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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

daß sie, nach einem besonders reizvollen Abend mit Flora, sich schmeichelhafterweise bei den Eltern erkundigten. „Geht Ihr nicht bald ’mal wieder aus?“

Im ganzen war Flora überhaupt stets gut gelaunt, außer wenn sie von den geheimnisvollen Besuchen des „Mah“ zu leiden hatte. Der „Mah“ war ein ostpreußischer Dämon von sonderbaren Gewohnheiten, die ungefähr denen des internationalen „Alp“ entsprachen, d. h. er wälzte sich im Schlaf auf die Menschen und drückte ihnen die Kehle zu. Von Zeit zu Zeit machte der „Mah“ denn auch Würgeversuche an der Flora, die, wie gesagt, eine namenlos üble Laune bei ihr hervorriefen. Nach Floras Versicherung hatten nur Sonntagskinder die Aussicht, von den angenehmen Beziehungen zum „Mah“ verschont zu bleiben, und da der Storch so rücksichtslos gewesen war, Flora an einem Mittwoch in dieses Jammerthal zu setzen, so sah der „Mah“ selbstredend nicht ein, warum er ihr eine bevorzugte Stellung einräumen sollte.

Diese Scharmützel mit dem „Mah“ blieben übrigens lange Zeit Floras einzige gesellige Zerstreuung. Sie ging nie aus. Sie putzte sich sonntäglich allerdings sehr schön, aber nur, um nachmittags in der Kirche zu sitzen, dann in ihrem unsäglich zerfetzten Traumbuch zu lesen oder an einer sehr häßlichen, handbreiten Spitze zu häkeln, über deren Bestimmung sie sich selbst nicht klar schien, die sie aber meterweise zu Tage förderte.

Um so überraschender wirkte es, als Flora eines Sonnabends erschien und um die Erlaubnis bat, am folgenden Sonntag nicht allein ausgehen, sondern sogar den Hausschlüssel mitnehmen zu dürfen, da „Portiers“, mit denen sie sich für gewöhnlich ungefähr so gut vertrug wie Brunhild mit Chriemhild, sie zu einem „Vergnügen“ eingeladen hätten. Natürlich wurde dieses Verlangen anstandslos bewilligt. Flora wanderte am nächsten Nachmittag ab, in einem kornblumenblauen Gewande, einen großen Rembrandthut schräg auf dem Kopf und mit weißen Handschuhen, einem Geschenk des Hausherrn, welches Flora mit unsäglichem Stöhnen und geradezu übermenschlicher Kraftanstrengung über ihre Riesenhände gezogen hatte.

Die Kinder staunten die königliche Erscheinung der Flora mit offenem Munde an und besprengten sie mit Parfüm aus ihren Riechfläschchen, um sie vollends zur Weltdame zu stempeln. Duftend und farbenprächtig zog denn Flora ab, und es sollte sich – fast hätte ich gesagt „leider!“ – zeigen, daß sie nicht umsonst so unwiderstehlich ausgesehen hatte.

Etwa drei Wochen nach diesem sorgenschweren Sonntage trat Flora zu ungewohnter Zeit bei der Hausfraü ein, schlug die Augen nieder, zupfte an ihrer Schürze und gebärdete sich wie ein verschämtes Mammut, das ein Geständnis zu machen hat.

Zur Aussprache ermutigt, gab Flora die Erklärung ab, sie habe auf dem „Vergnügen“ mit Portiers einen „jungen Menschen“ kennengelernt, der sich um sie zu bewerben geneigt sei. Da sich bei näherem Befragen ergab, daß der „junge Mensch“ achtundvierzig Lenze erblickt habe und „an der Bahn“ sei, so trug die Sache ein solides Gepräge, und es ließ sich den beabsichtigten Besuchen des Freiers nichts entgegensetzen.

„Ein sehr ordentlicher junger Mensch!“ versicherte Flora. „Wie er mir Guten Abend sagte, schlug er so mit dem Fuß aus, daß ich dachte, er wollte mich verscharren,“ ein Zeugnis für die Salonmanieren des „Scholz“ – so hieß der Glückliche – das einen Mann von feinsten Umgangsformen zu verheißen schien.

Wir waren natürlich alle sehr gespannt, die persönliche Bekanntschaft des Scholz zu machen, doch dauerte es ziemlich lange, bis uns das zu teil ward. Vorläufig wurde Flora von heftiger Vergnügungssucht ergriffen und erklärte in ihrer wunderbaren Ausdrucksweise, sie sähe nicht ein, warum sie „ihr bißchen Jugend verknatterm sollte“.

Wir sahen das auch nicht ein, und Flora wanderte allsonntäglich mit unverknatterter Jugend ab und traf sich irgendwo mit dem Scholz, so daß er für uns eine mythische Figur bleiben zu wollen schien.

An einem Sonntag aber war entsetzliches Wetter, der „Mah“ hatte die Flora gewürgt, und sie blieb zu Hause. Wir hofften schon im stillen auf ein Zerwürfnis mit dem „jungen Menschen“, es war aber nichts.

Wie der Geist im Märchen sein Erscheinen durch eine Wolke von Wohlgeruch anzukündigen pflegt, so meldete sich abends der Scholz durch einen entsetzlichen Tabaksqualm an, der aus der Küche im Erdgeschoß drang und sich mitteilsam durch die ganze Wohnung verbreitete. Die Kinder, mit der ihnen eignen Findigkeit, errieten sofort den Grund dieses Uebelstandes, stürzten mit mühsam unterdrücktem Jubel nach der Küchentreppe, pufften sich gegenseitig bis in die Nähe der Thür und wichen quieksend zurück, bis sie endlich sich überstürzend und überschreiend, ins Wohnzimmer drangen.

„Der Scholz ist da! Wir haben ihn gesehen!“

Die Hausfrau ertrug die Qualen der Neugier nun auch nicht länger. „Sagt ihr doch, sie soll ihn einmal heraufbringen!“ befahl sie.

Nach wenig Minuten trat denn auch unsere Flora an – anscheinend allein. Erst bei genauerem Hinsehen entdeckte man in ihrem Schatten ein kleines, sehr kleines, blondes, verhungert aussehendes Männchen, etwa einundeinenhalben Kopf kleiner als seine riesige Erwählte und entschieden etwas überwältigt von seinem Glück.

Flora schubste mit der ihr eignen Zartheit an dem Scholz herum und brachte ihn in den Vordergrund. Die Hoffnung, er werde sich auch vor uns so verbeugen, als wenn er uns verscharren wollte, trog leider, das schien er sich nur für Eroberungsversuche aufzubewahren. Er lächelte stumm und verlegen und schien sehr erleichtert, als er sich wieder empfehlen durfte. Bei uns hieß er von dem Tage an nur „Floras Spazierstöckchen“, denn den Eindruck machte er durchaus, wenn er mit seiner Riesin zu sonntäglichen Belustigungen abwanderte.

Wie vorauszusehen, kündigte unsere Flora uns binnen kurzem an, sie würde nun heiraten und uns verlassen. Da der „junge Mensch“ achtundvierzig Jahre und die Braut, sagen wir, nicht jünger war, so lag ja auch kein Grund vor, warum beide „ihr bißchen Jugend verknattern“ sollten, und die Hochzeit wurde auf eine nahe Frist festgesetzt.

Die Thränen der Kinder versiegten bei der Aussicht, daß Floras Ehrentag bei uns gefeiert werden sollte und die gesamte Jugend des Hauses dabei sein dürfte.

Flora begann nun mit wahrem Feuereifer für ihre Häuslichkeit mit dem „Spazierstöckchen“ Vorräte zu sammeln, die furchtbare Spitze erwies sich als für Vorhänge durchaus geeignet, wir alle schenkten natürlich auch Kleinigkeiten in die junge Wirtschaft. Schließlich erstand Flora noch auf einer Versteigerung sogar ein Klavier – für drei Thaler! – daher man sich von dem Kunstwert und der Klangfarbe des Instruments ungefähr eine Vorstellung machen kann. Auf die erstaunte Erkundigung der Hausfrau: „Aber Flora, was wollen Sie denn mit dem Klavier?“ erwiderte die Befragte seelenruhig: „Wenn es nichts anderes ist, ist es ein Tisch“ – wogegen sich ja nichts einwenden ließ.

Die Hochzeit verlief aber nun wirklich prunkend, und sogar mit einem unerwarteten Schlußeffekt, den ich meinen Lesern nicht vorenthalten will.

Der große Tag fiel in den Mai, und der Scholz hatte schüchtern, wie es ihm zukam, den Vorschlag gemacht, nach der Trauung eine Landpartie zu unternehmen.

„Er denkt sich das so schön, mit mir unter grünen Bäumen herumzusäuseln,“ sagte die zarte Braut. „Ich werde ihm was säuseln! Hübsch zu Hause geblieben wird und ‚Schloklade‘ getrunken!“

Flora sagte aus unbekannten Gründen immer „Schloklade“ statt „Chokolade“, „Appelrosinen“ statt „Apfelsinen“ und „Pöpelfleisch“ statt „Pökelfleisch“.

Also ein Hochzeitsmahl mit „Schloklade“ wurde beliebt, zu dem Flora eigenhändig ein sehr schönes und sehr fettes Gebäck, „Räderkuchen“, gebacken hatte, in dem sie besonders stark war.

Der Hausherr ließ es sich nicht nehmen, der „Schloklade“ noch eine Bowle beizufügen, und wir alle, die Kinder, Portiers und einige Kollegen vom Scholz, saßen um den festlich geschmückten Hochzeitstisch. Die Flora war natürlich auch dieses Mal die schönste Braut, die sie in ihrem ganzen Leben gesehen hatte, und nahm die allgemeinen Huldigungen herablassend entgegen. Zunächst sprach fast niemand ein Wort, wie das bei so verschieden zusammengesetzten Gesellschaften so leicht kommt. Alle tranken taubstumm und freundlich ihre „Schloklade“, und selbst die Bowle vermochte die Zungen nicht zu lösen. Nur der glückliche Bräutigam trug insofern etwas zur Unterhaltung bei, als er allen Anwesenden und vielleicht auch sich selbst zur Ueberraschung plötzlich in bittere Thränen ausbrach, von denen es bis zur Zeit unaufgeklärt blieb, ob sie der Bowle oder der Seelenangst vor seinem neuen Glück und dessen riesiger Vertreterin zuzuschreiben waren.

Die Kinder, von diesem Verfahren ermutigt – Weinen und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 442. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_442.jpg&oldid=- (Version vom 14.5.2021)