeuern richten konnten. Als nun König Waldemar Wisby plünderte, da brach er auch die Karfunkel aus und wollte sie mit sich nach Dänemark führen. Aber das Schiff mit den schönsten Schätzen und den Karfunkeln ging südlich von Wisby bei den Karlsinseln unter; die kostbaren Steine ruhen seitdem auf dem Grunde des Meeres, und nur zuweilen, wenn die See recht still ist, dann kann derjenige, der ein Sonntagskind ist, an dem rötlichen Glanz des Wassers die Stelle erkennen, wo sie gesunken sind. Zu heben aber vermag sie nur der, welcher Zwillingskälber aufzieht, ohne daß sie einen Tropfen Wasser genießen. Ein gotländischer Bauer machte den Versuch, und es glückte ihm wirklich, wie er meinte. So fischte er denn mit dem Netz nach den Karfunkelsteinen. Schon wollte er sie über Bord heben, da erscholl eine dumpfe Geisterstimme aus der Tiefe des Meeres: „Das eine Kalb hat doch einmal Wasser getrunken!“ Und plötzlich sanken die Karfunkel wieder in die Tiefe, um dort zu ruhen bis zum jüngsten Tage. Noch in den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts wußte jemand ganz genau die Stelle, wo die Karfunkel von St. Nikolaus liegen sollten. Es war der Schiffer Kastmann aus Ronehamn auf Gotland. Als der einst von Stockholm nach Gotland zurücksegelte, wurde er durch den Sturm nach der großen Karlsinsel verschlagen. Wie er nun so das Steuerrad hielt, sah er plötzlich, wie sich die Magnetnadel mehreremal im Kreise herumdrehte. „Halt!“ dachte der findige Seemann, „hier müssen große Metallschätze in der Tiefe verborgen sein, die solche Kraft auf die Magnetnadel üben, hier müssen auch die Karfunkel liegen!“ Er merkte sich auf seiner Seekarte die Stelle mit einem Punkt an, ließ wohl hier und da ein Wörtchen davon fallen, daß er wisse, wo die Schätze liegen, hütete sich aber weislich, jemand den Ort zu verraten. Indessen, bevor er noch dazu kam, die Schätze selbst zu suchen, versank in einem Sturm sein Schiff, der Schiffer dazu und leider auch – die Seekarte! Und nun weiß wiederum niemand, wo die Karfunkel liegen.

Auch über die Herkunft der Steine weiß man Wunderbares zu erzählen. In alten Zeiten sah man von der Südspitze Gotlands allnächtlich ein merkwürdiges Tier aus dem Grunde des Meeres emporsteigen und mit einem wunderbaren Stein spielen, der selbst in der Nacht leuchtete mit überirdischer Helligkeit. Zuweilen warf das Ungetüm den Stein hoch in die Luft und fing ihn dann wieder auf. Aber dabei fiel einst der Stein hart auf das Land nieder und brach mitten durch. Die Strandbewohner bemächtigten sich der beiden Hälften und setzten die strahlenden Steine in die Mauer der Kirche von Sundre. Nach vielen Jahren wurden sie von dort nach Wisby gebracht, um hier den Giebel von St. Nikolaus zu zieren, während an der Stelle der Kirche zu Sundre, wo einst die Karfunkel gesessen hatten, zwei Mühlsteine eingesetzt wurden. In der That sind zwei Mühlsteine in der südlichen Mauer der Kirche noch bis auf den heutigen Tag zu sehen.

Dieser Mythus wird so gedeutet: die Karfunkelsteine bedeuten den großen Reichtum Gotlands in alter Zeit. Der Reichtum kam

vom Meere, und das Meer nahm ihn wieder in sich auf, als

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 333. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_333.jpg&oldid=- (Version vom 25.12.2019)