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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Unheimlich lang dünkte ihr heute der Weg mit dem Tschörtik unter dem Arm. Hatte er doch ihre Njutka behext, wie würde es nun ihr selbst gehen! Und wenn die Nachbarn erfuhren, daß sie den Teufel in ihrer Hütte habe, welcher Christenmensch würde dann noch mit ihr verkehren? Aengstlich preßte sie das Paket an sich. Plötzlich hörte sie einen langgedehnten, eigentümlich quietschenden Ton. Vor Entsetzen gelähmt, blieb sie stehen und drückte die Arme aneinander ... da, wieder derselbe Ton unter ihrem Arm heraus. Die Frau schrie auf und ließ die Last fallen.

„Himmlischer Vater, beschütze mich!“ murmelte sie und starrte auf das weiße Paket.

Sie war kaum noch zehn Minuten vom Dorf entfernt, aber sie traute sich nicht mehr, den Tschörtik anzufassen, jetzt, nachdem der böse Geist aus ihm gesprochen. Er war freilich sehr klein, der Teufel, wie, wenn sie ihn mit dem Fuß tot trat? Sie drückte mit ihrem hohen Männerstiefel vorsichtig auf die Negerpuppe . . . wieder ein langer klagender Ton! Das war zuviel! Die Frau schlug ihren Rock über den Kopf und lief spornstreichs nach Hause.

Njutka lag noch auf der Ofenbank, mit fiebergeröteten Wangen und glänzenden Augen. Neben ihr stand ein altes Weib und schüttelte den Kopf.

„Deine Tochter, Anisja, ist vom Bösen besessen,“ sagte sie zur eintretenden Mutter.

Anisja brach in Schluchzen aus und warf sich auf die Fensterbank.

„Verzweifle nicht, Anisjuschka, ich habe schon Gebete gesprochen, vielleicht hilft der Herr.“

„War mein Mann da?“

„Jawohl – aber er schämte sich so, und da ist er wieder weggegangen.“

„Die Schande, die Schande!“ stöhnte Anisja.

Njutka hörte jetzt die Stimme der Mutter, richtete sich auf und rief:

„Mütterchen, den Tschörtik – gieb mir den Tschörtik!“

„Daß ihn die Erde verschlinge! Ich hab’ ihn nicht!“

Njutka warf sich unruhig hin und her und verlangte zu trinken. Aber die Alte und Anisja waren so sehr in ihre Gebete vertieft, daß sie den Wunsch des Kindes überhörten. Gegen Abend füllte sich die Hütte mit Nachbarn. Alle hatten schon gehört, daß Njutka vom Teufel besessen sei. Scheu drückten sie sich an die Wand und blickten auf das fiebernde Kind, das sich seine Krankheit doch durch nichts anderes als durch das hastige Laufen im regnerischen kalten Wetter zugezogen hatte. Ratschläge wurden laut. Die einen meinten, man solle einen Eimer mit kaltem Wasser über das Kind gießen, um den Deufel auszutreiben, die anderen wieder verlangten, man solle den Ofen recht einheizen und das Kind dem Feuer so nahe als möglich bringen, damit der Teufel ersticke. Ein Glück, daß die Mutter all diese Ratschläge von sich wies und nur zum Gebet ihre Zuflucht nahm.

Daß sie selbst den Versnch gemacht hatte, den Tschörtik ihrer Tochter zu bringen, verschwieg sie wohlweislich, um nicht in Verruf zu kommen.

Allmählich entfernten sich die Dorfbewohner kopfschüttelnd aus der Hütte. Nur die Alte blieb da, um die bösen Geister weiter zu beschwören. Gegen Morgen kam auch der Bauer in angetrunkenem Zustande nach Hause. Er machte schlechte Witze über den Teufel, schrie laut, er wolle es schon mit ihm aufnehmen, und legte sich endlich auf den Ofen, um sofort in lautes Schnarchen zu verfallen.

Draußen hörten Regen und Sturm nicht auf. Anisja betete, bis ihr die Augen zufielen. Die Alte war längst eingenickt, und nur Njutka unterbrach die eintönige Stille mit klagenden Rufen: „Ich will den Tschörtik ... gieb mir den Tschörtik!“

Um die Mittagszeit des andern Tages klärte sich der Himmel auf. Die Kinder tummelten sich draußen vor dem Dorfe und sprangen lustig über die großen Wasserlachen. Da entdeckten sie plötzlich ein aufgeweichtes Paket, aus dessen zerschlissenem Papier hie und da etwas Schwarzes hervorlugte. Sie rissen das Papier herunter und erblickten die Negerpuppe.

Was war das für ein Ding? Es hatte Gliedmaßen wie sie selbst, war aber leblos und schrecklich schwarz. Die Beherzten tippten es an. die Aengstlichen verschränkten die Arme auf dem Rücken und blinzelten nur neugierig über die Köpfe der anderen hinab auf den seltsamen Fund.

„Ich nehme mir diesen Tschörtik,“ sagte endlich der Mutigste und Größte, bemächtigte sich mit dem Rechte des Stärkeren der Puppe und trug sie nach Hause. Als er in die elterliche Hütte trat, sah er Anisja neben seiner Mutter stehen und sich mit der Schürze die Thränen aus den Augen wischen.

„Seht, was ich gefunden habe!“ rief er triumphierend und hob die Negerpuppe in die Höhe.

Anisja stieß einen durchdringenden Schrei aus. „Das ist ja der Tschört, der leibhaftige Satan . . . wirf ihn fort, den Verfluchten . . . rühr’ ihn nicht an!“

Die beiden Frauen waren ganz blaß geworden. „Wirf ihn fort!“ kreischte nun auch die Mutter.

Und eh’ sich der Knabe dessen versah, hatte die Mutter die Negerpuppe ergriffen und in weitem Bogen aus dem Fenster geworfen. Auf der Straße sammelten sich die Kinder an. Anisja lief zu ihnen hinaus.

„Nicht anrühren! Das ist der Böse, er hat mir mein Kind verhext, meine Njutka!“

Aus den Hütten kamen allmählich alle Frauen herbei, um sich den Tschört anzusehen.

„Die Fratze, die er hat!“ sagten die einen.

„Warum er so klein ist?“ fragten die anderen.

„Damit er überall eindringen kann,“ erklärte Anisja. „Er sieht aus wie eine Puppe und täuscht die Menschen, aber das ist alles Trug und List, um uns zu verderben.“

„Was machen wir aber mit ihm, wir können ihn nicht hier lassen, mitten im Dorf – weiß Gott, was uns dann noch alles passiert.“

Männer traten nun auch herzu, und bald war das ganze Dorf versammelt. Der Bauernälteste betrachtete die Puppe lange Zeit, dann sagte er laut:

„Hier hat der Tschört keinen Platz, er verunreinigt die Straße. Und es ist meine Pflicht, auf die Sauberkeit der Straße zu achten. Als Aeltester kann ich auch nicht zugeben, daß Ihr den Tschört in Eurer Behausung habt. Ich schlage vor, wir vergraben ihn.“

Aber die Männer schüttelten die Köpfe.

„Dann gedeiht uns keine Saat. Der Boden, auf dem unser Korn wächst, den unser Vieh betritt, ist geheiligt!“

„Steinigen!“0 „Verbrennen!“ hieß es nun in wirrem Durcheinander. Der Aelteste aber hob beschwichtigend die Arme.

„Was geschieht denn mit dem Körper, was mit der Asche? Nein, so rasch können wir uns nicht entscheiden. Noch heute berufe ich Versammlung ein. Ihr müßt zur Beratung kommen, auf daß wir keinen übereilten Entschluß fassen. Zwei Männer bleiben hier und bewachen den Satan, daß er nicht Unheil stiftet in der Nacht. Ihr Weiber aber betet, daß er sich nicht in Eure Seelen schleicht, wie er sich in die Hände unserer Kinder geschlichen.“

„Sollen wir nicht den Batjuschka aus der Stadt herbitten, daß er ein Gebet spricht?“ fragte eine Frau.

Der Aelteste zuckte die Achseln. „Wenn wir den Popen extra bitten, dann kostet’s uns Geld, kommt er aber zum Kornsegen, dann kann er die Stelle hier gleich mitbespritzen. Das stellt sich billiger. Fürchtet Euch nicht! Ich bin Euer Aeltester, ich werde für Euch sorgen.“

In den meisten Hütten brannte die ganze Nacht über Licht, denn der Tschört war im Dorf! Die Frauen beteten, die Männer saßen beim Branntwein in der Hütte des Aeltesten und berieten, was sie mit dem Dschört thun sollten. Die Sitzung war sehr erregt. Erst beim Morgengrauen trennten sie sich. Anisjas Gatte trat laut polternd in die Hütte; seine Frau kam ihm entgegen und sagte. „Njutka ist fast ganz gesund, sie hat schon Grütze gegessen und Apfelwein getrunken.“

Der Bauer reckte sich in die Höhe.

„Das mußte auch so sein, denn ich habe vorgeschlagen, was mit dem Tschört geschehen soll, und mein Vorschlag ist angenommen worden. Wir binden ihm einen schweren Stein um den Hals, fahren mit einem Boot bis in die Mitte des Flusses und versenken ihn da, wo es am tiefsten ist.“

Anisja faltete die Hände und blickte ihren Mann bewundernd an.

„Den Gedanken hat Dir Gott eingegeben, mit eigenem Verstand kann man so ’was Kluges gar nicht erdenken!“ sagte sie, indem sie tief und erleichtert aufatmete und sich andächtig bekreuzte.

Am andern Morgen banden graubärtige Männer einer Pariser Negerpuppe einen Strick um den Hals und versenkten sie in die dunklen Fluten des Flusses. Die übrigen Dorfbewohner standen am Ufer und dankten Gott, daß er sie vom „Tschört“ befreit hatte.

Also geschehen zu Pugowka am 24. Juni 1893.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 540. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_540.jpg&oldid=- (Version vom 16.10.2022)