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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


„Bruder! Bruder!“ stammelte Edelrot und streckte die Arme nach ihm. Er küßte ihren Mund. „Jetzt muß geschieden sein!“ Die Samme brach ihm; hastig löste er sich aus Rütlis Armen, sprang in die Hofreut und schloß das Thor. Schluchzend warf sich Edelrot gegen die Bohlen; doch Ruedlieb umschlang sie, und zitternd hing sie an ihm, der sie unter zärtlichen Worten hinauszog auf den finsteren Weg.

Der Richtmann stand noch und starrte über den schwarzen See hinweg zur Höhe der Falkenwand. An Wazemanns Haus leuchteten alle Fenster. Die Hunde rumorten, und Stimmenlärm klang aus der Halle.

Herr Waze saß bei der Tafel, fünf seiner Söhne um ihn her; er trug wohl noch die kalte Binde um den Kopf, doch hatte er das Grausen vor dem Met schon überwunden. „Wo bleiben die beiden Buben?“ schrie er in zorniger Ungeduld. „Ich hab' zu reden mit Euch. Wir müssen beschließen, was morgen geschehen soll. Sie sollen kommen . . . wo sind sie?“

„Noch alleweil’ sitzen sie über den Spielbrett,“ lachte Rimiger, „einer rauschiger als der andere!“

„Hol’ sie! Und wenn sie nicht kommen wollen . . .“

Da klang Geschrei aus der Kammer, das Klappern des fallenden Spielbretts und das Poltern eines umgeworfenen Sessels. Henning taumelte in den Saal, und Eilbert stürzte hinter ihm her, die zinnerne Metkanne nach ihm schleudernd. Lärmend warfen sich die anderen zwischen die beiden. „Laßt mich, laßt mich!“ lallte Eilbert. „Ich muß ihm an den Hals! Er hat betrogen im Spiel . . . hat mir den Becher gereicht und mit dem Ellbogen einen Stein geschoben!“

„Das lügst Du!“ kreischte Henning. „Komm nur, komm, ich will Dir das Hirmdach dreschen!“

Mit Mühe konnten die Brüder die Berauschten voneinander halten. Recka war auf der Schwelle ihrer Kammer erschienen, hatte sich wieder abgewandt und die Thüre zugeworfen.

In keifendem Zorn schalt Herr Waze auf die Berauschten los. „Laß ihnen den Pfaffen heraufholen!“ lachte Rimiger. „Der soll ihnen eine Predigt halten über Bruderlieb’ und Ehrlichkeit!“

Lautes Gelächter erhob sich und Herr Waze nickte. „Recht hast, Bub’, so hat der Pfaff’ doch einen Zmeck.“ Er löste den Schlüssel von seinem Gürtel. „Hol’ ihn, und will er mucksen, so fahr’ ihm an die Rippen.“

Rimiger und Otloh eilten davon, während Herr Waze wieder sein Schelten begann. Die Stimme wurde ihm heiser, stöhnend griff er nach seinem Kopf, trat zur Tafel und hob die Bitsche. Da stürzte Otloh in den Saal. „Vater, Vater! Die Thür’ war gut geschlossen, aber das Loch ist leer gewesen.“

Herr Waze spuckte den Trunk wieder aus, den er genommen hatte, und starrte den Boten an. Dann schüttelte er den Kopf, riß eine flackernde Kerze vom Lichtreif und sprang zur Thüre. Wie ein Rudel Wölfe rannten die Söhne hinter ihm her, auch Henning und Eilbert, als wären sie jählings nüchtern geworden. Sie erreichten den Kerkerbau. In der offenen Thür des Bußloches stand Rimiger, bleich, und stotterte. „Der Pfaff’ und der Bub’ . . . all’ beid’ sind fort, wie durch die Wänd’ geflogen!“

Herr Waze stieß ihn beiseite und leuchtete in den Raum; doch er sah nur die kahlen Wände und das faule Stroh. „Sein Heiliger,“ lallte er, „sein Heiliger hat ihm geholfen!“ Und das Wunder machte ihn zittern.

Ein dumpfes Rauschen ging um das Haus. War es ein Windstoß, oder war es der Regen der zu fallen begann? Ueber Thal und See, über alle Berge fiel es nieder durch die Nacht in unsichtbaren Strömen. Ein rauher Wind, bald stockend, bald wieder im Wirbel jagend, peitschte den gießenden Regen.

Auf einem Karrenweg, der über den Halden der Schönau am Saum des Bergwaldes hinführte, wanderten die vier Menschen, welche das Fischerhaus verlassen hatten. Wicho schritt voran. Ruedlieb hatte sein Lodenwams abgenommen und das warme Tuch um Rütlis Haupt und Schultern geschlungen; sie schien den Regen nicht zu fühlen, im Schrecken lag sie an Ruedlieb angeschmiegt, der sie hob und stützte bei jeder rauhen Stelle des Weges. Der Schönauer war zurückgeblieben; durch die Finsternis spähte er über die schwarzen Halden hinunter nach seinem Hag und Haus. Der Regen schlug ihm ins Gesicht, und seufzend wandte er sich ab. „Du mein liebes Heim, schier muß ich fürchten, ich seh’ Dich nimmer wieder!“

Als sie den Schapbacher Forst erreichten, zündete Wicho die Fackel an, die er mitgenommen. Nun hatten sie ein besseres Wandern; sie waren geschützt wider Wind und Regen, doch häufig mußten sie durch Bäche waten, welche den Pfad überrannen. Der Weg begann zu steigen, und eine Stunde ging es bergan. Als sie eine weite Blöße überschritten, hörten sie von den Alben herunter das Gebrüll der Rinder. „Droben muß der Schnee schon fallen,“ meinte der Schönauer, „die Küh’ begehren auf.“

„Wohl wohl,“ nickte Wicho, „morgen wird mancher an den Heimtrieb denken.“ Schweigend stiegen sie weiter. Durch ein langes Waldthal ging der Weg, dann quer über einen steilen Berghang. Da hörten sie aus den Lüflen einen seltsamen Klang, mächtig und doch wie klagend fast ... als wäre eine baumdicke Saite gesprungen. Lauschend standen sie still, aber sie hörten nichts mehr; nur der Regen plätscherte, und rauschend fuhr der Wind durch die Wipfel der Bäume.

„Was muß denn das gewesen sein?“ fragte Wicho. Und der Schönauer sagte langsam: „Ich mein’, es hat ein Berg geschrieen; das hab’ ich einmal gehört als Bub’ . . . selbigsmal hat sich über dem Göhl eine Fragel[1] aufgethan, und eine ganze Wand ist niedergegangen über die schönsten Alben.“

Sie stiegen weiter. Nach einer Weile senkte sich der Pfad und führte hinunter in das stundenlange Thal, zwischen dessen Felswänden der Windacher See gebettet lag. In murrendem Wellengang schwankle das öde unheimliche Wasser. Mit schneidender Kälte blies der Wind, und die Nacht wurde grau, denn Flocken begannen sich in den fallenden Regen zu mischen. Zwei Stunden dauerte die Wanderung am See entlang. Als der Pfad dann wieder stieg und über Steingeländ emporführte, begann der Grund unter den Füßen der Wandernden sich licht zu färben, und bald umhüllte sie gleich einem Schleier das Gewirbel der weißen Flocken.




26.

Spät erwachte über dem Lokiwald der Morgen. Kaum auf Steinwurfweite drang der Blick, alle Luft war grau vom strömenden Regen, schattenhaft zog sich der Waldsaum mit seinen Bäumen um die Rodung her, und während der kalte Wind den Regen durch Thür und Fensterluken in die Klause peitschte, rauschten auf allen Berggehängen ringsumher die angeschwollenen Bäche. Zuweilen klang durch das dichte Gewölk ein dumpfes Rollen von den Höhen nieder – dort oben lösten sich Massen des Gesteins, welche das Erdbeben gelockert hatte und das strömende, in alle Fugen und Risse sich zwängende Wasser ihres letzten Haltes beraubte. Schwieg für kurze Weile der sausende Wind und dämpfte sich das Rauschen des Regens und der Bäche, so tönte bald von hier und bald von dort aus steilem Bergwald nieder das Gebrüll der Rinder, ein verschwommenes Geläut der Schellen und das ferne Geschrei der Hirten, welche unter Gefahr und Not vor dem auf den Alben fallenden Schnee mit ihren Herden in die Thäler flüchteten.

Am Waldsaum der Rodung mischte sich Beilschlag und das Knirschen einer Säge in das Geplätscher des Regens. Eberwein und Schweiker, im Arbeitskleid und triefend vor Nässe, zimmerten die Läden für die Fensterluken und die Thüren für das Kirchlein und die Klause. Sie wechselten nur ab und zu ein paar Worte, welche die Arbeil erforderte. Schweiker führte jeden Hieb, als schlüge er nicht auf wehrlose Blöcke los, sondern in Zorn und Ingrimm auf einen verhaßten Feind. Die von ihm gespaltenen Bohlen fügte Eberwein mit Querlatten und Holznägeln aneinander; rastlos zog er die Säge und schwang den Hammer; von seinem blonden Haarkranz rann das Wasser wie von einer Traufe, und naß klebte ihm der lichte Bart an der Brust. Die schwere Arbeit schien ihm Erquickung und Trost zu sein, denn gesunde Röte brannte auf seinen Wangen und seine Augen blickten ruhig. Und er hatte doch in der Nacht, an dem Lager des Knaben sitzend, kaum für eine Stunde die Lider geschlossen.

Stunden vergingen; gegen Mittag standen die Thüren gezimmert und die Läden gefügt. Noch einmal prüfte Eberwein seine Arbeit, dann legte er den Hammer nieder. „Bedarfst Du meiner Hände noch?“

„Nein, Herr! Mit allem anderen komm’ ich schon allein so weit, daß Thüren und Fenster gut verwahrt sind bis zur Nacht. Vergönn’ Dir ein Stündlein Ruh’!“

„Ruhe?“ Eberwein schüttelte den Kopf. „Ich ende die Arbeit, weil ein Weg mich ruft.“ Er schritt der Klause zu, um das Gewand zu tauschen.

(Fortsetzung folgt.)


  1. Spalte, Erdriß.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_374.jpg&oldid=- (Version vom 27.12.2020)