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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

übrig? So gut es geht in der Aufregung, machen wir uns ’nen Plan zurecht – der eine fährt hier, der andere fährt da, und Leute mit Laternen sollen mit, noch ist’s ein wenig hell, vielleicht halb zehn Uhr, aber lange dauert das nicht mehr. Und wie wir da noch so zusammenstehen und alles bereden, kommt wieder Hufschlag, und wir fahren alle freudig in die Höhe: das muß er sein! Aber ’s sind zwei Pferde, die da kommen, auf dem einen sitzt der alte Hinz, ganz krumm und klein, mit so ’nem richtigen Unglücksgesicht, und das andere Pferd hat er mit ’nem Strick festgebunden – die Zügel schleifen zerrissen nebenher, und die Bestie, der ‚Mazeppa‘, schnauft und zittert und bockt und ist mit Schaum bespritzt von oben bis unten. Und wo ist der Reiter?“

Kapitän Leupold nahm einen neuen Schluck Xeres. Albrecht legte ihm besorgt die Hand auf die Schulter. „Sprich nicht weiter, Kapitän, es regt Dich auf! Ich hätte Dich nicht bitten sollen!“

„Na, jetzt ist nicht mehr viel zu sagen, jetzt laß Du mich nur zu End’ erzählen. Bei der Gnadensteiner Brücke hat der alte Hinz das Unglücksvieh eingefangen, Müh’ genug hat’s ihm gemacht, und ich wundere mich heut’ noch, daß er es fertig gebracht hat. Später haben wir’s dann gehört: es sind ’n paar Zigeuner des Wegs gekommen, um da in der Nähe zu rasten, die haben zwei Bären bei sich gehabt und Pauken und Schellen und solch verrücktes Zeug, und wie mein ‚Mazeppa‘ den Spektakel hört und sieht die zwei Bären da – heidi – setzt er wie rasend übers Brückengeländer, der Reiter kopfüber, und das Vieh quer über Feld und dann waldeinwärts und in ’nem weiten Bogen zurück nach dem Unglücksschauplatz, von wo das Zigeunerpack inzwischen verschwunden ist, und da hat der alte Hinz den ‚Mazeppa‘ gegriffen und hat seinen Herrn unten an der Brücke gefunden, schon ganz kalt und steif. Schädelbruch – er muß auf der Stelle tot gewesen sein. Und nun stell’ Dir vor, Kapitän, wir alle um den Unglücksmenschen, den Hinz, herum – Ilse, Doßberg, ich, Fink, die Weibsleute – unsere bleichen entsetzten Gesichter, Totenstille, die zuerst immer auf so ’nen Bericht folgt, und bloß das klägliche Weinen und Schreien des Kindes, das grad’ so klingt, als wüßt’ es das Geschehene und klagte um seinen Vater!“ Der alte Kapitän seufzte tief auf.

„Sie war sehr unglücklich?“ fragte Kamphausen mit gedämpfter Stimme.

„Sehr! Arme Kreatur, wie sollt’ sie nicht? Solch’ ein jäher Tod, und dazu der Junge sterbenskrank, Tag und Nacht in Krämpfen – böse Zeit! Na, sie hat’s überwunden, aber ist’s nicht ein Jammer, daß so ein Geschöpf wie Prinzeß Ilse, von der Natur wie extra zum Glück und zur Liebe geschaffen – daß die bis jetzt von Glück und Liebe so gut wie nichts zu sehen bekommen hat?“

„Sie hat ihr Kind.“

„Ach, geh’ mir mit dem Kind! Sie liebt es gewiß und pflegt es und giebt sich Mühe mit der Erziehung, und das – wie soll ich sagen – das mütterliche Element in ihr, das kommt zu Wort, das findet sein Recht. ’s ist aber noch ’was anderes in ihr, ’n weiches, zärtliches, leidenschaftliches Frauenherz, und das liegt brach, und um das ist’s ein Jammer, und wenn Du mich immer und immer nicht verstehen willst, dann thut’s mir leid um Dich und um sie – und um mich auch!“

Albrechts gebräuntes Gesicht war erblaßt, er konnte nicht mehr ruhig neben dem Tisch sitzen bleiben. „Du – Du meinst, Kapitän?“ stieß er hervor.

„Ja, ich meine!“

„Du irrst Dich, mußt Dich irren! Das ist unmöglich!“

„So? Muß mich irren? Unmöglich? Ja, wenn ich mich vielleicht in Dir geirrt haben sollte – “

„In mir? Warum in mir?“

„Daß Du sie vielleicht nicht mehr liebst, nicht mehr willst –“

„Ich, Kapitän? Treibst Du Deinen Spott mit mir? Kennst Du mich wirklich nicht besser? Du weißt es, weißt recht gut, daß Ilse von Doßberg die einzige Liebe meines ganzen Lebens ist.“

„Auch als Ilse von Montrose?“

„Auch als die! Aber nein, Kapitän“ – Kamphausen stieß seinen Stuhl zurück und fing an, mit starken ungleichen Schritten, im „Achterdeck“ auf und abzugehen – „spiel’ mir nicht den Versucher! Deine Vorliebe für mich läßt Dich hier nicht klar sehen, Du bist parteiisch, nicht unbefangen genug. Ich hab’ in meiner Einsamkeit, als der erste Trotz und Zorn, daß sie einem andern gehören konnte, in mir niedergezwungen war, mich auf mich selbst besonnen, mein Herz war noch mein Herz, gehörte mir noch, gehörte ihr – aber sie! Sie durfte an mich nicht mehr denken, bei ihr war’s eine Sünde, und, so wie ich sie kenne, hat sie die bekämpft bis aufs äußerste. Und dann ist so viel über sie gekommen – wär’s ein Wunder, wenn die erste Liebe in ihr gestorben wäre?“

„Nicht gestorben, Albrecht, nur niedergehalten, unterdrückt!“

„Wie willst Du das wissen? Sie kann es Dir nie gesagt haben –“

„Gesagt, nein! Aber ich weiß es bestimmt.“

Albrecht blieb wie angewurzelt vor dem Alten stehen. Ein plötzlicher Argwohn war in ihm erwacht. „Du hast mich deshalb herkommen lassen, Kapitän? Um mir das zu sagen? Deine ganze Krankheit ist nichts weiter als ein Vorwand?“

Der alte Leupold sah in die blitzenden blauen Augen empor, die in seiner Seele zu lesen schienen, und dann mit einem hilflosen Seitenblick nach der Stehuhr auf dem Kamin. Herrgott, welch ungemütliche Lage! Er hatte sich doch das alles so wunderschön ausgedacht und zurechtgelegt! Um diese Zeit hätte sie längst hier sein müssen, es war schon eine halbe Stunde über die festgesetzte Frist. Daß Weiber doch niemals pünktlich sein können! Warum mußte er, Erich Leupold, sich auch in anderer Leute Liebesgeschichten mischen! Das kam davon!

„Du sollst mir antworten, Kapitän!“ Kamphausens Stimme klang beinahe drohend.

Ein leichtes Rascheln an der Thür des Nebenzimmers, ein helles Kinderstimmchen – endlich!

„Ich hab’s nicht nötig, Dir zu antworten,“ sagte der alte Leupold barsch und trotzig. „Hol’ Du Dir die Antwort wo anders!“

Damit warf er die Decke ab, schob den Lehnsessel beiseite und ging als ein gesunder Mann, den Kopf steif im Nacken, zur Thür hinaus, die in den Garten führte. Draußen blieb er stehen und lauschte. Zunächst hörte er nichts, dann einen schwachen Schreckenslaut von Ilses Lippen. Leupold biß die Zähne zusammen – aus seiner Seele rang sich etwas empor wie ein trotziges Gebet: „Nun hilf, Herr und Gott! Für mich selbst will ich nichts, bitt’ ich nichts. Aber die beiden laß glücklich werden, die beiden! Es ist das einzige, was ich zu bitten hab’!“

Jetzt hörte er Ilse reden, erst stockend, dann schneller und schneller. Es widerstand ihm, den Lauscher zu spielen, er schüttelte unwillig den Kopf und trat von der Thür zurück, die er nur angelehnt hatte. Da, ein paar helle Kinderlaute, eine kleine Faust, welche die Thür halb zurückschob. „Onkel Kapitän! Onkel Kapi – tän! Wo bist Du?“

„Ilse, hast Du mich noch lieb?“ Es war Albrechts Stimme, die das drinnen fragte, laut und stürmisch. Der alte Leupold mußte die Frage hören, ob er wollte oder nicht.

Es kam keine Antwort, es blieb alles still. War das ein schlechtes Zeichen – oder? Der Kapitän stellte sich vor ein Blumenbeet, steckte die Hände in die Taschen und that ungeheuer gleichgültig. Das Herz hämmerte ihm aber bis in den Hals herauf.

„Mama, Mama!“ ertönte wieder das Kinderstimmchen, diesmal von drinnen, denn der Kleine war vorhin auf halbem Wege wieder umgekehrt. „Mama, hab’ doch Hans Günther auch so lieb!“

Das klang ermutigend! Der alte Leupold ermannte sich, ging zur Thür, öffnete sie noch ein wenig und sah Albrecht Kamphausen im „Achterdeck“ stehen, sein schönes goldenes Glück im Arm, selig darauf niederschauend, blind und taub für die ganze übrige Welt ...

Und das Kind gaukelt in seinem weißen Kleidchen wie ein großer Schmetterling dem Eintretenden entgegen und sieht mit erstaunten Augen auf die beiden und ruft: „Onkel Kapitän! Sieh doch, sieh!“

„Ja, mein Kind, ich sehe!“ entgegnet der Alte trocken.

Da beugt Ilse sich herab, hebt den Kleinen auf ihren Arm und fragt: „Wirst Du ihn liebhaben, Albrecht?“

Er kann nicht antworten er weiß, daß ihm die Stimme nicht gehorchen wird; stürmisch reißt er das kleine Geschöpf an sich und bedeckt sein Gesichtchen mit Küssen. Der alte Leupold weiß nicht, wie ihm geschieht. Er fühlt sich von Ilses Armen umschlungen, er fühlt ihre glücklichen Thränen auf seinem Gesicht, hört, wie sie versucht, ihm zu danken.

„Kind, Mädel – wofür denn?“ Er bringt es stammelnd heraus. „Ich hab’ ja nur dazu helfen wollen, daß der Albrecht Kamphausen auch seine ‚Perle‘ bekommt!“




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