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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

schluchzender Nichte und wimmerndem Hund, als es kräftig an die Thür pochte und jemand fragte: „Was giebt’s, Hedel? Kann ich vielleicht helfen? Will der Kronprinz denn gar nicht schlafen?“

Marie vergaß für den Augenblick ihren Kummer, schüttelte ihre Zöpfe und murmelte ärgerlich: „Der Preuße!“ Aber ihre Tante rief mit wahrer Erleichterung: „Ja, ja, komm’ nur herein, Gerhard, wir können Deine Hilfe gerade brauchen.“

„Ist derJunge krank?“ fragte Gerhard, besorgt nähertretend.

Frau Hedwig hielt ihre Nichte, die im Begriff stand, sich selbst und ihren Hund aus der verhaßten Nähe des Lieutenants zu flüchten, kurzer Hand an den Rockfalten fest und entgegnete ruhig: „Nein – der Patient ist hier, Gerhard.“

Marie warf den Kopf zurück, die kleinen scharfen Zähne knirschten aneinander. Das wilde Katteeker stand sprungbereit – am liebsten wäre es dem Offizier mit beiden Händen ins Gesicht gefahren. Aber der ließ sich nicht einschüchtern, trat heran und nahm mit sicherem Griff das verwundete Tier aus der Schürze. Es wimmerte laut, und diesen offenbaren Eingriff in seine Rechte benutzte Fränzchen zu einem neuen Angriff auf die Ohren der Anwesenden. Nun war die mütterliche Langmut aber völlig erschöpft, ärgerlich schüttelte Frau Hedwig dem kleinen Ruhestörer die Decke zurecht und rief über die Schulter zurück: „Thut mir den einzigen Gefallen und geht! Der Junge kommt sonst wahrhaftig nicht zur Ruhe!“

Lachend schritt der Lieutenant hinaus und ins Wohnzimmer hinüber, und nach einigem Zögern folgte Marie ihm nach. Was blieb ihr auch anders übrig? Es wäre doch zu unmenschlich gewesen, das kranke Tier schutzlos den Händen des Feindes zu überlassen! Aber wie rücksichtslos von Tante Hedwig, sie hinunszuschicken!

Zum erstenmal waren die beiden miteinander allein, zum erstenmal auf sich selbst angewiesen. Mißtrauisch überwachte Marie jede Bewegung Gerhards. Man sah es ihren finsteren Blicken an, daß es nur eines einzigen Funkens bedurfte, den lange aufgespeicherten Zündstoff zum Explodieren zu bringen. Und Gerhard selber war so unvorsichtig, diesen Funken ins Pulverfaß zu werfen.

Das erste nämlich, was er that, war, daß er das schmutzige blutbefleckte Band vom Halse des stöhnenden Tieres löste. Marie riß es ihm aus der Hand, es flimmerte in den schwarzen Augen und in jäh ausbrechender Heftigkeit stieß sie hervor. „Sie haben kein Recht, es abzunehmen!“

„Das Recht des Pflegers,“ entgegnete er ruhig. „Das Band würgte den Hund, sehen Sie, jetzt schnauft er lange nicht mehr so.“

„Er wird ein neues Band bekommen.“

„Das steht in Ihrem Belieben, Fräulein Kattein. Darf ich jetzt um etwas lauwarmes Wasser bitten?“

Mit scheuem Erstaunen blickte sie zu ihm auf, wäre er heftig geworden wie sie, so hätte er nichts bei ihr erreicht. Seine ruhige Gelassenheit aber, die sich gar nicht um ihren Zorn zu kümmern schien, machte auf sie einen größeren Eindruck, als sie sagen konnte. Schweigend ging sie hinaus und holte das Verlangte herbei. Die Wunde wurde ausgewaschen und mit leichter geschickter Hand verbunden. Bei alledem hatte das junge Mädchen tapfer und willig Hilfe geleistet – es war, als hätte das wilde Katteeker unwillkürlich zu fühlen begonnen, daß es seinen Herrn und Meister gefunden. Und als die verhaßte Feindeshand den kleinen Patienten in die Sofaecke bettete, da wich auch von dem hübschen Gesichtchen der finstere Trotz, der diesem so fremd und häßlich stand wie eine Maske. Katteeker sah, wie das kranke Tier dankbar die sorgliche Hand des Pflegers leckte, und plötzlich schmolz die starre Eisrinde um ihr junges Herz. Ob sie wollte oder nicht, sie durfte doch nicht undankbarer sein als das unvernünftige Tier dort, sie mußte reden – und so sagte denn auf einmal eine leise unsichere Stimme hinter Gerhards Rücken: „Ich danke Ihnen, Herr . . .“

Das Wort „Lieutenant“ brachte sie aber doch nicht über die Lippen, das erinnerte sie gar zu sehr an den Krieg und an die alte Feindschaft.

Erstaunt wandte er sich um. Es war das erste Mal, daß sie ihn anredete, und der weltgewandte Offizier wußte sich bei diesen überraschenden Worten seiner bisher so erbitterten Feindin nicht sogleich auf eine passende Entgegnung zu besinnen. Aber er sah sie an mit einem langen forschenden Blick und las ihr ohne weiteres die Gedanken vom Gesicht. „Wenn Ihnen der preußische Lieutenant, der übrigens nur ein Reservelieutenant ist, gar zu verhaßt ist, gnädiges Fräulein, so sagen Sie ‚Oberförster‘, denn das bin ich von Haus aus.“

Oberförster – das Wort weckte in Katteekers Herzen heimatliche Erinnerungen an das Elternhaus und den herrlichen grünen Wald und unwillkürlich entfuhr ihr der Ausruf: „Oberförster? O, das war mein Vater auch! Aber bei uns nennt man es Hegereuter,“ fügte sie mit kindlichem Stolz hinzu. „Allein weshalb . . .?“

„Weshalb ich als Offizier hier stehe?“ ergänzte er lächelnd. „O, ganz einfach. Als die Reserve einberufen wurde, gab ich die Hasenjagd auf und nahm den Degen in die Hand, um die ,tapperen Landsoldaten‘ aus Ihrer schönen Heimat zu verjagen, mein Fräulein.“

Die letzten Worte, so harmlos sie auch gesprochen wurden, berührten wieder den wunden Punkt in Maries Seele. „Sie hätten ruhig weiter Hasen schießen sollen. Wir brauchten Sie gar nicht, Sie alle zusammen!“ rief sie mit neu erwachendem Trotz.

„Es ist ja jetzt Schonzeit, weiß die Hegereuterstochter das nicht?“ fragte er mit seinem gelassenen gutherzigen Lächeln. Und da sie schwieg und finster vor sich niedersah, fügte er hinzu: Warum hassen Sie uns denn eigentlich so sehr, Fräulein Kattein? Haben wir Ihnen so Böses gethan?“

„Da fragen Sie auch noch?“ stieß sie heftig hervor. „Wenn Sie’s nicht wissen, nun dann will ich’s Ihnen sagen! Mein Vater war des Herzogs Freund, und als 1848 die neuen Gesetze aufkamen und es so schlimm mit uns wurde, daß kein Mensch es mehr aushalten konnte, da ging mein Vater hin und sagte: ‚Durchlaucht, sollen wir nicht die Preußen bitten, daß sie herkommen und uns helfen?‘ Und der Herzog that es denn auch. Mein Vater und viele, viele andere Schleswig-Holsteiner kämpften bei Idstedt gegen die Dänen, und alles wäre noch gut geworden, wenn uns nicht die Preußen im Stich gelassen hätten. ,So, nun wollen wir nicht mehr! Seht zu, wie Ihr allein fertig werdet!‘ sagten sie. War das nicht schlecht von ihnen? Aber das war noch lange nicht alles. Sie erlaubten nicht einmal, daß wir allein weiterkämpften, sondern, nachdem sie ihren Frieden mit den Dänen gemacht hatten, nahmen sie uns ganz einfach die Waffen weg. Und nachher kamen die Dänen wieder ans Regiment, und es war fürchterlich. Unser guter Herzog mußte fort, und mein Vater und viele, viele andere wurden aus dem Lande gejagt. Wir mußten aus unserm schönen Forsthaus mitten im Walde heraus, der arme Vater mußte mit uns auswandern, und das alles wegen der Preußen, weil sie so falsch und treulos waren. Ja, das ist buchstäblich wahr!“ rief Marie mit Thränen bitteren Zornes in den dunklen Augen.

Es war das zweite Mal binnen weniger Tage, daß Frau Hedwigs freundliches Wohnzimmer der Schauplatz solch heftiger Erörterungen wurde, und keine Aussicht war vorhanden, daß sie diesmal bald unterbrochen würden, denn drüben hörte man immer noch das stoßweise Aufschluchzen der weinenden Kinderstimme.

Gerhard Wien hatte das erregte Mädchen ruhig aussprechen lassen, während seine blauen Augen sie unverwandt und mit steigendem Interesse betrachteten. Und plötzlich schien es ihm, als ob es gar kein kleines thörichtes Backfischchen mehr sei, das da vor ihm stand und sich ereiferte, sonderm ein selbstbewußtes, kluges und stolzes Weib, die Vertreterin schleswig-holsteinischer Eigenart. Dem kindischen Trotz hätte er wohl mit einem Scherzwort geantwortet, so vermochte er nur mit vollem Ernst und dennoch begütigend zu sagen: „Aber, Fräulein Marie, es waren doch die Dänen, die Ihren Herzog, Ihren Vater und viele deutschdenkende Männer vertrieben, nicht wir!“

Doch das Katteeker hatte seine preußenfeindliche Lektion zu gut gelernt und ließ sich nicht so leicht aus dem Text bringen. Sie warf energisch den Kopf zurück. „Die Dänen sind unsere angeborenen Feinde, die hassen wir so wie so,“ gestand sie kaltblütig. „Aber die Preußen waren doch die indirekten Urheber von Vaters Verbannung und von all dem Elend, das seitdem über unser Land gekommen ist. Die Dänen hätten uns ja gar nichts anhaben können, wenn Preußen uns nur ein bißchen beigestanden hätte!“ schloß sie mit vollster Ueberzeugung.

„Wollen wir uns nicht lieber setzen?“ fragte Gerhard ruhig und schob seiner jungen Gegnerin einen Stuhl hin. „Dann will ich mir Mühe geben, Ihnen die Sache einmal in anderem Lichte zu zeigen.“

Ungern folgte Marie der Einladung, doch wurde sie in so ernstem Ton gesprochen, daß es schwer war, zu widerstehen. So drückte sie sich neben den kleinen Hund in die Sofaecke und blieb dort in sich zusammengekauert sitzen, mit scheuen Augen zu dem großen blonden Mann hinübersehend. Gerhard begann nun, in seiner Weise dem Mädchen die Vorgänge von 1848 bis 1852 zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 562. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_562.jpg&oldid=- (Version vom 18.10.2022)