Seite:Die Gartenlaube (1894) 543.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

zürnenden alten Mann tapfer in die feindseligen Augen; ihre schlanke Gestalt richtete sich höher auf.

„Sie beleidigen mich mit jedem Wort, Herr Doktor,“ sagte sie mit bebenden Lippen, „doch darauf kommt es jetzt nicht an. Ich bin nur eine Frau und verstehe nicht viel von Politik; aber das möchte ich Sie doch fragen: wie hat man denn hier zu Lande die Sachsen und Hannoveraner empfangen? Warum denn nur für Preußen den Haß, wenn man den anderen doch dankbar entgegenjubelt? Kommen die Preußen nicht gerade so gut als Schleswig-Holsteins Befreier wie die anderen? Und ist ihr Leben vielleicht weniger wert als das der anderen?“

„Das verstehen Sie nicht, Madame!“ unterbrach er sie barsch. „Sie sind eben keine Schleswig-Holsteinerin – leider Gottes! Sie haben die Zeit von 1848 bis 1852 nicht miterlebt, Sie wissen nicht, wie man uns in jenen Jahren behandelt hat! All unser Können, unser Gut, Blut und Leben hatten wir eingesetzt für unsere heilige Sache. Ganz Deutschland jubelte uns zu und stand auf unserer Seite. Die Preußen kamen und brachten uns die erste Hilfe, und all unser Vertrauen, all unser Hoffen hatten wir auf sie gebaut! Auf den Sand gebaut! Was that Preußen, Madame? Was that es, frage ich Sie? Kaum zwei Jahre später schloß es einen elenden Frieden mit Dänemark – ohne unser Wissen und gegen unsern Willen! Schmachvoll überlieferte es uns dem alten Todfeinde zu neuer Knechtschaft, und diese Knechtschaft war furchtbarer als alles, was wir bisher erlebt! Unser Herzog und die Besten des Landes wurden verjagt, und nach und nach ward jegliches Recht uns genommen. Wie viele von uns, die für Preußens Hilfe mit Rat und That eingetreten waren, kamen damals in die schwerste Bedrängnis! Glauben Sie, daß sich das vergißt?“ fragte der alte Mann mit finsterem Ingrimm.

Die Frau hatte schweigend zugehört. Auch ihr war die Geschichte dieses unglücklichen Landes, dem sie seit elf Jahren angehörte, nicht fremd geblieben. Aber sie konnte die alte Heimat, konnte den Standpunkt ihrer Landsleute nicht verleugnen.

„Preußen wurde durch Rußland und England beeinflußt, wie Sie wohl wissen, Herr Doktor. Es konnte nicht anders handeln,“ sagte sie mit wachsender Wärme. „Und das war die Politik der Staatsmänner. Was aber wußte das Volk davon? Was können die braven Soldaten dafür, die heute wie damals für Schleswig-Holstein in den blutigen Kampf ziehen? Diese zu beschuldigen, diesen zu grollen, ist ungerecht!“

„Ungerecht?“ fragte er höhnisch zurück. „Sollen wir vielleicht nochmals unsere Zukunft von Preußen erwarten?. Sollen wir da glauben und vertrauen, wo wir so schmählich getäuscht wurden? Aber Sie sind eine Frau, und mit Frauen rechte ich nicht. Und um das, wovon Sie hier reden, handelt es sich auch gar nicht! Nicht um Preußen, sondern um Sie. Mir scheint, eine Frau soll auf das Glaubensbekenntnis ihres Mannes schwören – in der Religion wie in der Politik. Oder gilt etwa bei Ihnen zu Lande nicht das Wort: ‚Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott‘? Sollten Mann und Frau nicht eins sein, eine Seele, ein Hassen und ein Lieben? Und nennt Ihr in Preußen das ,eins sein‘, wenn der Mann treu zu seinem angestammten Herrscherhaus steht, wenn er die Interessen des Landes nach Recht und Glauben in der Ferne vertritt – und wenn die Frau unterdessen in der Heimat hinter seinem Rücken den verhaßten Feinden Kränze an den Hals wirft? Ich frage, nennt man das Treue bei Euch in Preußen?“

Totenstille trat ein. Dann entgegnete Hedwig, nach Ruhe ringend, mit seltsam tief klingender Stimme: „Wenn Sie so fortfahren, Doktor Jürgensen, werde ich Sie allein lassen müssen! Sie häufen eine Beleidigung auf die andere, und nur die Achtung und Dankbarkeit für den alten Hausfreund und Hausarzt verbieten mir, Ihnen die gebührende Antwort zu geben.“

Vor innerer Aufregung zitternd, totenblaß, aber furchtlos und stolz stand sie vor dem alten heftigen Mann, und diese einfache und doch so hoheitsvolle Frauenwürde entwaffnete den Leidenschaftlichen.

„Ich sehe ein, daß ich zu weit gegangen bin, Frau Genthin,“ sagte er einlenkend und ließ sich erschöpft in einen Lehnstuhl sinken. „Man soll keinen Menschen ungehört verdammen. Also reden Sie! Sagen Sie in Gottes Namen alles, was Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen haben!“

Hedwig blieb vor ihm stehen, die Hand auf die Tischplatte gestützt. „Sie irren, wenn Sie glauben, ach hätte es hinter meines Mannes Rücken gethan.“ Ihre Stimme klang kalt und beherrscht; allmählich aber, wie sie weiter sprach, machte sich der Sturm in ihrem Innern bemerkbar. „Ich habe ihm alles geschrieben, denn ich bin nicht die treulose, pflichtvergessene Frau, für die Sie mich halten – und Sie vor allen sollten mich doch besser kennen! Meine Handlungsweise mag thöricht und unverständig erscheinen, das geb’ ich zu, aber ich that nur, was mein Herz mir riet, was tausend andere Frauen, was Ihre eigene Frau auch gethan hätte, wäre sie an meiner Stelle gewesen! Sagen Sie doch selbst, Herr Doktor, wenn eine Frau jahrelang in einem Lande lebt, das seinen Sitten und Gebräuchen, fast auch seiner Sprache nach ein fremdes Land für sie ist, wenn sie in all dieser Zeit nie einen Landsmann sah, nie einen heimatlichen Klang hörte, und nun nach Jahren kommt für sie der Tag solchen Wiedersehens; ihre Landsleute ziehen ein, nicht als Feinde, sondern als Befreier, sie schaut die Fahne wieder, in der sie schon als Kind etwas Hohes, Heiliges sah, sie hört die teure Melodie der alten Königshymne, bei deren Klängen ihre Brüder, ihr Vater schon hinausgezogen sind . . .“

Sie brach ab; Thränen erstickten ihre Stimme.

Der alte Hausarzt hatte die Blicke zu Boden gesenkt und starrte nachdenklich auf das Teppichmuster, dann strich er mit der Hand über die Augen. „Frauenlogik!“ murmelte er kopfschüttelnd. „Da läuft das Herz allemal mit dem Verstande davon. Aber man muß Euch nehmen, wie Ihr seid!“ Er richtete sich stramm auf – die klugen Augen unter den buschigen Brauen schauten fast freundlich auf die Preußin. „Ich verstehe Sie, Frau Hedwig, fange an zu begreifen, was alles in einer richtigen preußischen Frauennatur stecken kann. Als Gattin Ihres Mannes haben Sie grundverkehrt gehandelt, aber vom menschlichen Standpunkt aus muß ich Ihnen beinahe recht geben. Wollte, Sie wären eine der Unserigen! Sie haben einen alten bärbeißigen Schleswig-Holsteiner dazu bekehrt, die preußischen Frauen zu respektieren – wenn er mit den Männern auch keine Freundschaft halten möchte. Der Glaube fehlt und das Vertrauen fehlt! Werden sie’s diesmal anders machen als anno dazumal?“

Er zuckte die Achseln und schwieg in finsterem Sinnen. Kein Laut, kein Leben im ganzen Zimmer, nur das einförmige Ticken der Uhr und das Tanzen der Sonnenstäubchen. Der Alte spann seinen schweren Gedankengang fort, endlich aber sagte er laut und ernst: „Von mir also soll Ihnen vergeben sein. Aber die andern! Kind, Kind, da kann ich Ihnen nicht helfen. Man führte den Stephanus hinaus und steinigte ihn. Selbst meine eigene gute Frau – das vergiebt sie Ihnen nicht!“

Er reichte ihr die Hand und drückte die ihrige fest und treu. „Gott befohlen, junge Frau! Halten Sie’s aus, halten Sie den Sturm aus! Die bösen Tage gehen vorüber wie die guten. Wer weiß, es kommt vielleicht eine andere Zeit – wir verstehen sie nur noch nicht!“

Damit schied er.

Und die Frau, die so stolz vor ihm gestanden, wartete nicht ab, bis die Thür sich hinter ihm geschlossen hatte. Sie legte die Arme auf den Tisch und weinte, weinte – ihr war das Herz zum Sterben schwer.

Aber es war ihr keine Zeit vergönnt, sich ihrem Schmerze zu überlassen.

„Kann ich die gnädige Frau selber sprechen?“ fragte draußen eine laute jugendliche Männerstimme, die der Weinenden seltsam bekannt vorkam.

„Madam’, dar sünd se all!“ mit diesem Schreckensruf kam Stine zur Thür hereingestürzt. „Un wat de Oebberst vun ehr is, de will abs’lut uns’ Madam’ sülwsten spreken!“

Hedwig trocknete ihre Augen – da stand auch schon ihr Besuch auf der Schwelle.

„Hedel! Gott im Himmel, hab’ ich mich gefreut, als ich hörte, daß mein Quartierzettel auf Euern Namen lautete! Ein junger Mensch muß Glück haben, sonderlich im Krieg und in der Liebe, nicht wahr, Kousinchen?“

Er stand vor ihr und streckte ihr beide Hände entgegen – ein großer breitschulteriger Offizier, das offene, von der Kälte gerötete Gesicht von blondem Haar und Bart umgeben.

Frau Hedwig starrte ihn an, als sähe sie einen Geist; willenlos ließ sie’s geschehen, daß er ihre Hände nahm und sie küßte. Dann erst konnte sie reden, ward sie wieder Herr ihres aufgeregten Selbst. Ein Freudenschimmer flog über ihr junges Gesicht und färbte die bleichen Wangen mit schöner heller Röte. „Du, Gerhard!“ rief sie und schaute zu ihm empor mit schwesterlichem Vertrauen. „Wie kommst Du hierher, in den Krieg? Und nun gerade zu uns?“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 543. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_543.jpg&oldid=- (Version vom 14.12.2022)