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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

„Küsse mich noch einmal, Hermann!“

Als wollte sie vergehen, so hing sie in seinen Armen, an seinem Mund. Dann blieb sie still und wortkarg, scheu vermied sie jede Berührung seiner Hände; fröstelnd, mit bleichen Wangen saß sie neben ihm im Pferdebahnwagen.

„Gute Nacht, Hermann. Es ist besser, wir trennen uns schon jetzt!“ sagte sie, als sie an ihrem Hause angelangt war.

„Wie Du willst, Edda! Schlaf süß! Gute Nacht!“

Wie im Traum ging er nach Hause. War dies das Glück? Ja, das mußte es sein!

Sein Bursche übergab ihm beim Betreten der Wohnung ein schon am Nachmittag eingelaufenes Telegrantm.

„Kommen Sie so schnell wie möglich! Ihr Vater schwer erkrankt.“ Darunter der Name des alten Hausarztes.

Das fiel wie ein Donnerschlag in seine Herzensstimmung. In zwei Stunden ging der nächste Zug, der ihn der Heimat zuführen konnte. Mit fliegender Hast schrieb er ein Urlaubsgesuch und packte die notwendigsten Sachen zusammen. Noch eine Stunde, eine ewig lange Stunde hatte er Zeit. Wie sollte er sie ausfüllen?

Da fiel ihm ein, daß er an Doktor Helm schreiben, ihn um die Hand seiner Tochter bitten mußte. Eigentlich hatte er zuerst seines Vaters Zustimmung einholen wollen, aber nun? Wer wußte, ob er denselben noch lebend antreffen würde? Mit wenigen schlichten Worten teilte er dem Doktor seine Verlobung mit und bat ihn um seine Einwilligung. Aber schon während er schrieb, kam ihm der Gedanke, ob sich jetzt wohl alles so gestalten würde, daß er um ein Mädchen werben, eine mittellose Braut zu seiner Frau machen durfte? Und plötzlich erschien ihm diese Liebe so knabenhaft unbesonnen. Er schämte sich beinahe, das nicht früher überlegt zu haben. Aber es war über ihn hereingebrochen, ohne daß er vorher ernstlich daran gedacht hatte. Und doch, waren alle diese Bedenken nicht kleinlich?

„Ich hab’ sie so lieb,“ murmelte er vor sich hin. Ihr Antlitz stand ihm wieder vor der Seele, wie selig es geleuchtet hatte, als sie an seinem Halse hing. O, er liebte sie, diese Edda! Er fühlte bewegt, wie ihm im Herzen ein großes zuversichtliches Glücksgefühl aufging.

Dies Gefühl verließ ihn auch nicht während der langen nervenanspannenden Eisenbahnfahrt. Ihm war, als hätten erst Eddas Küsse alles Gute in ihm zum Leben erweckt. Gedankenvoll durch das Fenster in die vorüberfliegende Landschaft schauend, flüsterte er ihren Namen. – –

Er fand den Vater nicht mehr unter den Lebenden; auf kalte starre Totenhände fielen des Sohnes Thränen. Bruno hatte nicht kommen können, da er sich auf einer Dienstreise befand, Lore auch nicht, weil ihr Knabe erkrankt war. So ging Hermann als einziger Anverwandter dem Sarge nach, genau wie er einst neben dem Vater, den tief Gebeugten stützend, der toten Mutter das letzte Geleit gegeben. Von nah’ und fern waren Leidtragende herbeigeströmt, Freunde, Bekannte, Abordnungen von Vereinen und Genossenschaften. Man hielt am Grabe Reden, viele Reden, man lobte die edle Gesinnung, das ritterliche Handeln des Dahingeschiedenen, seine treue Pflichterfüllung. Selbst vom Landesfürsten kam Beileidsschreiben und Kranz.

Alte Bekannte seines Vaters begrüßten den Sohn als dessen Nachfolger; man bot ihm Stellungen, Ehrenämter an, die der Vater ausgefüllt hatte, als sei es ganz selbstverständlich, daß der Sohn in allem in des Vaters Spuren trete.

Ihn umfing das alles, als sei er aus einer fremden Welt wieder zurückgelangt in seine eigentliche Heimat, als habe er während der letzten Monate in Gedanken und Thaten wie ein Abtrünniger der Scholle gelebt, die ihm einst das erste Brot gegeben. Er sann und sann, dann reichte er kurz entschlossen seinen Abschied ein, Nicht einmal Edda fragte er um Rat.

Es kamen Tage lästiger Arbeit; das Ordnen des Nachlasses nahm alle seine Kräfte in Anspruch und bald wurde ihm klar, daß er ein Erbe übernommen hatte, das in alle Winde zu zerflattern drohte. Die Wirtschaft war in Verwirrung, kein Nachweis vorhanden über Einnahmen und Ausgaben. Er mußte sich sagen, daß nur eine eiserne Anstrengung seinerseits imstande sein würde, soweit Ordnung zu schaffen, um überhaupt das Gut zu halten und wieder in die Höhe zu bringen.

Trotzdem durchzog sein Inneres ein frohes mächtiges Kraftbewußtsein. Er wollte schon vorwärts kommen! Die Leute, die ihn umgaben, hatten ja alle denselben guten Willen wie er; es kamen sogar Dienstboten und Tagelöhner, die seit Jahren auf dem Gute lebten, mit der Bitte zu ihm, ihren Lohn herabzusetzen, da er offen von seiner Lage gesprochen und sie darauf aufmerksam gemacht hatte, daß viele Aenderungen eintreten müßten.

Endlich erhielt er einen Brief von Doktor Helm. Hermann erschrak fast. Er hatte sich vergeblich Eddas Schweigen zurechtzulegen versucht, nachdem er ihr den Tod des Vaters und seinen Entschluß mitgeteilt hatte, seine Offizierslaufbahn aufzugeben. Er zögerte, das Couvert zu erbrechen. Selbstverständlich würde der Doktor seine Zustimmung geben, aber was sollte werden? Die Unsicherheit seiner äußeren Lage, die Notwendigkeit, fast alles, was er jetzt dem Namen nach noch sein nannte, erst durch jahrelange Arbeit in Wirklichkeit zu erringen, machte es für ihn beinahe zur Unmöglichkeit, jetzt eine Ehe zu schließen. Die Arbeit der letzten Tage hatte ihn kaum an diese Dinge denken lassen und abends war er todmüde, jeder Ueberlegung unfähig, in den Schlaf gesunken. Nun stand die harte Wahrheit ihm plötzlich vor Augen. Zögernd öffnete er den Brief.

  „Lieber Herr von Weßnitz!

Mein und Eddas Mitgefühl bei Ihrem bitteren Verlust ist Ihnen wohl ohne weitere Beteuerungen gewiß. Trostworte helfen da nichts; es ist einmal nicht anders, als daß Kinder die Eltern überleben. Der Tod ist ehrwürdig und Sie mit Ihrem Charakter werden mit Fassung seine Macht ertragen haben.

Ihren in Berlin geschriebenen Brief erhielt ich. Ich darf Ihnen sagen, daß ich mich selten im Leben so glücklich gefühlt habe als beim Lesen Ihrer Zeilen.

Edda hat geweint bei der Nachricht vom Tode Ihres Vaters. Sie spricht nur von Ihnen; ihr Gesicht strahlt, wenn ich Ihren Namen nenne, aber auf meinen Wunsch unterließ sie es, Ihnen zu schreiben. Es soll erst alles klar zwischen uns sein.

Schwer fällt mir das Bekenntnis, das ich Ihnen abzulegen habe, aber das Vertrauen auf Ihren Charakter, auf Ihr vorurteilsfreies Denken erleichtert mir diese Aufgabe, obgleich – doch hören Sie mich an! Ich muß weit ausholen. Nachdem ich in Berlin studiert hatte, ging ich nach Zürich als Assistent zu einem damals berühmten Arzt, mit einem Gehalt, der mich eben vor dem Verhungern schützte, denn mein kleines väterliches Erbteil hatte kaum für meine Studienjahre gereicht. Meine bescheidene Junggesellenwohnung lag auf dem Flur eines großen Miethauses, auf den auch das Zimmer einer Studentin der Medizin mündete, eines geistreichen strebsamen jungen Mädchens, das, von einfachstem Herkommen, ihre geringen Mittel auf das Studium verwandte. Ich will Sie nicht langweilen mit den kleinen Nebenumständen, die mich mit dem Mädchen zusammenführten. Sie sind alt genug, um die Welt zu kennen. Nur das Eine sei Ihnen gesagt: wenn sich zwei Menschen von Herzen treu und ehrlich lieb gehabt haben, so waren es Eddas Mutter und ich. Ich wollte sie zu meinem rechtmäßigen Weib machen, sobald mir eine gesicherte Lebensstellung die Gründung eines Haushalts erlaubte. Es sollte nicht soweit kommen. Eine Tochter wurde uns geboren – Edda; ihre Geburt kostete der Mutter das Leben. Mein Schmerz war grenzenlos. Was soll ich weiter sagen? Wie meine Tochter aufwuchs, wissen Sie. Bis jetzt trägt Edda gesetzlich noch nicht meinen Namen, mir schien es bisher überflüssig, all die lästigen Förmlichkeiten zu erfüllen; Schätze habe ich ja nicht zu vererben. Trotzdem bedaure ich jetzt die Unterlassung, die sich übrigens rasch wird gutmachen lassen.

Ich will und kann nichts weiter hinzufügen. Sie kennen Edda und mich. Seien Sie gerecht! Es war meine Pflicht, Ihnen dies mitzuteilen. Edda habe ich gestern in alles eingeweiht.
Ihr alter Freund Helmut Helm.“ 

Hermann ließ langsam das Papier sinken. Unklare Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, finster, regungslos grübelte er stundenlang vor sich hin. Was sollte er thun? Der Bericht des Doktors hatte alles in ihm wachgerufen, was die Tradition seiner Familie, seine ganze Erziehung an Stolz und Vorurteilen in ihm niedergelegt hatten. Durfte er ein Mädchen von solcher Herkunft als Gattin in das Haus seiner Väter führen? Und selbst, wenn er alles überwand, durfte er dies Mädchen, das kaum die einfachsten Pflichten einer Hausfrau zu erfüllen gelernt hatte, an die Spitze seines Gutes stellen, dessen Wirtschaft in tausenderlei Obliegenheiten eine erfahrene Herrin erforderte, die mit ihm Seite an Seite arbeitete? Er mußte leben wie ein einfacher Gutspächter,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 567. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_567.jpg&oldid=- (Version vom 28.7.2022)