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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Locken umrahmten Kopf auf die Seite und blinzelte zu seiner Tochter hinüber – „und wenn sie mich so ansieht, kann ich nicht Nein sagen.“

Sind denn die Männer alle verliebt in sie? dachte Edda. „Sie hat mich natürlich auch eingeladen,“ sagte sie laut und trat an einen Nebentisch, um das Abendbrot zu bereiten.

„Was? Dich?“ fuhr der Alte auf, sich mit einem Ruck nach ihr umwendend.

„Gewiß! Wenn mein Vater zu einem Ball geht, warum denn nicht ich mit meinen fünfundzwanzig Jahren? Uebrigens habe ich noch nicht zugesagt, obgleich es mich reizt, mit Dir zur Abwechslung auch einmal auf einem Ball zu erscheinen. Schließlich, wenn wir beide hingehen, befinden wir uns sicher in guter Gesellschaft.“

Der Alte drohte ihr mit dem Finger. „Edda, es giebt etwas, das fast so schlimm ist wie die Dummheit – geistiger Hochmut!“

„Du hast recht, Vater. Es hat schließlich ein jeder das Recht, sich seinen Anlagen und Neigungen gemäß auszuleben, so lange diese nicht gemeinschädlich sind, und das ist das Tanzen ja doch eigentlich nicht. Uebrigens, wie geht es mit der schwarzen Lise? Ist der Mann hier gewesen?“

„Das hätte ich fast vergessen! Natürlich, er war hier. Fieber! Das schleppt sich ja in solchen Häusern leicht weiter! Ich habe gesagt, Du würdest heute abend noch einmal vorsprechen.“

„Wenn nur das Kind durchkommt!“

„Es wäre besser, der Knabe folgte der Mutter ins Grab.“

„Denkst Du das wirklich, Vater? Es ist ein gesundes Kind, wer weiß, welche Zukunft in einem solchen Wesen steckt!“

„Ja, welche Zukunft!“ wiederholte er. „In dieser Umgebung, ohne Mutter – der Vater immer auswärts bei der Arbeit ... ein zukünftiger ‚Proletarier‘, weiter nichts! Einer von denen, die das ganze Haus umreißen wollen, weil ihnen gerade das Zimmer, in dem sie leben müssen, nicht groß genug ist.“

Edda antwortete nicht, sondern deutete schweigend auf den Theetisch. Stumm verzehrten beide das einfache Abendbrot, jedes mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Vater und Tochter lebten ganz ohne Dienstboten, eine Aufwartefrau besorgte die gröberen häuslichen Arbeiten in der bescheidenen Wohnung. Es war ein schweigendes Uebereinkommen zwischen ihnen, keinen fremden Menschen dauernd um sich zu dulden.

Nach kurzer Zeit erhob sich Edda, nahm Hut und Mantel und verließ ohne ein Wort das Zimmer. Ein warmer Blick ihres Vaters folgte ihr; er wußte, wohin ihr Weg sie führte.

Edda schritt draußen hastig vorwärts durch die engen Straßen, vorbei an den hochragenden schwärzlichen Häusern dieses Teils von Berlin; aus den Kellerwohnungen stieg der Brodem überheizter, mit Menschen überfüllter Kneipen durch die geöffneten Fenster zum Trottoir herauf. Gemeine Flüche, Johlen, hier und da das Kreischen von Weiberstimmen. Edda hüllte sich fester in ihren Mantel und einem Betrunkenen ausweichend, eilte sie schneller dahin. In einem hochgiebeligen alten Hause stieg sie drei steile enge Treppen hinauf; ein kurzes Pochen, und sie betrat ein kleines armseliges Dachstübchen. Mit höflichem Gruß kam ihr ein junger Mann entgegen, sie reichte ihm die schmale Rechte, die er vorsichtig, zaghaft in seine schwielige Faust nahm. Es war ein hübscher Bursche von einigen zwanzig Jahren. Auf seinem offenen Gesicht lagen Trauer und Angst.

„Sie hält’s nicht lange mehr aus,“ sagte er leise und führte den Besuch zu einem Nebenraum.

Ein einziges Bett; trotz des kleinen Ofens eine eisige Kälte, die sich unablässig durch die Fugen der dünnen Bretter unter den Dachziegeln hindurchdrängte.

Edda beugte sich beobachtend über das junge Weib, das die Augen aufschlug beim Schein der von ihrem Mann über sie gehaltenen Lampe – zwei große fieberbrennende Augen, die irr, verständnislos in den Lichtschein starrten. Plötzlich flackerte ein Strahl des Bewußtseins über das blasse hübsche Gesicht, über die todesmatten Züge, ein unsagbar rührender Zug von Dankbarkeit. Sie tastete mit heißen zitternden Fingern nach Eddas Hand und bewegte die Lippen, ohne einen Ton herauszubringen.

„Das Kind!“ sagte Edda zu dem mit gesenkten Kopf neben ihr stehenden Mann.

Behutsam beugte sich dieser zu einem Häufliein Kissen in der Nähe des Ofens hinab und legte dann das [1]winzige Wesen in Eddas Arme. Ein himmlischer Glanz der Mutterfreude huschte über der Sterbenden Antlitz, als Edda das schlafende Geschöpf ihr entgegenhielt.

„Mein Kind!“ stammelte sie fast unhörbar; dann streckte sie sich langsam aus, mit röchelndem Atem. Aber die Augen mit dem überirdischen Blick ließen nicht von dem Kinde.

„Ist es zu Ende?“ fragte der Mann.

„Bald, Lahrsen.“

Er beugte sich über die Sterbende, schwere Thränen rollten über seine Wangen hinab, während die Augen seiner Frau eine verzweiflungsvolle stumme Sprache redeten. Ein letztes Atemholen, ein krampfhaftes Zittern der Kranken. Langsam legte Edda die Hand auf die Augen der Toten und bettete dann das leise wimmernde Kind wieder auf sein armseliges Lager.

Den Kopf auf das Fußende des Bettes gelehnt, stöhnte der Mann wild auf. Eine Weile ließ sie ihn gewähren, auch in ihren Augen hingen Thränen, der sonst so strenge Ernst ihrer Züge war von einem tiefen Mitleid gemildert. Dann klopfte sie dem Fassungslosen leise auf die Schulter.

„Stehen Sie auf, Lahrsen – fassen Sie Mut! Ich werde morgen früh wiederkommen und nach dem Kind sehen, ich kenne eine ordentliche Frau, die es gegen Kostgeld annimmt. Hat der Kleine getrunken?“

„Ja, vor einer Stunde habe ich ihm Milch gegeben,“ antwortete er, drückte die Mütze auf den Kopf und ging mit Edda zur Thür hinaus. „Der Junge wird sich doch nicht fürchten?“ sagte er.

Edda lächelte schwermütig. „Das lernt er erst später! Aber ich kann allein nach Hause gehen.“

„Nein, das geht nicht bei den vielen wüsten Gesellen auf der Straße, ich ließ die Lise um diese Zeit auch nie allein ausgehen. Die Lise! O Gott! Ist’s moglich? Sie ist tot?“ Und aufs neue fing er an zu stöhnen und zu schluchzen.

Edda ließ ihn gewähren, beschleunigte aber ihren Schritt, um ihren Begleiter rasch wieder nach Hause schicken zu können. Nach etwa zehn Minuten hatte sie ihre Wohnung erreicht. „Da sind wir ja schon, Lahrsen! Schönen Dank, und kommen Sie morgen mittag nach der Arbeit zu meinem Vater; dann wollen wir sehen, was sich weiter thun läßt. Kopf hoch, Mann! Einer, der das Jahr siebzig mitgemacht hat, läßt sich nicht gleich unterkriegen. Bleiben Sie brav, das ist die Hauptsache – und nicht übers Jahr wieder eine neue Liebschaft!“

„Ich werd’ mich hüten! Wenn Sie sich man nicht erkältet haben bei dem Ostwind, Fräulein! Und dann danke ich recht schön! Es war gut, daß Sie noch einmal gekommen sind, wenn Sie auch nicht mehr helfen konnten. Ihnen muß es noch einmal gut gehen im Leben, und wegen des Geldes – ich habe jetzt viel in der Apotheke zu bezahlen gehabt. Ich weiß ja, Ihr Vater will nichts davon hören, aber Sie müssen doch auch leben.“

„Bezahlen Sie, wenn es paßt; jedesmal, wenn der Lohn kommt, eine Kleinigkeit.“

„Schön, wenn Sie erlauben.“

Er zog ehrerbietig die Mütze und blieb an der Thüre stehen, bis sie aufgeschlossen hatte und verschwunden war.

Eddas Vater war noch nicht zur Ruhe gegangen und schaute sie erwartungsvoll an, als sie eintrat.

„Es ist vorbei?“ fragte er mit einem traurigen Blick.

Edda nickte leise mit dem Kopfe, sie sah müde und abgespannt aus, als sie jetzt dem Vater die Hand reichte. Er kannte diese Art, wenn sie nicht sprechen wollte oder konnte, und ohne weiter mit Erkundigungen in sie zu dringen, sagte er ihr Gute Nacht.

Langsam streifte Edda in ihrem Schlafgemach die Überkleider ab, ließ sich müde auf einen Stuhl nieder und löste mit kurzem Griff die schweren Flechten. Bis zu den Knien hinab rollte die Pracht des schwarzen Haares, ein Erbteil ihrer Mutter, einer Russin. Unthätig saß sie da, düsteren Blicks in das leise auf und nieder flackernde Licht auf dem Tische starrend. Sie konnte jene brechenden Totenaugen nicht vergessen, nicht jenen Ausdruck, mit dem die Sterbende das Kind noch angesehen, dessen Dasein sie mit dem eigenen Leben erkaufte. Edda mußte der eigenen Mutter gedenken, die auch so früh gestorben war und sie als ebenso kleinen hilflosen Säugling zurückgelassen hatte. Der Vater hatte dann ausschließlich die Erziehung der Tochter geleitet und sie in allem gehalten, als ob sie ein Sohn wäre. Er lebte einsam, der Welt

  1. WS: Zwei fehlende Worte aus dem Zusammenhang ergänzt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 519. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_519.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2023)