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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

„Um Gotteswillen, stehen Sie auf!“

„Nein, nein, hier will ich liegen zu Deinen Füßen, zufrieden, wenn ich nur den Saum Deines Gewandes küssen darf! Sieh, so ist meine Liebe! O, ich will Dich mit Reichtum überschütten, will mein Leben lang zu Dir aufschauen wie zu einer Heiligen! Was fesselt Dich an Deinen Mann? Welches Band verbindet Dich innerlich mit ihm? Giebt er Dir, was ich Dir geben kann, ein ganzes Leben voll sklavischer Liebe? Dieser Mann, der Dein Glück, Deine Seele zerstört hat, der Dir verächtlich sein muß! Lore, um Deines eigenen Glückes, um meiner unendlichen Liebe willen zerreiße Deine Fessel und werde mein Weib!“

„Halten Sie ein!“ rief sie, sich zurückwerfend.

Was dieser Mann alles in ihr aufrührte! Wie ein berauschendes Märchen schlugen seine leidenschaftlichen Worte an ihr Ohr. Ihre Nerven begannen zu erschlaffen nach den Erschütterungen der letzten Stunden, sie fühlte eine ohnmachtähnliche Mattigkeit durch ihre Adern rinnen. Da berührte etwas ihre Knie, ein Mund flüsterte dicht an ihrem Ohr: „Erhöre mich, Geliebte! Nur einmal sieh mir in die Augen, ob das nicht die Liebe ist, die zum Wahnsinn führt oder bis zum Tode währt! O, sieh mich doch an!“

Sie fühlte seine Lippen auf den ihrigen, sein heißer Atem vermischte sich mit dem ihren – ein eisiger Schreck fuhr ihr durch die Glieder. Ein unnennbarer Ekel ergriff sie, sie stieß ihn mit beiden Händen von sich.

„Zurück! Sie sind betrunken!“ rief sie und sprang auf. Indem sie sich von seinen Händen losriß, die ihr Kleid umklammerten, erreichte sie mit einem Sprung die Thüre und stürzte hinaus. – –

Der Prinz lag am Boden, mit dem Gesicht auf dem Teppich, als wollte er ihn mit den Zähnen fassen. Ein heiseres Aechzen drang aus seiner Brust. So kauerte er eine Weile, dann hob er mit fast irrsinnigem Ausdruck den Blick und ließ ihn durch das Zimmer schweifen, langsam, wie jemand, der sich nach einem wüsten Traume der Wirklichkeit seiner Umgebung versichern will. Dann begann er zu lachen. Kein Wort kam über seine fahlen Lippen, er wankte in eine Ecke, dort klirrten unter seinen zitternden Fingern Flaschen aneinander. Zwei, drei faßte er mit den Händen und stellte sie auf den Tisch.

„Also trunken bin ich!“ murmelte er, sich ein Glas einschenkend. „Trunken! Richtig, ich weiß nicht einmal mehr, was ich gesagt habe! Es muß wohl so sein!“ Und er stürzte ein Glas hinunter.

Die Gasflamme zitterte, von der Straße tönte das Geräusch des Lebens herauf.

„Dein Wohl, Leonore!“ Er hielt den Inhalt des Glases gegen das Licht, das sich in dem geschliffenen Kelche brach und gespensterhaft über sein bleiches verstörtes Gesicht huschte.

Stunden verrannen – immer wieder füllte er das Glas, bis sein Kopf schwer aufs Sofa zurücksank. – 0000

Als der Kellner am andern Morgen das Zimmer betrat, fand er den Prinzen tot auf dem Sofa. Ein herbeigerufener Arzt stellte als Todesursache Herzschlag fest, veranlaßt durch übermäßigen Genuß von Alkohol.

Der Fall erregte in allen Kreisen, die den Fürsten gekannt hatten, das größte Aufsehen. Allerlei unklare Gerüchte schwirrten umher, in Verbindung mit dem Namen der Frau von Weßnitz. Diese selbst rang in schwerem Nervenfieber mit dem Tode.

Sobald Hermann die erschütternde Kunde vom Ende des Prinzen erhalten hatte, war er zu Lore geeilt.

„Es darf niemand zur gnädigen Frau,“ berichtete der Diener.

Wer denn bei ihr sei?

Der Hausarzt und als Pflegerin Fräulein Helm.

Noch während Hermann mit dem Diener verhandelte, erschien Eddas dunkler Kopf in einer vorsichtig geöffneten Thür. Sie winkte ihm mit den Augen, einzutreten.

„Was ist mit Lore^“' fragte er hastig.

„Man kann noch nichts sagen, Herr von Weßnitz. Heute, morgen und übermorgen noch nichts; doch denke ich, daß ihre gesunde Natur die Nervenkrisis überstehen wird. Ich weiß ja selbst nicht, was alles vorgefallen ist. Nur den unnatürlich schnellen Tod des Russen erfuhr ich und eilte sofort hierher. Mir sagte eine Ahnung, daß ich vielleicht hier nötig sein würde, wenngleich ich diesen Zustand Ihrer Schwägerin nicht voraussetzen konnte. Können Sie mir irgend welche Aufschlüsse geben?“

Hermann senkte finster den Kopf. „Nichts von Bedeutung,“ sagte er trotzig.

„Sie sehen selbst krank aus, Herr von Weßnitz.“

Er hob rasch den Blick und schaute in ihre ernsten forschend auf ihn gehefteten Augen. Wie wohl ihm der weiche mitleidige Ton ihrer Stimme that!

„Ist an Bruno telegraphiert worden?“ fragte er, sich mühsam auf die Lehne eines Stuhles stützend.

„Es hatte keinen Zweck, da er so wie so morgen wieder zurückkehren muß.“

„So? Und kann ich nicht irgend etwas thun für Lore? Soll ich bis zur Rückkehr meines Bruders nicht hier bleiben?“

„Nein, Sie könnten doch nichts helfen. Je weniger Menschen im Hause sind, desto besser. Ich werde hier bleiben.“

„Halten Sie einen ernsten Ausgang der Krankheit für möglich?“ fragte er leise, wie jemand, der sich vor der Antwort fürchtet.

„Möglich, ja – soweit ich den Fall beurteilen kann. Aber es giebt etwas Schlimmeres als den körperlichen Dod - den geistigen.“

„Entsetzlich!“ stöhnte Hermann.

„Wir wollen den Mut nicht verlieren, Herr von Weßnitz!“

Sie streckte ihm herzlich die schmale Hand hin und begab sich wieder zu der Kranken.


Wochen waren vergangen. Die Berliner Gesellschaft hatte schon wieder wichtigere Sachen zu thun, als den Tod des russischen Prinzen und die unmittelbar darauf folgende Versetzung des Legationsrats von Weßnitz nach Brüssel zu besprechen. Der Frühling war gekommen – Wettrennen, Ausflüge, Vorbereitungen für Badereisen nahmen alles Interesse in Anspruch.

Lore hatte die Krankheit überwunden, obgleich es schien, als hätte ihre Natur, die Thatkraft ihres Wesens eine unheilbare Wunde empfangen. Jetzt war sie mit ihrem Knaben einige Monate am Gardasee. Was zwischen ihr und Bruno besprochen worden war, nachdem sie das Krankenlager verlassen hatte, wußte niemand, nicht einmal Hermann. Immerhin konnte dieser aufatmen, denn die Familientragödie, die er für unausbleiblich gehalten hatte, war vermieden worden. Als er Bruno zum erstenmal nach jenen Ereignissen wiedersah, schien dieser ein anderer denn sonst; er war weich, duldsam wie ein Kind – vielleicht führten ihn die Erlebnisse der letzten Zeit auf den richtigen Weg zurück, das Leben ernst zu nehmen. Damit er überhaupt imstande war, seine Verpflichtungen in Berlin einzulösen und den Haushalt in Brüssel zu beginnen, mußte Hermann fast sein ganzes mütterliches Erbteil opfern. Er hatte beabsichtigt, den Bruder zu veranlassen, seiner diplomatischen Laufbahn zu entsagen und nach Weßnitz überzusiedeln, aber er mußte diesen Gedanken aufgeben. Bruno wäre nie imstande gewesen, als praktischer Landwirt die ohnehin etwas in Unordnung geratene Gutsverwaltung in die Hand zu nehmen.

Merkwürdig, wie dieser Bruno trotz all seiner Fehler von oben begünstigt wurde! Jedem anderen hätte der Skandal den Hals gebrochen – er wurde nur versetzt, und zwar auf einen Posten, der ihm wenig Repräsentationspflicht auferlegte und es ihm möglich machte, seine Vermögensverhältnisse zu ordnen.

Es war Hermann gelungen, dem Vater all diese Vorgänge zu verheimlichen, was um so leichter war, als der alte Mann augenscheinlich nur noch wenig Interesse und Verständnis für die Außenwelt zeigte.

Jetzt war nun Hermann ganz zu seinem Berufe zurückgekehrt, verschlossener, wortkarger denn je, fast menschenscheu in der großen Stadt lebend. Manches, was er früher für wertvoll und groß gehalten hatte, schien ihm jetzt nichtig und lächerlich. In seinem Innern ging eine Umwandlung vor, seine ganze Lebensanschauung kam ins Wanken. In dieser Stimmung erinnerte er sich eines Tages, daß er dem Doktor Helm versprochen habe, ihn zu besuchen; der Verkehr mit dem geistvollen alten Herrn erschien ihm plötzlich als ein Bedürfnis, und am nächsten Abend entschloß er sich, zu ihm zu gehen.

„Ist der Herr Doktor zu Hause?“ fragte er die Aufwartefrau, die ihm die Thür öffnete.

„Bitte, treten Sie näher!“

„Aber das ist hübsch, lieber Weßnitz, daß Sie endlich einmal Ihre Schritte zu uns lenken!“ begrüßte der Doktor seinen Gast.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 552. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_552.jpg&oldid=- (Version vom 14.12.2022)