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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


beide Jungens wieder heil und gesund bei sich zu haben. Leben Sie wohl, Kamerad! Grüßen Sie Ihren Bruder, den lustigen Kerl!“

„Fertig!“ schrien die Schaffner und pfeifend, stöhnend setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Der im Wagen Zurückgebliebene wischte mit dem Fensterriemen die beschlagene Scheibe ab und blickte eine Weile nachdenklich hinaus in die Landschaft.

Heide, braune Heide, so weit das Auge reichte, darüber ein schmutzig grauer Himmel! Schnee und Regen, vor dem pfeifenden Novemberwind aus niedrigen Wolken über die Ebene jagend! Hier und da huschten kleine verkrüppelte Fichten vorüber, die Aeste nur nach einer Seite streckend, wie es der rauhe Nordwest ihnen geboten, seit sie den ersten Schößling auf sandigem Boden getrieben.

Hermann von Weßnitz kannte diese Gegend; er war ja darin aufgewachsen, und diese endlose Heide war ihm nicht weniger lieb wie dem Schweizer sein Hochgebirge. Alte Erinnerungen tauchten vor ihm auf. Wie oft er mit seinem jüngeren Bruder auf flinken kleinen Pferden die Einöde durchstreifte! Wie oft sie in heißen Sommertagen an der sanften Böschung eines Hügels im duftenden Heidekraut lagen! Ringsum summten die Bienen und die Grillen zirpten, während er stundenlang träumen konnte zu dem blauen Himmel hinauf. Bruno war anders. Der vermochte nicht so lange ruhig zu bleiben. Sein leichtes wildes Blut ging zu hastig; er fing Käfer und anderes Getier, neckte den Bruder mit Grashalmen oder trieb sonst allerhand Kurzweil.

Bruno war stets der lebhaftere der beiden Brüder gewesen. Ein schöner unbändiger Junge mit sehnigem Körper, stets begierig nach Neuem, nach Genußreichem, und dann wieder so bald satt und weiterdrängend zu anderem Zeitvertreib, während Hermann stets etwas Stilles, Zurückhaltendes in seinem Wesen hatte. Starrköpfig führte er aus, was er sich vornahm, schon als Kind ein Mensch, den Widerwärtigkeiten anzogen, um sie zu bekämpfen; dabei verschlossen, schwer zugänglich für Fremde. Vielleicht gerade wegen dieser Gegensätze hingen die Brüder so fest aneinander, obgleich der jüngere stets bevorzugt wurde, sogar vom eigenen Vater. Wie manches harte Wort hatte Hermann für die tollen Streiche seines Bruders hingenommen, um diesen vor einer Strafe zu bewahren! Und es freute ihn manchmal, daß man ihm solche Streiche zutrauen konnte.

Zwischen den beiden wuchs als treue Spielgefährtin, wenn auch an Jahren jünger, eine Kousine auf – die lustige Lore, ein früh verwaistes Kind, das von den Verwandten erzogen wurde.

Hermann lächelte leise vor sich hin. Wie sie mit den Knaben tobte in der Schulstube, in Scheune und Keller, im Wald und auf der weiten Heide! Und wie die Brüder sich überboten, der kleinen Prinzeß jeden Wunsch zu erfüllen! Wie ihr Goldhaar flatterte, wenn sie um den runden Rasenplatz vor dem Hause auf flüchtigen Füßen dahinflog!

Donnernd fuhr jetzt der Eisenbahnzug über eine kleine Brücke. Ein Flüßchen schlängelte sich zwischen Erlengebüsch und Wiesenstreifen durch die Ebene. Das Gesicht des einsamen Reisenden wurde ernst, während seine Augen den entschwindenden Schlangenlinien des Gewässers folgten. Langsam strich er mit der Rechten über die Augen, als wollte er eine Erinnerung fortwischen. Vor seinen Augen tauchte immer wieder das süße Mädchenantlitz auf – die Lore, wie er sie gekannt vor dem Krieg. Ein schwerer Abschied! Die Eltern waren mit der Pflegetochter in seine Garnison gekommen, um ihm Lebewohl zu sagen. Hermann freute sich auf den Krieg wie jeder junge Offizier. Gewiß war er bewegt, als er der Mutter Thränen auf seinem Gesicht fühlte, als sie ihn in die Arme schloß, aber erst, als er vor der Lore stand und ihr die Hand reichte, als diese kleine Hand zitternd in der seinen lag, als das Mädchen sich schluchzend an seine Brust warf und er seine Lippen leicht auf ihren goldigen Scheitel senkte, erst da wurde ihm das Herz schwer – und doch zugleich so hoffnungsfreudig. Blitzartig rang sich damals in ihm die Liebe zu diesem Mädchen empor, eine plötzliche klare Empfindung, daß er sie nicht nur als Schwester liebe.

„Behalte mich lieb, Lore!“

Sie lachte unter Thränen und nickte mit dem Kopf. „Natürlich, Hermann! Dem Bruno haben wir gestern Lebewohl gesagt. Er machte Witze, so daß wir lachen mußten trotz aller Angst!“

„Ja, Witze kann ich nicht machen, Lore,“ hatte er einfach erwidert und war aus dem Zimmer gestürmt, weil er fürchtete, daß ihm das Herz zu weich würde.

„Nätürlich, Hermann!“ Die Worte hatte er im Gedächtnis behalten, aber das war ihm entfallen, daß sie gleich darauf von Bruno gesprochen hatte.

Hermann konnte den Gedanken an jenen Abschied nicht loswerden. An keinem Abend hatte er seither die oft todmüden Glieder zur Ruhe gestreckt, ohne daß ihm Lores Antlitz vor der Seele geschwebt, ohne daß er ihren Namen geflüstert hätte. Wie oft am flackernden Biwakfeuer hatte er sich ausgemalt, wie herrlich, wie schön es sein müsse, wenn sie die Seine würde mit ihrem hellen fröhlichen Lachen, ihren blitzenden Augen!

Der Wind warf prasselnd Schnee und Regen gegen die Fenster des Wagens.

Wie würde das Wiedersehen sein mit Vater und Mutter und mit Lore? O, diese weichen Mädchenhaare wieder an seinem Halse zu fühlen! Und Bruno? Er zog fröstelnd den Mantel fester um den Körper. Das lastete auf ihm wie ein trüber Schatten, wie ein Alpdruck. Der arme, arme Bruder! Für eine Stunde, für eine Minute, da die Nerven ihren Dienst versagt hatten, ein Leben lang unglücklich sein müssen! Aber nie sollte Bruno wissen, daß er selbst noch an jenes Wiedersehen denke. Durch ein ganzes pflichtgetreues Leben ließ sich ja jene Schande sühnen, und er wollte dem guten sonst so kecken Kerl redlich dazu helfen. Merkwürdig, als Student brachte Bruno in jeden Ferien neue Schmisse mit nach Hause.

„Welch ein Unsinn!“ hatte Hermann ihn oft verspottet.

„Das stählt den Mut!“ pflegte dann Bruno zu sagen.

Du lieber Gott, in Binden und Bandagen verpackt, sich die Haut ritzen lassen und fest stehen im Kampfe mit Schwert und Blei – das sind verschiedene Dinge! –

Es war Hermann schwer geworden, damals nach dem Friedensschluß noch mit der Okkupationsarmee in Feindesland bleiben zu müssen, während die andern in die Heimat zogen. Aber das war ja nun auch vorüber!

Abgespannt von der langen Fahrt, lehnte er den Kopf an das Wagenpolster. Aus dem Halbschlaf fuhr er plötzlich auf. Ein Stoß und Ruck, der Zug hielt.

„Halingbrock!“ rief der Schaffner und riß die Thüre auf.

Schlaftrunken taumelte Hermann in die Höhe und raffte sein Gepäck zusammen. Der alte Diener seines Vaters stand auf dem Bahnsteig und grüßte leuchtenden Auges, in ehrerbietiger Haltung, den lackierten Hut in der Hand.

„Guten Tag, alter Jochen! Setzen Sie nur den Hut wieder auf, sonst erkälten Sie sich noch!“ Der Offizier streckte dem greisen Diener freundschaftlich die Hand entgegen, die dieser mit zitternden Fingern umschloß.

„Nee, die Freude!“ sagte er nur und griff nach dem Handgepäck. „Die Herrschaften wollten den Herrn Lieutenant lieber zu Hause erwarten,“ fügte er hinzu, eilig neben Hermann zum Wagen schreitend.

„Willkommen to Hus,“ grüßte der Kutscher und zügelte nur mühsam die beiden Braunen vor dem leichten Jagdwagen.

Wie das alles heimatlich anmutete! Alles unverändert! Dieselben Gesichter – dort, rechts am Bahnsteig noch derselbe alte knorrige Apfelbaum mit dem Nistkasten in dem kahlen Wipfel! Alles unverändert, und doch, wie war die Zeit mit eisernem Rad über das Geschick zweier Völker dahingerollt!

Es gehe alles gut, berichtete Jochen auf Hermanns Fragen, auch dem Herrn Bruder seit acht Tagen. Das letzte sagte der Diener mit abgewandtem Gesicht und stieß dabei den Kutscher mit dem Ellbogen in die Seite. Hermann bemerkte es nicht. Der Wagen bog in die lange gerade Allee zum Gutshof ein.

Der junge Offizier fühlte, wie ihm das Herz schlug. „Fahr’ zu!“ befahl er dem Kutscher.

Wiedersehen mit Eltern und Bruder und Lore! Schon von weitem winkten sie von der Sandsteintreppe herab, die zum alten schmucklosen viereckigen Gutsgebäude hinanführte. Dort standen sie – der Vater, dessen grauer Vollbart im Winde flatterte, die Mutter, in ein altmodisches Tuch gehüllt, und dahinter Bruno in Uniform mit der Lore. Ein letzter Gruß der Wintersonne flog blitzartig über die Erde und fing sich in des Mädchens rotblonden leuchtenden Locken.

Mit einem Satze sprang Hermann vom Wagen und warf sich in die zitternden treuen Mutterarme, an die breite Brust des Vaters. Dann streckte er die Hand den beiden anderen entgegen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 454. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_454.jpg&oldid=- (Version vom 26.7.2021)