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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

spielte in Leipzig allabendlich ein Graf aus einer der ersten sächsischen Familien, der auch Vorsitzender der Schachgesellschaft „Augustea“ war, mit einem Markthelfer. Im Klub giebt es nur eine Rangordnung, die der guten und der schlechten Spieler.

Neben diesen harmlosen Schachkämpfern sieht man andere sich gegenübersitzen, welche mit dem Bleistift in der Hand jeden Zug, den sie selbst oder der Gegner gemacht haben, auf ein zur Seite liegendes Blatt notieren. Es sind die Mitspieler im Winterturnier, das der Klub alljährlich zu veranstalten pflegt. Da giebt es allerlei Bedingungen, denen sich die Mitspieler fügen müssen, und Preise für diejenigen, welche die meisten Partien gewinnen. Hier herrscht ein gewisser ehrgeiziger Eifer, über jeden Zug wird lange nachgesonnen und meist die Zeit nach der Uhr zugemessen. Das Spiel hat einen ernsteren Charakter, denn es handelt sich um eine Geldfrage, und in Geldsachen hört bekanntlich die Gemütlichkeit auf. Die „Kibitze“, die es beim Schachspiel wie beim Skatspiel giebt, enthalten sich hier des Hineinredens, geben nur gelegentlich durch einen halb unterdrückten Ausruf, durch ein leises Mienen- und Gebärdenspiel den kritischen Erwägungen Ausdruck, zu denen sie der eine oder der andere Zug veranlaßt hat. Die eifrigsten Zuschauer gehen an einen anderen Tisch, stellen dort die Partie auf, wie sie zuletzt stand, und beweisen im Flüsterton einigen anderen mit überlegener Einsicht, wie Schwarz oder Weiß hätte ziehen müssen, um die Partie zu gewinnen.

In einer anderen Gruppe geht es etwas lauter zu – da findet ein lebhaftes Gespräch über ein großes Meisterturnier statt, welches gerade im Gange ist, da wird gezählt und gerechnet, man erwägt die Aussichten, die der eine oder der andere berühmte Spieler hat, man gerät darüber in lebhaften Streit, und wenn man bei uns noch nicht auf einen oder den anderen wettet, wie auf die Pferde der Rennbahn, so beweist dies nur, daß der Schachsport glücklicherweise noch nicht ganz die Höhe der Entwicklung erreicht hat, zu welcher er sich noch emporschwingen kann.

Einsiedlerisch neben diesen Gruppen sitzen hier und dort einzelne in die Lektüre der Schachblätter, in das Nachspielen von Partien, in die Lösung von Problemen vertieft, oft stundenlang unbeweglich wie die Säulenheiligen und nur bisweilen einen mißvergnügten Blick auf einen unliebsamen Störer werfend, der ihnen das Licht absperrt.

Zu den großen Veranstaltungen der Neuzeit auf dem Gebiete des Schachs gehören die internationalen Meisterturniere, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt an Zahl und Bedeutung gewonnen haben. Es war im Jahre 1851, als ein Deutscher, der Gymnasiallehrer Adolf Anderssen, in einem solchen Turnier in London den ersten Preis gewann und seitdem als der erste der deutschen Schachspieler galt, denn auch in einem späteren Londoner Turnier 1862 und in dem großen internationalen Turnier zu Badend-Baden 1870 war er der erste Preisträger. Bis zur Gegenwart ehrt ihn die ganze deutsche Schachgemeinde mit allen ihren neuauftauchenden Größen als den Meister. Professor Anderssen ruht schon seit 1879 auf dem Breslauer Friedhof, aber die Pietät der Nachstrebenden feiert sein Angedenken, in fast allen Klubzimmern hängt sein Bildnis. Der biedere, kurzangebundene, etwas barsche Mathematiker war ritterlich im Schachspiel wie die höflichsten Meister der Neuzeit und allgemein beliebt. Im Jahre 1877 veranstaltete der Leipziger Schachklub „Augustea“ zur Feier der 50jährigen Wirksamkeit des Meisters eine Anderssenfeier[1], bei welcher die namhaftesten Spieler sich in einem großen Turnier bekämpften. Zwei Jahre darauf, 1879, wurde in Leipzig der Deutsche Schachbund gegründet, der auch in der Gegenwart noch fortbesteht, bis vor kurzem unter der thatkräftigen Leitung des schon damals zum Generalsekretär erwählten Hermann Zwanzig, dessen Tod wir leider zu Anfang dieses Jahres unsern Lesern melden mußten. Es gab schon früher einzelne landschaftlich beschränkte Schachverbindungen, einen westdeutschen, einen mitteldeutschen Schachbund u. a.; aber erst auf dem Leipziger Rütli versammelten sich die Vereine zum Bunde, wurde die große Eidgenossenschaft der deutschen Schachspieler ins Leben gerufen.

Der Deutsche Schachbund umfaßt gegenwärtig ungefähr 85 Schachklubs, er hat seine Satzungen, denen sich auch die ausländischen Meister unterwerfen müssen, wenn sie zu seinen Turnieren kommen. Durch ihn hat das Schachleben in Deutschland großen Aufschwung genommen; freilich hat es auch immer mehr sein früheres häusliches Gepräge verloren und ist an die Öffentlichkeit gedrängt worden. Der Schachbund veranstaltet alle zwei Jahre an diesem oder jenem Vorort große Turniere, mit welchen Generalversammlungen verbunden sind. Die Turniere bestehen aus einem Meisterturnier, einem Hauptturnier und kleineren Nebenturnieren.

Zum Meisterturnier werden die bisher anerkannten Schachspieler aus Deutschland und dem Ausland zugelassen; ferner ist zur Teilnahme an demselben derjenige berechtigt, der im letzten Hauptturnier den ersten Preis gewonnen hat, in zweifelhaften Fällen entscheidet der Ausspruch des Komitees. Es hat sich also allmählich eine gewisse Schachhierarchie herausgebildet und man muß eine Art von Examen bestehen, um die höheren Weihen als Schachmeister zu erhalten. Im Meisterturnier spielt jeder mit jedem; im Hauptturnier wird in Gruppen gespielt und die Sieger der einzelnen Gruppen kämpfen dann miteinander um die Preise. Für jeden Zug ist eine bestimmte Zeit festgesetzt (zwanzig Züge in der Stunde); sie wird durch die sogenannten Schachuhren geregelt, die ersparte Zeit kommt den anderen Zügen zugute. Zeitüberschreitung zieht den Verlust der Partie nach sich. Die Frage wird in streitigen Fällen von erwählten Schiedsrichtern entschieden. Die Spielregeln sind genau festgestellt, es werden keinerlei besondere Abmachungen geduldet. Solche Turniere haben in Leipzig, Berlin, Nürnberg, Hamburg, Frankfurt a. M., Breslau, Dresden stattgefunden und in einigen Städten hat sich ein zahlreiches Publikum dazu gedrängt. Die ausländischen Meister, namentlich die berühmten englischen Schachspieler, sind dabei in letzter Zeit von den jüngeren deutschen Kräften geschlagen worden. Neuerdings hat man beschlossen, in den Jahren zwischen den internationalen Turnieren nationale einzuschieben, bei denen nur deutsche Spieler Zutritt finden; das erste derartige Turnier hat im August vorigen Jahres in Kiel stattgefunden. Auch die einzelnen Schachklubs veranstalten bei Jubiläumsfesten und sonstigen Anlässen Turniere. Die Lanzen splittern daher gehörig in deutschen Landen und von Jahr zu Jahr mehren sich die preisgekrönten Häupter. Nun giebt es aber auch im Ausland, besonders in England und Amerika, häufige Turniere, und deutsche Kämpen haben besonders in England schon mehrfach erste Preise davongetragen.

Neben den Turnieren beschäftigen aber auch die Matchspiele die Aufmerksamkeit der Schachfreunde, es sind dies Wettkämpfe von zwei Gegnern, bei denen eine bestimmte Zahl gewonnener oder zuerst gewonnener Partien den Ausschlag giebt. In der Regel sind die Preise, welche von Schachklubs oder Schachmillionären gestiftet oder durch Sammlungen aufgebracht sind, sehr hoch. In diesen Matchspielen prägt sich die Eigenheit der Spieler noch schärfer aus als bei den Turnieren, sie haben sich gegenseitig die beliebtesten Fechterstellungen abgelauscht und suchen sich in dieser oder jener Weise die Paraden zu durchhauen. Es kommt dabei sehr viel auf die Spielweise an. Schon bei den Turnieren zeigt es sich oft, daß der eine gegen einen andern niemals aufkommen kann, während er doch die Sieger über denselben zu besiegen pflegt. Die Persönlichkeit der Feldherren entscheidet ja auch oft im Kriege, und einem Fabius Cunctator gewinnt ein Hannibal, der sonst die Feinde über den Haufen stürmt, keinen Sieg ab. Die Matchspiele berühmter Schachmeister gehören zu den großen Sensationsstücken des Schachspiels. Solches Aufsehen erregte 1858 der Wettkampf des deutschen Meisters Anderssen gegen den jungen genialen Amerikaner Morphy in Paris, bei welchem der Deutsche unterlag. Vor einigen Jahren (1886) erregte der große Match zwischen Steinitz und Zukertort, der in Nordamerika ausgefochten wurde und bei dem der letztere die Waffen strecken mußte, die allgemeinste Teilnahme und erst in den letzten Tagen hielt der Wettkampf zwischen Steinitz und Lasker die Schachwelt in Spannung. Die Schachmeister sind jetzt mehr oder weniger zu Weltreisenden geworden, die von einem Festland zum andern hinüberschiffen. Für die internationale Bedeutung des Schachspiels ist es bezeichnend, daß der Schachklub zu Habana auf der Insel Kuba jetzt ein Mittelpunkt der Matchspiele geworden ist und von ihm Einladungen an russische Meister wie Tschigorin und an jüngere deutsche Schachspieler ausgegangen sind.

Eine eigentümliche Abart, die das Schach neuerdings gezeitigt hat, ist das Blindlingsspiel. Wer einer solchen Schaustellung beiwohnt, der wird schon durch die Einrichtung des Spielraums einen befremdenden Eindruck erhalten. An einem langen Tische sitzen die Spieler, welche sich bereit erklärt haben, Partien gegen den Blindlingsspieler zu übernehmen, sie haben die Schachbretter vor

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 438. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_438.jpg&oldid=- (Version vom 27.6.2023)