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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Er bettete die Tote im Schoß der Magd; dann stieg er zur Lände nieder, schleppte die zerstreuten Balken ans Ufer und flocht sie mit Ruten zu einem Floß; alle Reste seiner Netze sammelte er und füllte sie mit schweren Steinen.

Nun holte er die Mutter; als er sie auf die Arme gehoben hatte, haftete sein Blick an der Leiche des Knechtes. „Willst auch mit, Wicho? Freilich, so treu wie im Leben, so treu im Tod! Wart’ nur ein lützel, mein guter Wicho ... ich hol’ Dich gleich! Sollst von Deiner Herrin nicht lassen müssen.“ Sigenots Stimme brach, wankend stieg er mit seiner Last über den Hügel nieder und kehrte nach einer Weile zurück.

Zitternd fragte die Magd. „Herr? Soll ich mit Dir fahren?“

Er schüttelte den Kopf und trug den treuen Knecht zum Floß. Dem grauen Fährmann des Todes gleich, stand er auf dem schwankenden Fahrzeug und trieb es mit langer Stange durch den Trümmerwust, der den See bedeckte. Hinter der Insel sah ihn die Magd verschwinden. Sie stand am Ufer, erfüllt von kaltem Grauen und banger Sorge. Lange Zeit verging. Einmal hörte sie aus dem See heraus den verschwommenen Hall einer Stimme. War es ein Wehschrei? War es der letzte schluchzende Gruß, den der Sohn seiner Mutter bot? Dann wieder Schweigen – nur hinter dem Hügel das dumpfe Rauschen der Ache.

Lange harrte die Magd. In wachsender Sorge lief sie zur Stätte des verschwundenen Hauses empor, um weiteren Ausblick über den See zu finden. Endlich sah sie das entlastete Fahrzeug mit seinem Fährmann aus dem zerwühlten Schilf der Insel hervortauchen. Mit müden Stößen, tief gebeugt, trieb Sigenot die Balken dem Ufer zu. Als sie an die Lände stießen, löste sich das Band der Ruten, und von dem zerfallenden Fahrzeug schwang Sigenot mit der Stange sich ans Ufer. Schwer atmend richtete er sich auf und ließ die Stange fallen. Die kalkweißen Züge seines Gesichtes waren wie versteinert; langsam hob er die Arme, und seine Fäuste ballend, blickte er mit brennenden Augen über die öde Stätte der Verwüstung. Die bleichen Lippen rührten sich, als vermöchte er nur mühsam die Sprache zu finden ... dann quoll es aus seiner keuchenden Brust, Wort um Wort: „Jetzt hab’ ich ausgesorgt um Mutter und Schwester ... jetzt banget mich nimmer um Glück und Lieb’ ... jetzt steh’ ich allein für mich ... jetzt will ich raiten mit allen, die mir gelogen haben und die Treu’ gebrochen!“

Erschrocken wich die Magd vor ihm zurück, denn sie dachte des Augenblicks, in dem sie vor dem rollenden Wasser geflohen war und in verzweifelter Todesfurcht das Haus und seine Herrin treulos verlassen hatte.

Durch die trüben Pfützen, über alle Trümmer hinweg, schritt er dem Kreuz entgegen, während die Magd entfloh. Mit geballten Fäusten stand er vor dem grauen Balken und sprach ihn an, als hätte er einen Feind vor sich, der ihn hören, mit dem er rechten könnte in Worten. „Ich hab’ gehangen an Dir in Treu’ und Glauben! Mein Alles hab’ ich gestellt auf Deine Händ’. Derweil Dir alle feind gewesen, hab’ ich mein Knie gebeugt, hab’ meine Freiheit hingelegt vor Deine Füß’ und hab’ gerufen zu Dir: Mein guter Herre, Du mein Gott! ... Und Du? Und Du? Ich will nicht raiten mit Dir um meine Mutter: sie hat nicht gerufen, nicht gefragt nach Dir – wer Treu’ nicht giebt, kann Treu’ auch nimmer heischen. Ich darf nicht raiten um mein Glück: ich selber hab’s verrufen und geschmäht und hab’ das Wasser und die Berg’ geworfen zwischen meine Lieb’ und mich. Ich rait’ nicht um dieselbig’, die den Tod gefunden in der Lieb’ zu mir ...“ Der Klang seiner Stimme riß, und mühsam rang er nach Worten. „Sie hätt’ verdient, zu leben ... stark und mutig ist sie gewesen, rechtlich an Sinn und Herz, schön und lichtscheinig wie die Sonn’ am Tag, und treu ... treu ... so, wie Du untreu bist! Aber sie ist ihres Vaters Blut gewesen ... und Wazemanns Haus hat wider Dich gestanden. Haß wider Haß, das muß ich gelten lassen! Aber hörst nicht, Du ... es heißt auch. Treu’ um Treu’!“ Mit beiden Fäusten faßte er den Stamm des Kreuzes und rüttelte an dem Holz. „So sag’ mir, Du ... sag’ mir, wo die Schwester ist! Auf ihr hat nimmer Fehl und Schuld gelegen! Wie das Lamm vor dem Schäfer ist sie gestanden vor Dir und hat vertraut auf Deine Hut! Hat gehoffet auf Dich in gläubiger Treu’! Und Du? Und Du? Stark bist Du, stärker als tausend Männer in Wehr und Eisen! Kannst ja die Berg’ werfen und die tiefsten Wasser heben! – und das einzig’ schuldlose Leben hast nicht lösen mögen aus der Not! Wo ist denn Deine Treu’, von der mir derselbig’ im Lokiwald gelogen hat? So red’ doch: wo ist denn Deine Treu’? Hast gar kein Wort? So red’ doch, red' ... wir raiten miteinander! Und wenn Du meinst, daß fallen muß, was treu und schuldlos ist ... so sag’ ich Dir: es soll auch nimmer stehen, was ich untreu find’!“ Mit erhobenen Armen, mit der ganzen Wucht seines Körpers warf er sich gegen den Balken. In der Erde knirschten die Pflöcke, der Grund begann sich zu heben und langsam neigte sich das Kreuz. Fast lautlos fiel es auf den mit Schlamm bedeckten Hang des Hügels.

Unter tiefem Atemzug drückte Sigenot die zitternden Fäuste auf seine Brust, als wäre ihm wohler geworden, als hätte in seinem Herzen ein Tropfen Balsam den Schmerz der klaffenden Wunde gelindert. „Du liegst! Und jetzt zu Deinem Knecht im Lokiwald!“ Er wandte sich gegen die Ache. Doch wenige Schritte nur that er, dann stand er wie gelähmt, an Leib und Seele befallen von allen Schauern eines Schrecks, so jeden Nerv durchzuckend und so furchtbar, wie er ihn auch in der Stunde nicht empfunden hatte, als die Berge stürzten und den Tod durch die Lüfte warfen, als die Erde sich öffnete und alles Leben verschlang. Mit entgeisterten Augen sah er, was ihm erscheinen mußte wie ein Wunder, welches der starke Gott in diesem Augenblick gewirkt, um an dem Zweifler, der mit ihm gerechtet, auch seine Treue zu erweisen. Von der Ache her, zwischen dem verwüsteten Hügel und dem Wirrsal der Trümmer und gestürzten Bäume, kam langsamen Schrittes ein junges Paar gegangen, zwei stille blasse Menschenkinder, welche zu wandeln schienen wie im Traum. Wange an Wange gelehnt, hielten sie sich umschlungen, als müßte eines das andere stützen. Sigenots Hände griffen ins Leere. Er sah die Schwester und wandte die Augen von ihr – er sah das liegende Kreuz und streckte die Arme. Was er fühlte, erschütterte ihn an Herz und Gliedern wie ein Sturm den Baum. Stöhnend schlug er die Fäuste an seine Brust. „Ich ... ich ... ich selber bin der Untreu’!“ Und mit einem herzzerreißenden Schrei warf er sich über die Balken des Kreuzes ...

Hinter den Bergen der Reginalbe stieg die Sonne empor. Weithin über das verwüstete Thal, in welchem die sinkenden Bäche schon leiser rauschten, flutete der warme Glanz. In den mit Schlamm bedeckten und versumpften Gründen der Thäler weckte die steigende Wärme den Nebel wie nach schwerem Regen. Ueberall kräuselten sich die weißen Wölklein über den Wust der Trümmer empor, von der Sonne durchleuchtet – wie Bilder menschlicher Hoffnung, welche nach aller Nacht und Kälte des Lebens doch immer wieder die Heimstatt des Lichtes und der Wärme sucht.

Aus dem Thal der Ramsauer Ache, in welchem der breite Strom der Gewässer schon gesunken war und zu versiegen begann, dampften die zarten Nebel langsam über den Lokiwald. Zwischen den gebrochenen Bäumen suchte Eberwein einen Ausweg nach den Halden der Strub, das schlummernde Kind auf seinen Armen. Jeden Schritt mußte er mühsam erkämpfen. Die rastlose Sorge, mit welcher er das Gesichtchen des Kindes vor dem schlagenden Gezweig und den stachligen Aesten zu bewahren suchte, erfüllte ihn so sehr, daß die Bilder all seines anderen Kummers nur verschwommen in ihm auftauchten, obwohl die Zerstörung rings um seine Füße gebreitet lag. Tote Vögel sah er im Gezweige hängen, und an Wildleichen führte sein Weg vorüber. Unter einem mächtigen Baumstamm lag ein erschlagener Bär mit zerzaustem Fell und gebrochenen Zähnen im klaffenden Gebiß – der braune Honigfreund, welcher mitgeholfen an Bruder Wampos „Wunder“.

Der Wald und seine Trümmer gingen zu Ende, und eine menschliche Stimme schlug an Eberweins Ohr. Er schrie, begann zu laufen und erreichte das Thal der Ramsauer Ache. Der erste Blick, den er über die verschlammten Gehänge warf, weckte in ihm wieder alle Greuel des vergangenen Tages. Am Rande des tief gesunkenen Wassers näherten sich zwei Menschen, welche im Schlamm nach verlorenem Gut zu suchen schienen, ein Greis und ein Weib mit gelösten Haaren. Eberwein rief die beiden an, und kaum hatte das Weib ihn gewahrt, so kam es schon mit gellendem Freudenschrei und gestreckten Händen auf ihn zugerannt, riß ihm das Kind aus den Armen und eilte mit ihrem wiedergefundenen Kleinod davon – wie in wahnsinniger Angst, als wäre Eberwein nicht der Retter, sondern der Räuber des Kindes.

Der Alte blieb stehen, Zähren auf den runzligen Wangen, und blickte dem fliehenden Weibe nach. Eberwein erkannte ihn; es war ein Ramsauer Bauer, der mit dem alten Runot zur Windach

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 482. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_482.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)