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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

war, schien es ihr doch jedesmal Unbehagen zu verursachen, wenn ein Fuhrwerk entgegenkam, dem ausgewichen werden mußte. Schon hundert Schritte vorher machte sie durch ein „Kutscherchen, Kutscherchenl“ auf die drohende Gefahr aufmerksam. Sie saß wie jeden Augenblick zum Sprunge bereit, wenn doch das Unglück unabwendbar sein und der Wagen auf einen Stein auffahren oder in den Graben fallen sollte. Uebrigens hatte sie, obgleich die Sonne auf das Verdeck brannte und die jungen Bäumchen zu beiden Seiten durch keinen Lufthauch aus dem Schlaf geschüttelt wurden, ein Taschentuch um den Hut geknüpft. „Die rasche Bewegung verursacht immer Zugwind,“ behauptete sie, „und man muß die Ohren schützen, um sich vor Zahnweh zu bewahren.“

Neben dem Kutscher hatte ein junger Mann seinen Platz – eigentlich nicht neben dem Kutscher, sondern möglichst weit von ihm getrennt in der anderen Ecke des Vordersitzes. Er saß meist quer, das rechte Bein auf das Polster hinaufgezogen, um der hübschen jungen Dame hinter sich bei der Unterhaltung in die Augen sehen zu können. Auch das schien die ängstliche Frau zu beunruhigen. „Wenn Sie doch lieber auf die Gegend achten möchten, lieber Herr Opitz,“ sagte sie. „Bekommt der Wagen einen Ruck, so fallen Sie hinunter und geraten unter die Räder. Mir wird schon bei dem Gedanken ganz heiß.“

„Da ist gar nichts zu befürchten, Frau Sekretär,“ antwortete er lachend, „die Anziehungskraft von Frau Ida ist zu groß – ich kann beim besten Willen nicht verloren gehen.“

„Sie müssen auch immer Ihren Spaß machen,“ schalt die Hübsche nicht ungnädig, aber doch etwas spitz verweisend. „Es ist gar nicht meine Art, einen anzuziehen, und meinetwegen können Sie die Chausseebäume rechts und links bis zum ‚Eulenkrug‘ zählen.“

„Aber Sie können ja nichts dafür, Frau Ida,“ entschuldigte er. „Es ist eine angeborene Gabe. Jedenfalls hoffe ich, in Ihrer Gunst genügend fest zu sitzen. Dagegen wird die Frau Sekretär nichts haben können. Was?“

„Störe doch die verehrte Frau Sekretär nicht, Schwager,“ ließ sich eine fette Stimme vom hintersten Sitz her vernehmen, „sie muß ja kutschieren.“

Dieser Witz wurde durch ein fröhliches Lachen belohnt, in das auch Frau Sekretär Streckebein einstimmte. „Spotten Sie nur, Herr Schöneberg,“ sagte sie, ohne doch das runde Kinn mehr als einen knappen Zoll seitwärts zu drehen. „Es ist immer gut, wenn einer aufpaßt, und Vorbedacht, behauptet man, hat noch keinem Leid gebracht. Mein seliger zweiter Mann lachte mich auch immer aus, bis einmal ... aber das erzähle ich Ihnen lieber, wenn wir gemütlich beim Kaffee sitzen und sicheren Boden unter den Füßen haben. Beugt sich Lieschen auch nicht aus dem Wagen heraus, Frau Schöneberg?“

„Das Kind sitzt ganz artig zwischen uns,“ versicherte die wohlbeleibte Dame hinter ihr schmunzelnd.

„Aber das ist recht langweilig, Großmama,“ äußerte die Kleine unzufrieden. „Ich möchte lieber zum Kutscher.“

„Daß ich keine Minute Ruhe hätte! Nein, Du bleibst, wo Du bist. Und wenn wir ankommen, wartest Du ab, bis die andern ausgestiegen sind. Herr Opitz wird die Freundlichkeit haben, Dir die Hand zu reichen.“

„Lieschen ist doch ein bißchen zu jung für mich,“ plänkelte er, den Hut aus der Stirn schiebend, auf der große Schweißtropfen standen, „sonst . . .“

„Mein Bruder hat nur immer Heiratsgedanken,“ ließ sich Frau Schöneberg vernehmen. „Das kommt dann so unpassend heraus.“

„Es wäre ganz in der Ordnung, wenn er endlich einmal Ernst machen wollte,“ meinte ihr Mann. „Er muß unter strengere Zucht genommen werden, sonst schlägt er ganz aus.“

„Na, na! Verleumde mich nicht,“ wendete Opitz ein. „Ich denke, einen solideren Menschen zwischen dreißig und vierzig als mich kann es gar nicht geben. Was sagen Sie dazu. Frau Ida?“

„Ihr Herr Schwager muß Sie doch kennen,“ bemerkte sie kichernd.

„Da hast Du’s,“ sagte Schöneberg. Er schob seinen gelben Staubrock ein wenig zur Seite und zog die Uhr an der dicken goldenen Kette aus der prall anschließenden weißen Piquéweste. „Weit vom Ziel können mir übrigens nicht mehr sein.“

„Meinst Du?“ fragte Opitz anzüglich, mit einem Blick auf Ida. „Ach so –“ berichtigte er sich, „Du siehst nach der Uhr.“

„Dem Glücklichen schlägt keine Stunde,“ citierte Schöneberg. „Na – ich für meine Person könnt’s noch ganz gut auch zwei aushalten. Ueberhaupt so eine Landpartie mit dem Kremser, das ist doch erst das richtige Vergnügen. Nicht, Alte?“

„Wenn du mich meinst ...“

Er klopfte ihr über Lieschen hinweg auf die runde Schulter. „Natürlich meine ich Dich, Rosinchen. Herr Gott, meine Frau will noch immer nicht alt werden! Ich denke, wenn man eine erwachsene Tochter hat –“

„Ach! Martha ist noch das reine Kind. Warum sprichst Du denn eigentlich gar kein Wort, Martha?“ Sie stieß das junge Mädchen an, das vor ihr neben Frau Sekretär Streckebein saß, den Kopf mit dem großen gelben Strohhut gesenkt hatte und vor sich hin träumte.

„Es ist so heiß, Mama,“ antwortete sie.

„Ja, heiß ist es,“ bestätigte Schöneberg, „aber das gehört dazu. Was ich sagen wollte: so eine Kremserfahrt, Kinder – das ist ’was! Die Eisenbahn kann man ja eine recht gute Erfindung nennen, aber zum Spazierenfahren taugt sie herzlich wenig. Wie schwer bekommt man ein Coupé für sich! Die Gesellschaft muß sich trennen. Und dann dritter Klasse mit Krethi und Plethi zusammensitzen – zweiter sieht doch zu protzig aus. Paßt mir nicht. Ich möchte auch ’mal wissen, wie’s kommt, daß die Eisenbahn gerade immer an den großen ungemütlichen Restaurants vorüberführt. Sonntags bekommt man keinen Platz und alltags ist man da oft unter Tausenden von Stühlen die einzig fühlende Brust. Und dann die Drängelei bei der Abfahrt! Es wird ja manchmal lebensgefährlich. Hat man nur einen auf den Schoß zu nehmen, so kann man von Glück sagen. Mit dem Kremser – da bin ich mein eigener Herr. So und so viel gehen auf den Wagen herauf – gut! Und nachher: Kutscher, spann’ an! Hat man’s mit dem Hinkommen nicht so eilig, so trifft man auch noch immer ein reelles Wirtshaus vom alten Schlage. Hast Du ’was dagegen, Opitz?“

„I – ich?“ rief der junge Mann. „Sie müssen mir’s bezeugen, Frau Ida, daß ich während der ganzen langen Rede nicht gemuckst habe. Uebrigens, wenn ich meine Meinung sagen soll – mir kommt es meistenteils auf die Gesellschaft an. Ist die danach, so laß ich mir für mein Vergnügen viel gefallen.“

„Und der Kremser hat doch auch seine Schattenseiten,“ gab die Frau Sekretär zu bedenken. „Wenn nicht die Pferde vorgespannt wären! Und es kann doch auch ein Rad abfallen“ – eben wurde einer von den Steinen gestreift, die im Zickzack auf die neue Chaussee gelegt waren. um den Fuhrwerken eine bestimmte Linie vorzuschreiben. „Uh!“ schrie die ängstliche Dame auf, als ob das Unglück schon eingetreten wäre.

„Aber wer wird sich denn alle Möglichkeiten schwarz ausmalen!“ bemerkte Schöneberg.

„Mama hat eine so lebhafte Phantasie,“ sagte Ida lächelnd, indem sie der alten Dame das bei der Bewegung verschobene Tuch unter dem Kinn zurechtrückte.

„Was meinen Sie, Männeken,“ wendete Opitz sich an den Kutscher, „wenn wir uns einen Tobak ansteckten? Beim Rauchen schläft man nicht so leicht ein.“

„Det kann stimmen,“ antwortete der Rosselenker, steckte die Peitsche in die Lederscheide und griff in die ihm vorgehaltene Cigarrentasche. Nun aber erhielt die Frau Sekretär neuen Grund zur Beunruhigung. Um die Cigarre anzuzünden, nahm der Kutscher die Leine zwischen die Knie und rieb Streichhölzchen an, die er lose aus der Westentasche hervorholte und deren ausgesprochene Neigung es war, immer wieder auszugehen, obschon er beide Hände vorhielt. Ihr wurde ganz heiß. „Geben Sie mir doch lieber die Leine,“ bat sie wiederholt. Aber Pieseke meinte bei jedem neuen Versuch „es geht schon“ und setzte endlich auch sein Stück durch. Daß er nun wie eine Dampfmaschine paffte und die Luft hinter sich verräucherte, konnte für das erträglichere Uebel gelten.

Endlich näherte man sich dem Ziel. Erst im letzten Jahr war dieser Teil des großen Forstes dürch die neue Chaussee erschlossen und der „Eulenkrug“ gewissermaßen entdeckt worden, ein Wirtshaus ältesten Stils, mitten im Walde gelegen und auch jetzt von der Kultur noch so wenig beleckt, daß hier sogar Familien

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 352. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_352.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2021)