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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

fern, nur seinen Studien und seinem Beruf, und so wuchs ihm in der Tochter ein Freund, ein Kamerad, ein Assistent heran; sie ward groß unter all dem Elend, in dessen Nähe des Vaters Beruf sie brachte, unter all den idealen Anschauungen dieses Armendoktors, der zu sagen pflegte: „Ich kann keiner eingebildeten Kranken den Puls fühlen und ein Rezept schreiben, meine Kunst steht mir zu hoch, als daß ich mich eines Hustens wegen rufen und gut bezahlen ließe!“ Gleich seinen Kranken sah die Tochter zu ihm auf wie zu einem höheren Wesen, denn überall brach durch die oft rauhe Außenseite das innere warme Feuer der Menschenliebe hindurch, alle anderen Rücksichten verzehrend. So hatte Edda gelernt, in das Leben zu blicken, war bekannt geworden mit den Untiefen der Menschenseele, mit Elend und Jammer und hatte sich doch den vollen Ausblick bewahrt auf das höchste Ziel alles menschlichen Strebens.

In Eddas Zimmer befand sich kein Schmuckgegenstand, nichts von den anmutigen Kleinigkeiten, mit denen andere Mädchen ihre Umgebung auszuschmücken pflegen. Nur ihr gegenüber an der Wand standen auf Konsolen zwei herrliche Marmorbüsten des Zeus und der Juno, ein Geschenk ihres Vaters, das er ihr, die für die alte griechische Welt schwärmte, von dem Honorar für eines seiner medizinischen Werke gekauft hatte. Wie an jedem Abend ruhten jetzt ihre Augen sinnend auf den beiden Marmorbildern. Der weltentlegene Ernst des Zeuskopfes fesselte sie, sie starrte und starrte hinüber, bis die Umrisse der Züge sich ihr verwirrten, es war ihr, als zöge in den starren Marmor warmes Leben, als modle eine innere Kraft an diesen steinernen Formen, und lebendig erschien plötzlich vor ihrer Phantasie das Antlitz Hermanns von Weßnitz. Langsam strich sie mit der Rechten über die Stirn, um das Bild zu verwischen, aber sie konnte die Vorstellung nicht loswerden.

„Zu dumm!“ sagte sie mit einem halben Lachen, „daß ich gerade an ihn denken muß, aber er hat wirklich eine Aehnlichkeit in den Linien von Nase und Stirn.“

Dann fiel ihr Lore ein und deren Bitte, in jener Gesellschaft, in der getanzt werden sollte, und also in einer von diesen lächerlichen ungesunden Toiletten zu erscheinen. Sie lachte jetzt wirklich laut auf, und doch flog ihr der Gedanke durch den Kopf: wie würde ich aussehen? Der Wunsch stieg in ihr auf, sich einmal mit anderen in Vergleich zu stellen und den Eindruck, den sie machte, zu beobachten. Die Männer, mit denen sie bisher verkehrte, hatten nie gezeigt, daß sie in ihr die Frau sahen; sie war ihnen immer nur die Aerztin gewesen, und sie hatte selbst auch nie etwas anderes sein wollen. Nun überkam sie auf einmal ein ganz fremdes Gefühl, die Frage stieg in ihr empor: wie sehe ich aus?

Sie richtete sich auf, widerstrebend wie ein Mensch, der unter dem Bann einer ihm selbst unbekannten rätselhaften Macht steht. Sich vorbeugend, starrte sie in den Spiegel auf ihr eigenes Gesicht, mit den Augen jede Linie, jede Form musternd, bis es ihr vor den Augen zu flimmern begann. Sie schauderte zusammen. Eine unbestimmte Furcht vor etwas Fremdem, Neuem, Unheimlichem, das ihrer Seele die Ruhe rauben würde, durchzuckte sie. Nein, nein, nicht weiter so denken! Rasch löschte sie das Licht. Nur nicht mehr sehen!

Sie ging zu Bett, aber schlaflos wälzte sie sich in den Kissen. Im Schubfach des Betttisches stand eine Schachtel mit Schlafpulvern, die sie zuweilen benutzte, wenn die überreizten Nerven nicht zur Ruhe kommen wollten. Sie nahm die doppelte Dosis, nur um sicher Schlaf zu finden, und bald legte es sich wie Blei auf ihre Augenlider. In wirren Träumen verbrachte sie die Nacht.

*  *  *

Bruno von Weßnitz verlebte die unangenehme Viertelstunde, die für den Hausherrn dem Beginn einer großen Gesellschaft im eigenen Hause vorauszugehen pflegt. Er wußte nicht, was er thun sollte. Es war alles fertig; sogar die Stühle im Salon, welche die Dienerschaft in altfränkischem Ordnungstrieb gleichmäßig um einen Tisch gestellt hatte, waren von ihm in geschmackvolle Unordnung gebracht worden. Er wünschte endlich die Gäste herbei. Den ganzen Tag hatte man Möbel und Teppiche hin und hergetragen; Lore war beim Mittagessen nicht einmal in Toilette, sondern noch im Morgenanzug erschienen. Er selbst hatte wacker mitgeholfen und that sich etwas zu gute auf die Errichtung eines kleinen Wintergartens im Boudoir seiner Frau. Jetzt saß er in seinem Zimmer zwischen den programmmäßig aufgestellten Spieltischen für ältere Herren und rauchte eine Cigarette. Die Fenster waren geöffnet, weil der Diener das Zimmer überheizt hatte.

Selbst in diesem Augenblick schlechter Stimmung und des Alleinseins lehnte der Hausherr in eleganter Stellung im Stuhl. „Man könnte ihn jede Sekunde photographieren,“ hatte Edda Helm einmal von ihm gesagt, in ihrer kurzen Art, ihr Urteil auszusprechen. Brunos Augen ruhten auf einem Spiel französischer Karten, aus dessen Umhüllung das Herz–As hervorleuchtete. Je länger er hinsah, desto unangenehmer wurde ihm der Anblick. Er drehte rasch das Spiel um und deckte ein anderes darauf. Wieder das Herz–As oben! Lächerlich! Er hatte heute nachmittag einen Ueberschlag über Einnahmen und Ausgaben zu machen versucht und war zu einem sehr unbehaglichen Ergebnis gekommen. Zu dumm – hier im „philisterhaften“ Berlin wollten ihm die Karten nicht mehr wohl. Es wurde vorsichtiger gespielt als in den Pariser Klubs und es gab immer Leute, die vernünftig waren und ein Ende finden konnten, selbst wenn sie verloren hatten.

Er war kein Spieler aus Leidenschaft. Zuerst hatte er sich in Paris gelegentlich zu einer Partie Makao bereden lassen, weil er aus gesellschaftlichen Rücksichten nicht gut ausweichen konnte. Die Karten waren ihm mit erstaunlicher Beharrlichkeit hold gewesen, und so wiederholte er das Spiel öfter und öfter. Bald verlor er wie alle Spieler die Achtung vor dem Wert des Geldes, seine Ansprüche und Ausgaben wuchsen. Er spielte und spielte, verlor, gewann aber immer wieder mehr und hielt sich auf der Höhe. Nicht als nervenerregende Unterhaltung betrachtete er das „Hazard“, es war ihm geradezu zum Geschäft geworden, mit dem er seine Einnahmen regelte. Hatte er einen glücklichen Tag gehabt, so vergaß er oft wochenlang dies Laster, um dann durch einige hohe Rechnungen wieder daran erinnert zu werden. Aber solche Ruhepausen waren in letzter Zeit immer seltener geworden. Lore war als Hausfrau unpraktisch, weil er mit seiner leichtsinnigen Freigebigkeit und Sorglosigkeit sie nie gezwungen hatte, sich an eine fest bemessene Einnahme zu halten, und der Haushalt kostete viel, da Bruno nicht den Stolz besaß, auch verwöhnte Gäste einfach bei sich zu empfangen. Mühsam bestritt er eine Ausgabe nach der anderen, und nur sein beispielloser Leichtsinn ließ ihn die volle Heiterkeit seines Wesens bewahren, wenn auch hier und da, wie eben jetzt, allerlei beklemmende Gedanken in ihm aufstiegen. Dieses dumme Herz–As! Gerade diese Karte hatte ihn gestern eine bedeutende Summe gekostet. Er hatte das Gefühl, als lächle dies große rote Auge schadenfroh zu ihm herüber.

Da kam etwas ins Zimmer gerauscht – ein Lachen, ausgelassen, kindisch, toll, ertönte hinter ihm, und Lore in voller Toilette warf sich wie ein übermütiges Kind in einen Sessel und lachte, lachte immerfort. Etwas übellaunig wollte er fragen, was ihr einfiele, aber ihr Lachen war so herzerfrischend, ansteckend, daß er selbst nicht widerstehen konnte und in heller Freude den hübschen Anblick seiner Frau genoß.

„Wie reizend Du aussiehst, Lore!“ sagte er, einen Kuß auf ihre Lippen drückend. „Was ist denn vorgefallen, daß Du so aus dem Häuschen bist?“

Endlich faßte sie sich so weit, daß es ihr gelang, zu antworten: „Ich sterbe, sterbe wirklich vor Lachen. Seit einer Stunde bemühe ich mich mit Hilfe meiner Zofe, Edda ballmäßig vorzubereiten. Wir mußten sie wie ein Kind anziehen. Schließlich war alles fertig, aber wie ich sie siegesfreudig vor meinen Spiegel stelle, wird sie so rot wie eine Pfingstrose und weigert sich, dekolletiert in Gesellschaft zu erscheinen. Denke Dir diesen Ausbund von Prüderie! Uebrigens sieht sie reizend aus. Sie sitzt wütend in meinem Zimmer auf einem Stuhl und verlangt, daß ich ihr aus ihrer Toilette, die im Rücken zugeschnürt ist, wieder heraushelfe. Dazu hat sie Thränen in den Augen. Ich bin ratlos, sie wird geschwollene Augenlider und eine rote Nase bekommen und meine ganze, lange vorbereitete Wirkung geht verloren. Du mußt mir helfen, Bruno!“

Und Lore warf sich wieder zurück und lachte weiter. „Ist es nicht wirklich komisch? Ein Mädchen von fünfundzwanzig Jahren, Doktorin und dabei so zimperlich! Das ist wert, zu einem Lustspiel verarbeitet zu werden.“

„Ich will Dir helfen, Lore! Wir gehen zusammen zu ihr – sie wird schon Vernunft annehmen.“

„Gut, gut, komm!“

Sie eilte ihm voraus, riß die Thür ihres Garderobezimmers

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 520. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_520.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2023)