Seite:Die Gartenlaube (1894) 539.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

blickte nur mit gespannter Aufmerksamkeit auf die schwarze Negerpuppe.

„Das ist doch ein Tschörtik,“ sagte sie nach einer Weile bestimmt. Lisa zuckte die Achseln.

„Es giebt gar keinen Teufel. Diese Puppe hat mir meine Tante aus Paris geschickt.“

„Was ist denn Paris?“ fragte Njutka.

„Eine große Stadt, in der es die schönsten Puppen und Kleider giebt. Aus Paris kommen auch die Gouvernanten. Siehst Du, dort geht meine Gouvernante, mit der muß ich immer französisch sprechen. Paß auf, meine Puppe spricht auch französisch!“ Und plötzlich sagte der kleine Neger ganz deutlich „Papa . . . Maman . . .“

Njutka war ganz blaß geworden und zitterte heftig.

„Willst Du ihn in die Hand nehmen?“ fragte Lisa.

Njutka schüttelte den Kopf und rannte spornstreichs davon. Sie hörte noch, wie das kleine Fräulein laut und spöttisch auflachte.

Den Heimweg traten die Floßführer zu Fuß an, es war nur ein zweistündiger Weg; Rjutka war sonst immer sehr ausdauernd im Gehen, heute schleppte sie sich kaum vorwärts. Daheim wurde sie von der Mutter, einer braven gutmütigen Frau, gefragt, ob sie krank sei.

„Nein.“

„Willst Du essen, mein Täubchen?“

„Nein.“

„Willa Du Thee trinken, mein Seelchen?“

„Nein“

„Was willst Du denn haben?“

„Eine Puppe, Mütterchen!“

Die Mutter lachte leise auf und streichelte dem Kinde die Wange.

„Warum sagtest Du das nicht gleich, Dummchen?“

„Also giebt es Puppen?“ fragte Njutka, und ihre Augen glänzten freudig.

„Freilich, freilich . . . hab’ selbst mit Puppen gespielt. Warte, mein Goldkind, gleich sollst Du eine haben!“

Die Frau kramte in einer Truhe, nahm ein paar bunte verwaschene Fetzen heraus, und eine halbe Stunde später gab sie ihrem Töchterchen die aus Flicken genähte Puppe, auf deren weißem Leinwandgesicht mit schwarzer Kohle die Augen, der Mund und die Nase aufgezeichnet waren.

„Das ist keine Puppe,“ sagte Njutka traurig.

„Wieso keine Puppe?“ fragte die Mutter verblüfft.

„Nein ... ich will eine Puppe, die französisch spricht.“

„Die spricht? Ach Du lieber Gott, verzeih’ mir armer Sünderin . . . wer hat mein Kind behext? Eine Puppe, die spricht, die giebt’s ja nicht! Der Tschört hat Dich genarrt. Ach Du himmlischer Vater, verzeih’ ihr die Sünde!“

Und die gute Frau schlug große Kreuze vor dem im Winkel angebrachten Heiligenbild. Dann wendete sie sich streng an die Kleine.

„Daß Du mir im Dorf keinen solchen Unsinn redest und mich in Schande bringst! Eine Puppe, die spricht ... ach Du lieber Himmel!“

Njutka schlich sich trübselig aus der Stube und weinte. Also war es doch ein Tschörtik gewesen!

Als sie das nächste Mal am Gartenzaun stand und das kleine Fräulein rief, machte ihr Lisa sofort das Pförtchen auf.

„Mütterchen sagt auch, es gebe keine sprechenden Puppen. Also ist es doch ein Tschörtik,“ versicherte Njutka ihre junge Gönnerin.

„Meinetwegen – wenn sich’s nur gut mit ihm spielen läßt!“ sagte Lisa lachend.

„Beißt er nicht?“ fragte Njutka, mißtrauisch die Negerpuppe betrachtend, die Lisa ihr entgegenhielt.

„Nein!“

Zaghaft ergriff Njutka die Puppe bei dem feuerroten Sammetkittel.

„Laß Deinen Tschörtik nicht fallen,“ rief Lisa, „der kostet viel Geld!“

Sie nannte ihre Negerpuppe nun selbst Tschörtik, und es machte ihr Spaß, die Angst und Verwunderung des Bauernkindes zu sehen. Dann ließ sie die Puppe wieder „Papa“ und „Maman“ rufen und sagte, das bedeute „Väterchen“ und „Mütterchen“.

„Fürchtest Du Dich noch?“ fragte sie. Njutka schüttelte den Kopf.

„Nun siehst Du, Du kannst immer mit dem Tschörtik spielen, wenn Du mit Deinem Vater herkommst.“

Wochen vergingen. Njutka lief, so oft sie konnte, den zwei Stunden langen Weg, um nur einige Minuten mit der Negerpuppe spielen zu können. Im Hause wurde sie nicht vermißt, denn die Kinder tummelten sich ja meist im Freien umher und suchten das Haus nur auf, wenn sie Hunger hatten und die braune Buchweizengrütze aus dem Backofen herausholten. Wenn es regnete, war Njutka untröstlich, denn die Mutter ließ sie dann nicht auf die Straße, sie mußte den kleinen Bruder warten und am Strick ziehen, der die Wiege in Bewegung setzte. Einmal hielt sie es aber nicht mehr aus in der dumpfen Hütte, sie sprang zum niederen Fenster hinaus und lief barfuß, wie sie war, die holperige Landstraße hinab zum Städtchen. Der Regen goß in Strömen, Njutka ward bis auf die Haut durchnäßt, aber sie achtete dessen nicht. Sie kam bis zu dem Gartenzaun und spähte durch das Loch. Der Garten war natürlich wie ausgestorben – kein kleines Fräulein, kein Tschörtik. Bitterlich weinend lief Njutka den Weg zurück. Zu Hause versetzte ihr die Mutter ein paar Ohrfeigen dafür, daß sie weggelaufen, und der Vater drohte mit Schlägen. Njutka kroch auf die Ofenbank, hungrig und müde, und versuchte zu schlafen, aber der Kopf glühte ihr und sie sah so absonderliche Dinge vor sich, daß sie nicht wußte, ob sie schlief oder wachte. Dann fing sie an, laut zu rufen. Die Mutter horchte auf und sagte zu ihrem Mann: „Sie hat das Fieber!“

Plötzlich bekreuzte sie sich, denn die Kleine rief deutlich „Tschörtik! Tschörtik! Ich will den Tschörtik haben!“

„Himmlischer Vater, sei uns gnädig, der Böse spricht aus ihr,“ rief die Mutter. Eine Nachbarin, die eben kam, um ein Viertelstündchen zu verplaudern, wurde schleunigst hinauskomplimentiert. Njutka rief immer wieder. „Gebt mir den Tschörtik!“

Der Vater verließ zornig die Hütte. Die Mutter aber faßte sich ein Herz und näherte sich dem phantasierenden Kinde. „Was willst Du, mein Seelchen?“

„Den Tschörtik, Mütterchen.“

„Fürchte Gott, mein Täübchen, rufe den Tschört nicht! Wenn er kommt, nimmt er Dich weg und trägt Dich in die Hölle.“

„Nein, Mütterchen, geh’ nur zu dem Fräulein, die hat den Tschörtik, sie wird ihn mir schon geben. Geh’ hin, Mütterchen, geh’!“

„Zu welchem Fräulein, Kindchen?“

„Zum Fräulein des Unternehmers, da, wo der große Garten ist. Ach Mütterchen, geh’ nur, bring’ mir den Tschörtik!“

Njutka fing an zu weinen, dann sprach sie wirres, unzusammenhängendes Zeug, daß der Mutter ganz bange wurde. Die Frau fiel auf die Knie nieder und betete, Gott möge ihr Kind gesund machen. Njutka aber schrie immer wieder dazwischen: „Den Tschörtik . . . den Tschörtik!“

Endlich konnte es die gequälte Mutter nicht länger mehr anhören.

„Ich geh’ schon, mein Täubchen, hab’ Geduld, ich gehe gleich. Ich hol’ ihn Dir, den Verfluchten! ... Wenn das Fräulein nur nicht beleidigt ist! Wie soll nur der Böse zum Fräulein gekommen sein? Gott verzeih’ mir armer Sünderin!“

Sie hüllte sich in ein Tuch und ging trotz der vorgerückten Stunde ins Städtchen zum Unternehmer. Dort ließ sie sich beim Fräulein melden. Man fragte nach ihrem Begehr.

„Die Njutka ist mein Kind,“ sagte sie, „sie hat mich hergeschickt, das Fräulein um den Satan zu bitten.“

„Satan“ erschien ihr höflicher als „Tschörtik“.

Der Diener sah die Frau mißtrauisch an. „Bist wohl verrückt oder betrunken?“ fragte er.

Die Frau wiederholte ihre Bitte noch eindringlicher als das erste Mal. Sie sah so anständig aus. Der Diener ging zu den Herrschaften und meldete mit unterdrücktem Lachen, eine Frau sei draußen, die bitte um den Satan vom gnädigen Fräulein. Lisa lachte und hüpfte wie toll im Zimmer umher.

„Ach, den Tschörtik meint sie wohl, den Tschörtik!“ Und sie lief hinaus und brachte der Frau die Negerpuppe. „Da nimm . . . Njutka darf ihn behalten, er ist so wie so alt!“

Die Frau versteckte die Hände unter der Schürze.

„Verzeih’, Fräulein, aber mit bloßen Händen rühre ich ihn nicht an!“

„Na warte, ich will ihn Dir in Papier wickeln.“

Behutsam nahm die Frau das Paket und verbarg es unter ihrem Tuch. Dann bekreuzte sie sich und eilte von dannen.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 539. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_539.jpg&oldid=- (Version vom 16.10.2022)