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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Katteeker ließ es sich schmecken, und während ihre kleinen weißen Zähne herzhaft in den Kuchen bissen, trotz ihres großen patriotischen Kummers, sagte die Tante nachdenklich: „Ich höre, daß wir nächster Tage schon Einquartierung bekommen, Mieze. Da wirst Du wohl Dein Zimmer hergeben und so lange zu mir übersiedeln müssen.“

Marie schlug die Hände zusammen. „Ich soll ausquartiert werden? Tante, das ist doch nicht Dein Ernst! Was soll denn aus dem Kanarienvogel werden, aus dem Buchfinken, aus den Fröschen eins, zwei und drei, aus ...“

Frau Genthin wehrte mit beiden Händen ab. „Um Gotteswillen, Mädel, hör’ auf mit Deinem Unsinn!“

Aber Marie schenkte ihr nichts.

„Aus dem Geiste des seligen Kardinals, den Doktor Karstens mir mitbringen wollte und der unterwegs starb, aus den ausgestopften Vögeln und aus dem Altare meines Herzens?“ rief sie kläglich. Besagter „Altar“ war ein kleines braunes Kästchen mit allerlei verblaßtem Krimskrams, mit Stammbuchblättern, welken Blumen und dergleichen, womit das Katteeker einen großen Kultus trieb.

Tante Hedwig lachte. „Den Altar könntest Du vielleicht so lange an den Nagel hängen, das würde ich sogar sehr ratsam finden,“ bemerkte sie, scheinbar harmlos auf den Scherz eingehend, aber doch mit einer gewissen Betonung.

Katteeker warf kaum merklich den Kopf zurück. „O, das hat keine Gefahr,“ sagte sie hastig. „Die Preußen ...“

Sie unterbrach sich, denn wieder verdunkelte ein Schatten die klare Stirn der jungen Frau.

„Verzeih’, liebste Tante! Ich will Dir ja auch furchtbar fleißig helfen, aus lauter Liebe zu Dir!“

Und mit Eifer machten sich Tante und Nichte an das Sträußchenbinden. Ihre Gedanken mochten wohl verschiedene Wege wandern – tiefe Stille herrschte, nur ab und zu warf Marie einen forschenden Blick auf das heiße Antlitz der jungen Frau. Plötzlich sprang sie auf und lief nach ihrem Nähkorb.

„Ich hab’ noch ein Endchen blau–rot–weißen Bandes,“ rief sie und schon befestigte sie es an einem besonders hübsch geratenen Sträußchen. „Tante Hedwig, wenn ich dieses Epheusträußchen jemals wiedersehe, werde ich es für einen Wink des Schicksals halten!“

Wie eine Seherin stand sie vor ihrer Tante, das Sträußchen hoch in der Hand haltend.

„Nimm einstweilen den Wink von Deiner Tante, die Sträußchen nicht zu groß zu machen, sonst reichen wir nicht,“ lautete die trockene Antwort.

Spät am Abend, als alle Vorbereitungen getroffen und mit Mariens Hilfe der letzte Nagel in die „Preußenfahne“ eingeschlagen war, ging Frau Genthin noch einmal mit sich zu Rate, in tiefem Sinnen saß sie allein in ihrem Zimmer, die Hände im Schoß gefaltet. Leise lösten sich ihr die Worte von den Lippen. „Lieber Gott, es ist ja sicherlich nichts Böses dabei! Ich freue mich so grenzenlos, wieder preußische Soldaten zu sehen, Landsleute, die heimatliche Musik wieder zu hören, die ich fast elf lange lange Jahre nicht mehr gehört! Und wenn Johannes es wüßte, er würde nicht böse sein, würde es begreifen, daß ich meine Landsleute begrüßen muß, hier im fremden Lande, wo sie nichts finden als verschlossene Thüren und Haß und Mißtrauen. Nein, nein, es kann nichts Unrechtes sein!“ Entschlossen erhob sie sich und begab sich mit ruhigem Gewissen und erwartungsvollem Herzen zur Ruhe. Aber schlafen konnte sie nicht, die Freude hielt sie wach. –

Der wichtige Tag brach an.

Rauhreif auf allen Hecken und Bäumen, welke Blätter und dürre Zweige davon umsponnen, daß sie leuchteten und flimmerten wie eitel Silber. Darüber spannte sich kalt und klar der nordische Winterhimmel, so tiefblau, so dunkel, wie die Maler ihn über der Adria zu malen pflegen. Gleich einem Dornröschenschloß in verzauberter Pracht stand das epheuumrankte Haus da – einsam, fast das letzte im ganzen Ort, jedes Epheublatt, jedes Zweiglein war versilbert und glänzte in der klaren Wintersonne. Auf dem schmalen steinernen Balkon zwischen dem bereiften Blattwerk lugten ein paar rosige Kindergesichter hervor und schauten erwartungsvoll die lange Straße hinunter. Frau Genthin stand in ihrem schwarzen Seidenkleide neben den kleinen Mädchen, eine schlanke vornehme Erscheinung, und wies sie an, wie sie die Sträußchen werfen sollten, wenn die Truppen vorüberziehen würden.

An der Balkonthür lehnte Marie als müßige Zuschauerin, die Arme in die Seiten gestemmt, und betrachtete sich die Scene. In den schwarzen Augen blitzte der Schalk auf.

„Tante Hedwig, wenn Onkel Genthin dies doch bloß ’mal mit anschauen kbnnte!“ rief sie lebhaft. „Er schilt vielleicht gerade jetzt in Frankfurt auf die Preußen, die uns damals so schändlich im Stich gelassen haben. Was der sich wohl verwundern würde, wenn er Dich und die kleinen Gören hier so sehen könnte, wie Ihr alle ganz schwarz und weiß und preußisch auf dem Balkon steht und die Preußen mit Buchs bewerfen wollt! Ob Onkel Johannes das nicht furchtbar komisch finden würde?“

Katteeker war keineswegs bösartig angelegt; sie gehorchte nur, unbedacht und thöricht, wie sie war, dem Antrieb des Augenblicks, der ihr diese Gedanken förmlich aufdrängte. Frau Hedwig zuckte zusammen, als hätte ein Schlag sie getroffen. Sie fühlte das laute stürmische Klopfen ihres Herzens bis an den Hals herauf.

„Jetzt laß mich in Ruh’, Marie!“ sagte sie nervös und hüllte die Kinder fester in die warmen Tücher. „Und wenn Du dies abscheuliche bunte Kleid nicht ablegen willst, so thu’ mir die Liebe und zieh’ Dich wenigstens etwas vom Balkon zurück!“

„Nein, Tante Hedwig, das kannst Du von mir nicht verlangen!“ erwiderte das Katteeker gekränkt. „Ich habe mein Gefühl so wie so schon Dir zu Liebe schrecklich verleugnet. Nein, meine blau–weiß–roten Landesfarben, die trage ich bis zu meiner Todesstunde! Nur über meine Leiche geht der Weg nach Küßnacht, Herr!“ deklamierte sie mit drolligem Pathos und verschwand von der Bildfläche. Gleich darauf tauchte ihr Schelmengesicht droben am Giebelfenster auf, wo sie leise ein Fähnchen von blau–rot–weißem Seidenpapier, ein Wunderwerk nächtlicher Klebekunst, hinaushängte und sich dahinter aufstellte, mit klopfendem Herzen und glänzenden Augen der Preußen wartend.

Und sie kamen.

Die Truppen hielten ihren Durchzug durch die kleine Stadt. Totenstille rings umher. Thüren und Fenster geschlossen, als sei das sonst so betriebsame lustige Städtchen eine aus Schutt und Moder ausgegrabene Totenstadt. Keine Seele ließ sich erblicken, selbst das kleine Volk der Straße war wie von der Erde verschlungen. Fürwahr, ein trauriger Einzug für diese braven Leute, die Weib und Kind und Heimat verließen und gen Norden eilten, um den stammverwandten deutschen Brüdern beizustehen! Ein trauriger Einzug! Kein frisches fröhliches Marschlied – nur der dumpfe Schall der Schritte, das Stampfen der Pferde, das Dröhnen der Räder auf dem hartgefrorenen Boden. Stumm, enttäuscht und müde, hungrig und durchfroren, so zogen die Soldaten durch die ganze Stadt, die lange lange Straße hinab, und bittere Gedanken stiegen wohl in manchem Herzen auf.

Schon lichteten sich die Häuserreihen, vereinzelt, wie Vorposten draußen im Felde, standen die letzten Wohnungen, dahinter zog sich in endloser Linie zwischen beschneiten Hecken die Landstraße hin – und keine Hand hatte sich den Helfern in der Not entgegengestreckt, kein Auge mit freundlichem Blick sie begrüßt, kein Labetrunk sie erquickt! Wie anders hatte manch einer sich diesen Einmarsch geträumt, als einen Triumphzug durch das unglückliche mißhandelte Land, das seinen Erlösern von Schmach und Knechtschaft aus vollem Herzen zujauchzen würde!

„Da soll man noch Lust haben, Blut und Leben für diese schleswig-holsteinischen Querköpfe einzusetzen!“ sagte ein junger Offizier finster zu seinen Kameraden, und ähnlich sprachen oder dachten sie alle.

Nur einer der Offiziere, ein hoher stattlicher Mann, achtete nicht auf die halblaut geflüsterten Bemerkungen um sich her. Weit voraus flog sein Adlerblick in weite Ferne. Schaute er wohl mit Seheraugen die glorreichen Schlachten voraus, in denen das verhaßte Preußenvolk seine verpfändete Ehre so herrlich einlösen würde? Schrieb die Hand, die jetzt so ruhig den stolzen Rappen zügelte, schrieb sie im Geiste schon mit blutigen Zügen jene Worte, die das Andenken dieses Mannes im schleswig-holsteinischen Lande unsterblich machten, die Worte: „Los von Dänemark! Up ewig ungedeelt“? Wer weiß es, wer schaut in die Herzen derer, die auf einsamer Höhe stehen!

In diesem Augenblick machte Prinz Friedrich Karl – denn er war es – eine Bewegung der Ueberraschung – eine kurze Orientierung mit dem Krimstecher, ein schneller Befehl an seinen Adjutanten, und zündend, elektrisierend eilte es durch die Reihen, manch einer richtete sich strammer auf, manches Auge, das müde

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 530. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_530.jpg&oldid=- (Version vom 17.9.2023)