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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Die Martinsklause.

Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(27. Fortsetzung.)


35.

Im Dämmerlicht des Abends irrte Eberwein am Ufer der die Ramsau überschwemmenden Seeflut auf und nieder. Mit gemartertem Herzen hatte er die Leiche des Kohlmanns verlassen. Durfte er thatlose Wache bei einem Entseelten halten, da er auf brechenden Bergen und im überfluteten Thal die Lebenden in Gefahr und Nöten wußte? Doch wohin sich wenden? Nach der Höhe? Der Schwester Sigenots, dem Richtmann und seinem Sohn zu Hilfe? Jetzt, da ihm der Führer genommen war? Wie sollte er die Wege finden, die er nie betreten! In brennender Qual erkannte er, daß jeder Schritt zur Höhe nutzlos wäre. Und so eilte er dem bedrohten Thal entgegen, der körperlichen Schmerzen nicht achtend, die der ungefüge Weg ihm bereitete. Als fern im Gadem der Sturz des König Eismann niederging, spürte Eberwein das Zittern und Wanken des Grundes; doch das ohrbetäubende Brausen der Gewässer, welche ihm zur Linken gegen die Thäler stürzten, übertönte das dumpfe Gedröhn und seinen Wiederhall. Eberwein konnte nicht wissen, nicht ahnen, was in der Ferne geschah – und dennoch umklammerte ihm ein dunkles Grauen die Seele und machte seinen Herzschlag stocken. Quälende Angst beflügelte seine Schritte, und als er dem Thal sich näherte, sah er schon die gestürzten Bäume und zwischen allen Gehängen die breit ergossene Flut, die ihm jeden Weg zu den bewohnten Stätten versperrte. Ein heißer Aufschrei löste sich von seinen Lippen. Seine Herde fiel, und er, der Hirte, mußte thatlos stehen, und seiner Ohnmacht Teil war nur ein schreiendes Gebet, das keinen Gott und keinen Himmel fand, der es erhören wollte. Zitternd bedeckte er das Gesicht mit den Händen. Dann wieder irrte er am Rand der strömenden Fluten entlang, getrieben von der Hoffnung, daß ein Hügel sich finden ließe, ein über den Weg der Wellen hinausgebauter Fels, von welchem er das andere Ufer springend erreichen könnte. Doch je weiter er thalwärts kam, desto breiter dehnte sich das Wasser, und seine suchenden Blicke fanden nicht Fels noch Steg, nur treibenden Wust von Trümmern und gaukelndes Hansgerät, das die schlammigen Wellen entführten.

Bergzebra, von einem Leoparden überfallen.
Nach einer Originalzeichnung von Alb. Kull.

Erschöpft ließ er sich auf einen Felsblock nieder, und seine verstörten Augen suchten in der Ferne den von braunem Rauch umschleierten Lokiwald. „Waldram! Ich schaue Deinen Gott!“ Schwer seufzend erhob er sich und taumelte am Rand der Fluten entlang. Er sah nicht, wohin er ging, und hörte das Gebraus der Wellen nicht mehr. Einmal hielt er inne, zitternd an allen Gliedern, und schlug die Hände vor das Gesicht. „Hiltischalk! Hiltischalk! Steig’ auf aus Deiner Tiefe, Du Christ der Christen ... reiche mir den Himmel, der in Deinem Herzen wohnte, zeige mir den Gott, an den Du glaubtest!“ Und wieder schwankte er weiter. Er merkte nicht, daß ein Mensch am Rande des Wassers ihm entgegenirrte. Es war der Schmied von Ilsank. Als er den Mönch gewahrte, befiel ihn jäher Schreck, und mit zuckenden Händen griff er nach dem Hals. Es schien, als wollte er fliehen und brächte den Fuß nicht von der Stelle. Zögernd breitete er die Arme aus, stürzte auf Eberwein zu, fiel vor ihm auf die Knie und umklammerte die Füße des Mönches. „Verzeih’! Verzeih’! Ich hab’ geschworen wider Euch auf dem Totenmann! Ich hab’ meinen Hag verschlossen vor Dir! Mein Haus ist hin, mein Weib und Kind! Sieh meine Reu’ und laß mich leben!“

Mit verlorenen Blicken starrte Eberwein auf den zitternden Mann. Er hörte die Worte und verstand sie nicht – er sah nur den Zug des Leidens in dem bleichen Gesicht und streifte mit der Hand über das Haupt des Knienden. „Harte Straf’ ist über uns gekommen!“ stammelte der Mann, dem noch die Todesangst der vergangenen Stunde in allen Gliedern bebte. „Der ganze Gadem liegt verschüttet unter dem Eismann den Dein starker Himmelsherr im Zorn auf uns geworfen hat!“

Eberwein erschrak nicht mehr. Nur ein dumpfes Stöhnen quoll aus seiner Brust. Er löste die Arme des Mannes von seinem Leib und wollte an ihm vorüberschreiten. Da sah er in der trüben Helle des Abends ein kleines Fahrzeug auf den grünen Wellen gleiten – gleich einem winzigen Einbaum war es anzusehen. „Eine Wieg’, Herr,“ stammelte der Schmied, „und in der Wieg’ ein lebiges Kind!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 477. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_477.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2021)