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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

verschwindend in schwarzem Schatten, bald wieder auftauchend im grauen Zwielicht. Mühselig, schwer und langsam war sein Gang. Als er die Kuppe eines Trümmerhügels erreichte, stand er bewegungslos und starrte im Dämmerschein über das weite Schuttfeld, unter welchem die Oedhütte mit dem ganzen Albenthal begraben lag. Von seinen Lippen rang sich ein Schrei, der Laut eines Namens, heiser und keuchend klang der Ruf und verhallte in der Satile. „Rötli! Rötli!“ Keine Antwort kam, nichts regte sich zwischen den Trümmern. Lange stand der Einsame, an einen Felsblock gelehnt, als vermöchte er sich ohne Stütze nicht aufrecht zu erhalten. Immer wieder schrie er den Namen, immer wieder strich er mit den Händen über die Augen, als möchte er gewaltsam seine Blicke sehend machen für das Leben, das er suchte und nimmer fand. Schwer atmend wandte er sich endlich ab und stieg der Tiefe zu, aus welcher er gekommen. Dann wieder kehrte er zurück, stand und wandte sich von neuem – als wären zwei Gewalten in ihm, von denen die eine ihn festhielt an der Stätte, während die andere ihn niederzog in die Tiefe der verschütteten Schlucht.

Schon begann das fahle Grau über den Felsen sich zu lichten, und immer tiefer stieg der Einsame zwischen den Wänden. Lange stand er vor einer Fläche grau bestäubten Schnees, in welchem sich eine weiße Mulde zeigte, als hatte hier, während der Staub gefallen, durch lange Stunden ein Mensch gelegen. Einen Steinwurf tiefer zog sich eine Felsspalte quer durch die Schlucht, halb verschüttet, und aus Geröll und Schnee ragte der Wipfel einer Zirbe hervor. Langsam glitten die Augen des Mannes über das grüne Gezweig, über eine weit geöffnete Höhle, über die kahle Bruchfläche des Berges und über die wirrem Massen der zerschlagenen Felsen, welche die tiefer ziehende Schlucht erfüllten. Ein dumpfes Stöhnen erschütterte seine Brust, und schwankend betrat er das Gewirr der Trümmer. Während er tiefer und tiefer stieg, haftete sein brennender Blick an jeder Scholle des Gesteins, an jeden Felsblock rührten seine zitternden Hände, als möchte er ihn heben und von der Stelle rücken, scheu und zögernd setzte er den Fuß, als fürchtete er die Erde zu drücken, als ware ihm jeder Schritt eine Qual und namenlose Marter. Ein steiler Abbruch sperrte ihm den Weg, in der Tiefe gewahrte er den See, mit regungslosem Wasser, doch von Schaum bedeckt, so weiß wie Milch; der erstarrte Schuttstrom lag vom Fuß der Felsen hinweg wie ein graues Eiland weit in die Flut hinausgebaut – als hätten die Dämonen des Gesteins dem stolzen Mädchenherzen, das sie zerdrückt im ersten Jauchzen seines Glückes, einen ewig dauernden Leichenhügel errichten wollen, gewaltiger, als noch je ein Hügel über dem Grab eines gefallenen Helden sich erhob.

Zitternd, mit vorgebeugtem Antlitz, stand der Einsame am Rand der Felsen und starrte in die Tiefe. Röchelnd ging sein Atem, in seinen Zügen wühlte der Schmerz, doch seine rotgeränderten, vom Staub entzündeten Augen hatten keine Thränen. „Ich hab’s berufen . . . jetzt liegen zwischen ihr und mir die Berg’!“ Er streckte die Arme ins Leere, und des Todes nicht achtend, der ihm drohte, begann er den Niederstieg. Wohin er trat, löste sich das Geröll und der graue Schnee. Immer tiefer stieg er und hatte fast den Grund erreicht, als eine Platte mit ihm ins Gleiten kam. Rasselnd trug ihn das steinerne Fahrzeug und landete ihn auf der Böschung des Schuttes. Mit heiserem Lachen richtete er sich auf, klomm über das Geröll empor und faßte das harte Gestein des Berges wie die Brust eines Feindes. „Mein alles hast Du genommen! Nur mich nicht! Warum denn? Oder wär’ ich für den Tod zu schlecht?“ Er wankte, und das Gesicht mit den blutig zerschundenen Händen bedeckend, sank er zu Boden.

Schon fiel das Frühlicht mit rosigem Schein über alle Höhen, als er mühsam sich erhob und hinausblickte über den weißen See. „Mutter! Mutter! Wie kehr’ ich Dir wieder heim! Was sag’ ich, wenn Dein Aug’ mich fragt ...?“

Der neuentstandenen Felswand folgend, begann er über das Schuttfeld niederzusteigen. Als er den Saum der grauen Halde erreichte, wandte er noch einmal die Blicke. Seine ganze Gewalt erzitterte, und ohne Thränen schluchzend, umklammerte er einen Steinblock und drückte das Antlitz an den kalten Fels, als hielte er umschlungen, was unter dem Schutt begraben lag.

Wie ein Träumender taumelte er davon. Ohne zu wissen, was er that, suchte er die Stelle, an welcher der Einbaum gelegen – sie war verändert, verschwunden mit dem Kahn. Doch über den See war eine Brücke gebaut; eine Felswand, welche tiefer im Kessel niedergebrochen, hatte ihren Trümmerhaufen bis zum andern Ufer geworfen und einen kleineren See vom Weitsee losgetrennt, wie eine Stunde des Unheils und der Not das Kind von der Brust der Mutter reißt. Ueber diese Brücke, welche noch keines Menschen Fuß betreten hatte, ging der Weg des Einsamen, dann am Ufer entlang und heimwärts über das Waldgehäng, welches bis zur Hohe eines Pfeilwurfs kahlgeschwemmt war von den aufgebäumten Fluten; die gebrochenen Stämme schwammen im See und streckten ihr Gezweig aus dem weißen Schaum.

Schon fiel das helle Licht des Morgens in den Kessel, doch die bunten Farben der herbstlichen Bäume wollten nicht erwachen. Wie versteinert war der Bergwald anzusehen unter dem grauen Kleid, mit welchem der dicke Staub alle Bäume und allen Grund überzogen hatte. Stumpf glitten die Blicke des einsamen Wanderers über die trüben Bilder seines Weges. Er sah in ferner Höhe das veränderte Gesicht des gebrochenen Berges und erkannte am jenseitigen Ufer auf allem Felsgehäng die Straßen, welche die Schuttströme genommen hatten, er sah den Falkenstein, doch über ihm kein Dach mehr, keinen Giebel und keine gefensterte Mauer – nur dünne Rauchsäulen, welche langsam in die Höhe wirbelten und in der Luft zerflossen. Er sah in der Ferne die zunächst liegenden Halden der Schönau, ohne Wald, ohne Hütten, einer grauen Wüste gleich. Er sah, wie auf dem See das schwimmende Bild der Trümmer sich verwandelte: zwischen die gebrochenen Fichten und Buchen mischten sich entwurzelte Fruchtbäume, Gebälk und Bohlen, die Reste eines Daches, zerschlagenes Hausgerät, eine Hundehütte und Immenkörbe, Gewandstücke und hölzernes Geschirr – und manchmal tauchte nah dem Ufer aus dem sacht schwankenden Schaum ein brauner Fleck hervor: die schwimmende Leiche eines Rindes.

Das alles sah er – und über seinen Weg auch, der zu Ende ging, lagen die Zeugen der Verwüstung ausgestreut: Gerätstücke, die sein Auge erkennen mußte, eine behauene Steinplatte, die dem Dach seiner Herdstube glich, und lange Fetzen eines Fischernetzes. Das alles sah er. Doch keine Frage erwachte in ihm, er suchte nach keiner Antwort. Seine betäubten Sinne schienen unempfänglich für neuen Schreck, sein gebrochenes Herz nicht fähig mehr eines neuen größeren Schmerzes. Als er die letzte Waldhöhe erreichte und die Lände mit dem verwüsteten Hügel zu seinen Füßen lag, griff er nur mit den Händen an Stirn und Augen und starrte umher, langsam das entstellte Gesicht nach allen Seiten wendend. Kein Hag und Lugaus mehr, kein Haus und Stall. Verschwunden der Immenstand, das Gärtlein und der Brunnenstock. Nur einzelne Balken und Fetzen des Haggeflechtes lagen zerstreut umher, zerschmettertes Hausgerät und Rinderleichen füllten alle Pfützen der Lände. Die Eichen waren gebrochen und ihre Kronen davongeschwemmt, nur ein einziges dünnes Bäumlein hatte dem Schwall der Fluten widerstanden, und auf dem kahl gewaschenen Hügel selbst war nur der Baumstrunk noch geblieben, der die steinerne Tischplatte getragen, und ein mit Schlamm bedeckter Rest des gemauerten Herdes. Doch auf der Stelle, an welcher das Hagthor gestanden, erhob sich noch das Kreuz, nur gelockert in seinem Halt, zerfetzt an allen Rändern und bis über das Querholz hinauf mit grauem Schlamm behangen.

Zwischen den Stümpfen der gebrochenen Eichen kauerte Heilwig, die Magd des Fischers. Als sie den Kommenden gewahrte, sprang sie auf und eilte ihm entgegen. Sie wollte ihren schreienden Jammer beginnen, doch der Anblick des Mannes lähmte ihre Zunge. Das Gewand verwüstet und mit Staub bedeckt, an Händen, Armen und Knien zerschunden und blutig, das Antlitz fahl und entstellt, die Augen fieberhaft brennend und von roten Ringen umzogen, eisgrau an Bart und Haaren – so stand er vor den entsetzten Blicken der Magd. War es ihr Herr? War es Sigenot, der Fischer? Oder ein gespenstiges Schreckbild, das sie zu ängstigen kam nach allem Greuel, den sie überstanden hatte? „Heilwig . . . wo ist die Mutter?“ Auch seine Stimme war verwandelt und klang ihr ins Ohr wie fremder Laut. „Wo ist die Mutter?“

Sie konnte nicht sprechen, nur deuten. Lange starrte er sie an, dann sank ihm das Kinn auf die Brust, und schwer atmend strich er mit den Händen über das Haar: „Mein Glück und meine Schwester, mein Haus und Hof ... und auch die Mutter noch!“

Zögernd schritt ihm die Magd voran und immer nach einigen Schritten wartete sie, ob er auch käme. Bei den Stümpfen der Eichen blieb sie stehen, die hundertjährigen Stämme waren über den Wurzeln abgedreht und Sigenots Baum an der letzten Kerbe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 480. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_480.jpg&oldid=- (Version vom 18.3.2021)