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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


meinen Reichtum oft verflucht. Ein bettelarmer russischer Geigenspieler, der mit seinem Weibe elend und hungrig, aber leidlich zufrieden vier Treppen hoch in einer dürftigen Dachstube hauste, erregte meinen Neid durch seine Zufriedenheit. Ich konnte es nicht lassen, ihm soviel Geld zu geben, daß er sich ein anständiges Heim hätte mieten können. Acht Tage darauf traf ich ihn in liederlicher Gesellschaft im Bois de Boulogne. Ich hätte ihn niederschlagen mögen wie einen räudigen Hund!“

Hell schallend tönte wieder Gelächter aus dem Nebenraum. Ein eigentümliches Lächeln zog über des Russen Züge und ließ sie fast greisenhaft erscheinen.

„Wie viele Nächte habe ich so verbracht!“ Er sah mit großen weitgeöffneten Augen zu Hermann hinüber; der Ausdruck in seinem Gesicht ward weich und träumerisch. „Und dann lernte ich sie kennen, Ihre Schwägerin. Ich kann es nicht ganz in Worten wiedergeben, was damals in mir emporwuchs. Sie hat mich wie ein Kind erzogen, in Scherz und Ernst; ich begann wieder Achtung vor mir zu fühlen, zu arbeiten, zu leben wie ein vernünftiger Mensch. Ich hatte den Glauben an die Frau, an das Gute und Edle wiedergefunden!“

Es lag etwas in diesen Worten, was Hermann zu Herzen ging, was sympathische Schwingungen in seinem Inneren weckte.

„Und Sie lieben meine Schwägerin?“

Der Russe hob abwehrend die Hand.

„Nicht das Wort! Nein! Es ist so oft etwas damit bezeichnet worden, was gemein ist. Nein, lassen Sie! Ich habe nie daran gedacht, die Hand nach ihr auszustrecken. Sie ist so rein, daß ein Engel vor ihr sich beugen müßte.“

Was sollte Hermann darauf erwidern? Er brachte es nicht fertig, diesem idealen Glauben auch nur ein Atom seines Daseins zu rauben. Und doch, während er den Prinzen mit einem forschenden Blick streifte, stieg in ihm ein unerklärliches Angstgefühl auf. Hinter all dieser Schwärmerei, hinter aller Selbstlosigkeit der Liebe schien ihm bei dem Russen ein Stück asiatischer Wildheit zu lauern, die einmal durch die mühsam gebauten Wände sich verheerend Bahn brechen würde. Ob Lore dann die Kraft hätte, ihr zu widerstehen?

Sie saßen sich eine Weile stumm gegenüber, in das aufgetragene Souper vertieft. Als Hermann, um dem Kellner einen Auftrag nachzurufen, einen Augenblick auf den Flur hinaustrat, von dem aus die Thüren zu den kleinen Zimmern führten, stieß er mit einem Herrn zusammen.

„Verzeihung! – Was? Du hier, Bruno?“

„Aha, alter Duckmäuser! In Gesellschaft, he?“

„Nicht wie Du glaubst, Bruno! Was machst Du denn noch hier? Ich war heute abend bei Deiner Frau, sie erwartete Dich vergeblich.“

„So, so.“ Ein Schatten flog über Brunos fröhliches, leichtsinniges Gesicht. „Weiß der Himmel! Ich bin nach dem Essen so hängen geblieben; wir saßen ewig lange bei Tisch, und nachher ließen mich die Freunde nicht los. Alles Leute, die ich von früher her kenne. Uebrigens, sitzt Du denn ganz allein hier hinter der Flasche?“

„Nein. Ich bin hier mit Eurem sogenannten Prinzen Sissi, den andern Namen kann ich nicht aussprechen.“

„Was? Sissi hier?“ rief Bruno. „Haha, Lores Schatten! Menschenkind, was fängst Du mit dem an?“

„Gerade die zweite Flasche Château la Rose!“

Bruno riß die Thüre auf. „Prinz Sissi, bei Gott! Ihr Pariser Gesicht hat mir gerade noch gefehlt. Château la Rose – auch schwer genug für Sie, Prinz! Aber kommen Sie, hier im Nebenzimmer ist lustige Gesellschaft. Die andern haben einige Damen mitgebracht. Vorwärts, alter Nihilist und Weltverächter! Schön ist des Lebens grüner Baum!“

Der Russe lachte über das ganze Gesicht; er bewunderte ohne Frage diesen Weßnitz mit der unverwüstlichen Lustigkeit.

„Nun wohl, ich habe nichts dagegen, obgleich diese Damen –“

„Machen Sie doch keine Dummheiten! Wenn ich als Ehemann dabei bin, können Sie erst recht mitkommen!“

„Ich werde nach Hause gehen,“ sagte Hermann etwas schwerfällig.

„Sei kein Thor! Komm mit, Menne!“ rief Bruno ihm zu mit dem alten Namen aus der Kinderzeit. „So jung kommen wir nicht wieder zusammen.“

Aber Hermann wollte nichts davon hören. Er sei müde, erwiderte er, und so führte Bruno, den Prinzen unter den Arm fassend, diesen allein in das andere Zimmer, während Hermann sich auf den Heimweg machte.

Er war nachdenklich geworden. Seine Gedanken wandten sich den Erlebnissen des verflossenen Tages zu. Er gedachte der Begegnung mit jener Edda bei seiner Schwägerin. Sie hatte ihm nicht mißfallen. Diese eigentümlich ernsten klaren Augen in dem feinen durchgeistigten Gesicht! Und dann ihr Wesen! Dieses Schroffe, Abstoßende und dabei diese offene Ehrlichkeit!

Und Bruno, was war der für ein Mensch? War er überhaupt ein Charakter? Nein – nur ein Gemisch von körperlichen Vorzügen mit allen möglichen liebenswürdigen Eigenschaften und Angewohnheiten. Ob solche Naturen wohl glücklich zu nennen waren, die unbedacht, fast unbewußt, nur ihren Trieben folgend, bis hart an das Schlechte sich fortreißen ließen? Und wo lag der Weg für den, der wirklich ein ganzer Mensch sein wollte? War auch das Glück, nicht nur die Ruhe des Gewissens da zu finden, wo einer ehrenhaft nach großen Zielen strebte?

Derjenige, mit dem sich Hermann, die Linden hinabgehend, in Gedanken beschäftigte, schritt mehrere Stunden später langsam der Tiergartenstraße zu. Er freute sich, daß die Luft ihm so rein und kalt entgegen wehte, durstig sog er den frischen Windhauch ein, und er beschloß, noch ein wenig spazieren zu gehen, um die Wirkung des genossenen Weins und aus den Kleidern den Cigarettengeruch los zu werden.

Er schlenderte vor seinem Hause auf und ab. Aus dem einen Eckfenster glänzte ein matter Lichtschimmer still, fast melancholisch in die Nacht hinaus, ein schwaches rötliches Licht, das von der kleinen Ampel im Schlafgemach herrührte. Jetzt ruhte Lore wohl schon lange, den rechten Arm nach ihrer Gewohnheit unter den rotblonden Haaren. Wie oft hatte ihn, wenn er in der Nacht nach Hanse kam, dieser Anblick entzückt! So schön wie sie war doch keine!

Der Wunsch stieg in ihm auf, etwas Liebes für sie zu thun, gerade heute, etwas Besonderes. Trotz der späten Stunde eilte er zum nächsten Droschkenplatz und ließ sich nach der Friedrichstraße fahren. Dort standen wie immer Blumenverkäufer, halb erfroren und erstarrt. Er kaufte einigen aus den flachen Körben den ganzen Vorrat ab. Glücklich setzte er sich dann wieder in die Droschke zweiter Klasse, die er ohne lange Wahl genommen hatte, und ordnete die Sträußcheu zu einem Bouquet, sich über seinen genialen Einfall freuend, aus den zerrissenen Polstern des Sitzkissens einen Faden herausgezogen zu haben, mit dem er die einzelnen Teile seines Straußes zusammenband. Lore hatte ja die Blumen so gern! Nur mit diesem Gedanken beschäftigt, mit den Veilchen und Schneeglöckchen in der Hand, eilte er die Treppe hinauf, warf rasch Hut und Mantel ab und schlich behutsam an Lores Bett.

Sie schlief nicht, hatte nicht einschlafen können, und ihre braunen Augen schauten weitgeöffnet zu ihm auf. Sie lächelte dazu. Das war nicht der Blick einer Gattin, die bereit ist, mit einer Flut von Vorwürfen zu beginnen; davor schützte sie ihr richtiges Gefühl diesem Mann gegenüber.

„Guten Abend, Bruno!“

„Guten Abend – oder besser Guten Morgen, Lore! Da, da!“ Er drückte ihr die kalten frischen Blumen in die Hand.

Ein erstauntes: „Ach, wo hast Du denn die her?“ war die Antwort. Tief atmend steckte sie das rosige Gesicht in die duftenden Blüten. „Wie herrlich!“

Sie schlug die Augen voll zu ihm auf, das ganze Gesicht von einem frohen Gefühl erhellt. Er hatte doch an sie gedacht in seiner Abwesenheit! Weit breitete sie die Arme aus und zog seinen Kopf zu sich herab, ihm die Lippen entgegendrängend. Da glänzte etwas Feines, Lichtes auf seinem Rock.

Ihre Augen blieben darauf haften, ihre Lippen erwiderten nicht den Druck der seinigen. Ein Frauenhaar, das auf dem Kragen seines Frackes lag, ein braunes Frauenhaar! Ihre Arme glitten zurück, ihr Mund, eben noch lächelnd und ihm entgegenstrebend, nahm den Ausdruck eisiger Kälte an. Jäh pochte ihr das Blut in den Schläfen.

„Ja, ich danke Dir, es war sehr – freundlich!“

„Was ist, Lore?“ fragte er, über die plötzliche Veränderung in ihren Mienen erschreckt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 502. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_502.jpg&oldid=- (Version vom 28.7.2021)