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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

empor zu tragen über den steilen Hang? Da leuchtete weit draußen im See der Feuerschein, und ein hoffender Gedanke zuckte in Eberwein auf: das mußte Sigenot sein, der bei Fackelhelle die Netze warf.

„Sigenot!“ hallte der Ruf des Mönches in die weichende Nacht. Keine Antwort kam; nur das Echo wiederholte dumpf die letzte Silbe des Namens: „Not!“ Doch meinte Eberwein zu gewahren, daß die Fackel näher käme. Auf einer Steinstufe saß er, den Knaben auf seinem Schoß, und harrte ...

Der Himmel wurde bleich, es graute der Morgen über dem See, und der Feuerschein erlosch. In Eberwein verstummten alle Sorgen dieser Stunde vor der ungeahnten überwältigenden Schönheit des Bildes, welches die schwindende Dämmerung vor seinen staunenden Augen entschleierte. In sachten Wellen schwankend, durchsichtig grün wie ein Smaragd, eine geheimnisvolle Flut, welche mit jedem Wellenschlag das Lied der eigenen Schönheit rauschte, so dehnte der See sich hin in stundenweite Ferne. Die Ufer schienen keinen Pfad zu dulden; als hätte die Natur diese herrlichste ihrer Stätten geheiligt vor dem Fuß der Menschen, so stiegen die im Rund geschlossenen Berge steil aus der Flut und wuchsen zum Himmel. Dunkle Fichtenwälder und Laubgehölze, die im Welken alle Farben spielten, bekleideten die ragenden Gehänge, wie bunte Festgewänder die Großen schmücken, wenn sie den Thron umstehen. „Wahrlich, ein Thron der Schönheit,“ rief Eberwein, „ein königlicher See! Er soll den Namen führen, der ihm gebührt!“

Immer herrlicher traten alle Formen und Farben aus dem Duft des Morgens hervor, neue Schönheit wuchs hinter jedem weichenden Schatten, und die Gießbäche schimmerten, als gössen geheimnisvolle Hände flüssiges Silber über die Wände nieder in den See. Ein schwindelnd hoher Felsgrat und der weiße Schnee, der die höchsten Kuppen deckte, begannen schon zu leuchten im ersten Glanz des nahenden Tages. Rot säumten sich die Wolken, welche hoch durch die Lüfte jagten, wie geflügelte Boten. Träumenden Auges blickte Eberwein zu ihnen auf ... wie hätte er bei ihrem rosigen Schimmer ahnen mögen, daß sie die Boten der Vernichtung waren, welche aufstieg aus dem Schoß der Nacht, um diese Stätte der Schönheit heimzusuchen. Er sah die leuchtende Strahlengarbe, welche von Osten her über alle Höhen loderte, und ihm war, als hätte der Himmel sich aufgethan und eine Stimme riefe: „Preise die Größe meiner Allmacht! Genieße, was ich schuf zur Freude der Menschen!“

Aus seiner Versunkenheit riß ihn ein leiser Wehlaut des Knaben. „Hast Du Schmerzen?“ fragte er erschrocken. Der Bub’ schüttelte den Kopf und lächelte; doch es sprachen die Furchen auf seiner Stirn. Hastig trug ihn Eberwein zum Ufer und ließ ihn zwischen Büschen auf weichen Rasen nieder. Mit dem Tuche, das er am Gürtel fand, wusch er ihm die von Blut überronnenen Füße und verband die Wunden. Lächelnd, mit verträumten Augen zur Höhe blickend, saß der Knabe und lispelte: „Wie das kühlet, wie das wohl thut!“ Und nach einer Weile fragte er: „Gelt, das alles thust an mir, weil’s der gute Vater so will?“

Eberwein konnte nicht sprechen, die Prüfung der Wunden hatte ihm gesagt, daß der Knabe an den Füßen gelähmt sein würde für sein ganzes Leben. Huze aber sah nicht, was in den Zügen des Mönches redete; er blickte zum leuchtenden Himmel auf und flüsterte: „So viel gut, wie der ist, so gut ist keiner mehr!“

Und als die Binden geschlossen waren, sagte er: „Ich mein’, ich müßt’ schon laufen können!“ Er zog sich an Eberwein in die Höhe, und der Glaube gab ihm Kraft. Er konnte stehen und schlurfend, mit klunkernden Füßen, that er ein paar kleine Schritte; dann sank er auf einen Stein. „Es geht schon, wohl wohl, es geht schon wieder! Ein lützel hinken werd’ ich halt müssen. Aber das thut nichts! Wer schnell hinket, kommt auch vom Fleck! Gelt? Freilich, hinauf ...“ seine Augen suchten die Alben und wurden feucht, „hinauf werd’ ich wohl nimmer können. Aber herunten ist auch ein gutes Weilen!“

In wortloser Bewegung streifte Eberwein mit den Händen über das Haar des Knaben.

Da deutete Huze: „Und schau’ nur: sell schickt uns der gute Vater auch schon das Schiffl her!“

Eberwein blickte auf und sah den Einbaum schwimmen, noch ferne von ihnen doch nahe dem gleichen Ufer, und der Kahn schien in gerader Fahrt sich zu nähern. Aber nein, nun lenkte er jählings zur Seite und drohte hinter einer Biegung der Felswand zu verschwinden. Eberwein wollte rufen; da hörte er zu seinen Häupten die Stimme Reckas: „Ulla! Hier! Nimm den Mantel und bring’ ihn mir hinunter an das Ufer.“ Auf einer vorspringenden Felsplatte erschien sie, von einem weißen Mantel umhüllt. Durch die Lücken des Buschwerks blickte Eberwein empor und sah, wie Reckas entblößte Schultern sich aus der Hülle hoben. Im Schreck umschlang er den Knaben und deckte die Augen mit der Hand. Doch ob er die Lider auch geschlossen hielt, er konnte das Bild des Weibes nicht mehr aus seiner Seele scheuchen, er sah den Mantel niedergleiten, sah den schimmernden Körper von der Höhe stürzen, umflattert vom Goldhaar, und niedertauchen in die Flut. Als das Wasser rauschte, riß Eberwein den Knaben auf seine Arme und eilte durch die Büsche am Ufer hin, bis die Felswand seine fliehenden Schritte hemmte. Auf den Knien liegend, mit hämmernden Pulsen, zitternd an allen Gliedern, drückte er den Knaben an sich. Er mußte jedes Wort vernehmen, welches Recka aus den Wellen rief, jedes Wort, das die alte Magd erwiederte, und hörte das Wasser plätschern, als die Badende an das Ufer stieg und nach der Hülle verlangte.

„Schau’ nur, wie Du zitterst!“ jammerte die Magd. „Baden! Bei solchem Wetter!“

„Es war wie Eis! Aber diese Nacht ist weggespült!“

Die Stimmen entfernten sich und verklangen auf der Höhe des Felsenpfades; durch die Büsche nieder schimmerte noch der weiße Mantel.

Da rang es sich von Eberweins Lippen: „Hiltischalk! Vergieb mir!“

Scheu blickte Huze in das brennende Gesicht des Mönches. „Was hast denn, Gottesmann! Warum denn thust Dich fürchten vor ihr? Sie hat uns doch geholfen in der Not und wird doch jetzt wider uns nicht feindlich thun?“

Gedämpfte Stimmen klangen, und der Schlag eines Ruders ließ sich vernehmen. Eberwein sprang auf und trug den Knaben durch die Büsche ans Ufer. Als seine heißen Augen niederblickten in die klare Flut, gewahrte er ein wundersames Bild: in der Tiefe des Wassers, auf grünem Moosgrund, hing mit gebreiteten Schwingen ein verendeter Schwan im Kraut verbissen; sacht bewegte der Wellengang das schneeige Gefieder und rührte die Leichname zweier Falken, welche im Tod noch ihre Fänge um den Hals des Schwans geschlagen hielten.

„Wer sendet mir diesen Anblick?“ stammelte Eberwein. „Wie die Falken an diesem Schwan, so hängt der Zweifel und die Sünde an meinem Herzen! Herr! Laß mich niedertauchen in die Tiefen Deiner rettenden Liebe!“

An der Biegung der Felswand glitt der rauschende Einbaum unter den Büschen hervor. In Schreck und Freude erkannte Sigenot den Mönch und trieb mit klatschendem Ruderschlag den Kahn zum Ufer. Eberwein begrüßte den Fischer mit einem stummen Händedruck und ließ sich mit dem Knaben in den Einbaum heben, wußte aber kaum, wohin die Füße stellen; denn der Boden des Kahns war bedeckt mit den Fischen, welche in der an einem Weidenseil nachschwimmenden Kufe nicht mehr Platz gefunden hatten. Immer dem Fuß der Felswand folgend, trieb Sigenot mit wuchtigen Ruderschlägen das Boot. Den Knaben auf seinem Schoß, saß Eberwein schwer atmend und mit gesenkten Augen; seine Lippen blieben geschlossen, er schien nicht zu sehen, nicht zu hören. Doch Huze gab Antwort auf die drängenden Fragen der beiden Fischer, und in tiefer Bewegung hörte Sigenot, was der Knabe erzählte von seinem Leiden, von dem Wunder seiner Rettung. Hinter dem gleitenden Nachen schloß sich der Weitfee. Still, vom Duft des Morgens umflossen lag die Lände und das Fischerhaus, aus dessen Moosdach sich der Herdrauch kräuselte. Dünne Nebel dampften aus dem Röhricht und hoben sich in die weißen Lüfte, als trügen sie den immer dichter ziehenden Wolken Kunde aus der Tiefe zu.

Der Einbaum fuhr in den Sand, und es wurde lebendig im Hag. Eigel und die beiden Sennen kamen gelaufen. Hilmtrud wollte ihnen folgen; doch Kaganhart faßte sie am Arm und zog sie unter leisem Schelten um die Hausecke. Als der Mönch aus dem Nachen stieg, fiel der Kohlmann vor ihm nieder und küßte den Saum seines Kleides. Doch Eberwein sah ihn nicht; seine Augen hingen an dem ragenden Kreuz. Mit gestreckten Armen eilte er dem heiligen Zeichen entgegen, beugte die Knie, umklammerte den Stamm mit beiden Armen und preßte die Stirne an das Holz.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 342. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_342.jpg&oldid=- (Version vom 5.10.2021)