Seite:Die Gartenlaube (1894) 592.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


„Up ewig ungedeelt!!“

Novelle von Jassy Torrund.

  (Schluß.)

Stumm stand Genthin seiner Frau gegenüber; nur Sekunden dauerte dieses Schweigen und dennoch schien es beiden eine Ewigkeit. Dann seufzte er plötzlich auf, wie von schwerer Last befreit. Nein, diese reinen klaren Frauenaugen wußten nichts von Schuld noch Lüge. Was Hedwig auch gethan haben mochte – es war nichts, worüber sie hätte erröten müssen. Die anklagenden Worte, die ihm auf der Zunge schwebten, verstummten, ehe sie noch ausgesprochen wurden. So legte er den Arm um sie, führte sie langsam die Treppe hinauf und fragte in seinem alten ruhigen Ton: „Du hast Einquartierung, Kind?“

Dabei beobachtete er sie scharf. Sie hielt die Lider gesenkt – kein Erröten, nur ein Lächeln flog über ihre mädchenhaften Züge.

„Ja, Johannes. Drei Gemeine, einen Sergeant und einen Lieutenant,“ zählte sie an den Fingern her. „Und denke Dir, der Lieutenant ...“

Er unterbrach sie: „Du gehst nicht der Rangordnung nach; der Lieutenant hätte der erste sein müssen,“ sagte er herbe. „Jedenfalls hat er Dir die Zeit angenehm vertrieben. An Langerweile und Traurigkeit scheinst Du nicht gelitten zu haben.“

Sie betrachtete ihn mit wachsender Unruhe, antwortete aber nichts, sondern half ihm im Flur, seinen schweren Reisepelz abzulegen. Wie sonderbar er doch war – was konnte er nur meinen? Plötzlich flammte es wie ein Blitz des Verständnisses in ihren braunen Augen auf, mit heißem Erröten legte sie die Arme um seinen Hals. „Haben die Leute sehr viel Böses über Deine arme Frau geredet, Hansemann?“ fragte sie leise und schaute ihn an, schelmisch und traurig zugleich.

Ihm ward ganz unbehaglich zu Sinn bei diesem kindlich treuherzigen Blick, und ausweichend sagte er: „O – allerlei!“

„Und Du glaubtest es, Johannes?“ Sie ließ die Arme sinken, ein schmerzlicher Zug zeichnete sich tief ein um Mund und Augen.

Er schüttelte den Kopf. „Was sangst Du vorhin, Hedwig – ‚Das Roß ist des Königs, der Reiter ist mein?‘ Hieß es nicht so?“

Nun lachte sie hell auf. „Also darum? Ja, so heißt es, und ich lernte das Lied von Marie; an sie dachte ich, als ich vorhin so vergnügt die Treppe hinunterlief.“

„Marie Kattein, der kleine Preußenhasser? Ich meine, die kennt nur ‚Schleswig-Holstein meerumschlungen‘?“ fragte er erstaunt.

„Ja, ja, Preußenhasser! Komm und sieh selbst!“ rief sie fast übermütig und zog den Widerstrebenden durch das leere Eßzimmer an die halbgeöffnete Wohnstubenthür.

Wie sie sich schon im voraus auf ihres Mannes Ueberraschung freute, wenn sie ihm sagen würde, wer der Lieutenant war! O, er sollte ihr Abbitte thun für diesen ganz unglaublichen Verdacht, den er gegen sie gehabt! Warum hatte er sie vorhin so unfreundlich unterbrochen, als sie ihm gerade erzählen wollte, was für einen lieben Jugendfreund und treuherzigen Vetter sie in dem fremden Offizier wiedergefunden!

Drinnen im Wohnzimmer war es schon dämmerig; die Glut im Ofen warf einen schwachen roten Feuerschein über die beiden jungen Menschenkinder, die dort traulich beisammen saßen. Das Katteeker kauerte auf einem niedrigen Schemel, hatte beide Hände um die Knie geschlungen und schaute träumend ins Feuer. Gerhard erzählte ihr von seiner Heimat, und seine tiefe ruhige Stimme war der einzige Laut in dem stillen Gemach.

Doch plötzlich schraken sie beide auf wie aus tiefem Traum.

„Donner!“ rief halblaut, in grenzenlosem Staunen, der Lauscher an der Thür. „Sieh, sieh, das Katteeker ist ja mächtig zahm geworden!“ Und noch etwas anderes fuhr ihm durch den Sinn – er beugte sich nieder und wollte seine Frau küssen; die aber wich ihm blitzschnell aus, stieß die Thür vollends auf und sagte mit feierlichem Ernste „Darf ich vorstellen? Mein Mann – mein lieber Vetter Gerhard Wien, Oberförster und Lieutenant der Reserve ...“

Mit größerer Herzlichkeit ward noch nie ein fremder Vetter begrüßt wie dieser, dem der Hausherr mit kräftigem Händedruck fast die Finger zerbrach.

Dann aber, unbekümmert um die beiden jungen Menschenkinder, zog Genthin seine Frau zu sich heran. „Mit Verlaub, Herr Vetter – meine Frau ist mir noch den Willkommgruß schuldig,“ sagte er und küßte die Errötende herzlich. „Hättest Du mir das nicht gleich sagen können, Du Schelm?“ flüsterte er ihr ins Ohr.

Sie schob ihn lachend von sich. „Du geruhtest ja, mich zu unterbrechen – bist selber schuld, Hansemann!“ Dann schlug sie plötzlich die Hände zusammen und rief entrüstet: „Aber Mann, Du bist ja der reine Rabenvater geworden! Jetzt hole ich gleich die Kinder!“ Damit eilte sie hinaus.

„Und etwas zu essen, Frau!“ rief der Hausherr mit Stentorstimme hinter ihr her.

Dann lief er im Zimmer auf und ab und rieb sich die erstarrten Hände, blieb vor Marie stehen und kniff sie in die Wangen mit einem vielsagenden „So, so!“ und drückte dem Vetter wieder und immer wieder die Hand.

Eine Centnerlast war ihm von der Seele genommen. Mochten die Leute reden, was sie wollten! Alle patriotischen Sünden waren der kleinen Frau vergeben. Der Friede war geschlossen – Holstein und Preußeu hatten sich die Hände gereicht.


„Mächtig zahm geworden!“ hatte Onkel Genthin zu dem Katteeker gesagt – aber darin irrte er sich gewaltig. Es war immer noch nur ein Waffenstillstand, durchaus kein Friede zwischen den beiden feindlichen Mächten, so schnell ging es denn doch nicht. Ein wildes Eichkätzchen läßt sich nicht binnen so und so viel Tagen zähmen, und ein schleswig-holsteinisches Katteeker, das einem preußischen Jäger in die Hände fällt, erst recht nicht.

Das sollte auch Gerhard Wien erfahren, und daran war niemand anders schuld als Herr Genthin selber, denn als der nun anfing, von seinen Erlebnissen zu berichten, und mit wachsender Bitterkeit von dem unthätigen Zuschauen des Bundes sprach, von nutzlosen Mühen und zerstörtem Hoffen, da erwachte alsbald wieder der schlummernde Haß in Katteekers heißem Herzen. Und da ihr Groll weder den König von Preußen noch den Bundestag erreichen konnte, so richtete er sich naturgemäß gegen den einzigen Vertreter preußischer Nation der ihr zur Hand war – denn der Sergeant und die drei Gemeinen zählten nicht mit! Verschwunden war ihr übermütiger Frohsinn und von Stund’ an ward sie wieder, was sie zu Anfang gewesen, eine von Kopf bis zu Fuß gewappnete Jungfrau, die sich jeden Preußen auf zehn Schritt vom Leibe hielt. Da half kein Zureden von Onkel und Tante, kein bittender Blick aus Gerhards treuherzigen Augen, kalt und stumm ging sie ihrer Wege, und Gott mochte wissen, zu was für neuen Feindseligkeiten sie durch ihren alten Haß noch gebracht worden wäre, wenn nicht der König von Preußen ein Einsehen gehabt und sich glücklicherweise noch rechtzeitig ins Mittel gelegt hätte.

In der Stille ihres Kämmerleins hielt Marie eben Einkehr in sich selbst. Mit den bittersten Vorwürfen gegen ihr eigenes wankelmütiges Herz, das dem angestammten Herrscherhaus untreu geworden und nahezu ins feindliche Lager desertiert war, holte diese junge Patriotin ihr blau- und rotgestreiftes Kleid wieder aus dem Schrank hervor, wohin es verbannt gewesen war – dies Kleid, das Tante Hedwig gar zu gern verschenken wollte und das ihr selbst fast so ehrwürdig erschien wie die herrliche goldene Rüstung der Jungfrau von Orleans.

Gerade stand sie im Begriff, eine weiße Schürze umzubinden, um so wieder an ihrer eigenen kleinen Person die geliebten Landesfarben wie eine stumme Kriegserklärung auf das Schlachtfeld hinauszutragen – da erscholl draußen auf der Straße lautes Trommeln, ein gebieterisch kurzes Hornsignal – und sofort erhob sich in dem stillen Hause ein Rufen und Laufen, daß Katteeker bestürzt innehielt. Sie riß die Thür auf und rief nach dem Kindermädchen, nach Stine – aber niemand kam. So lief sie, mit ihrer Schürze in der Hand, hinaus und begegnete auf der Treppe der alten Köchin, die ganz verstört aussah und, ohne eine Frage abzuwarten ihr entgegenries: „’t geiht nu los, Frölen – se hebb Alarm blosen, se schüllt nu alle weg – un morn fröh[1] geiht de Krieg all los! Herrjeses, wenn se den Scherschanten man blot nich dotscheeten[2]!“

Die Hände zusammenschlagend, blieb die alte Person auf der

  1. früh.
  2. totschießen.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 592. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_592.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)