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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Treppe stehen und schluchzte laut. Katteeker stürzte an ihr vorbei, wie eine Friedensfahne wehte die weiße Schürze hinter ihr her – und um ein Haar wäre sie dem Lieutenant, der von unten heraufkam, geradeswegs in die Arme gerannt.

Als er sie sah, rief er ihr zu: „Nein, kein Waffenstillstand, kein Friede, Fräulein Kattein – thun Sie die weiße Fahne weg! Es giebt nun Krieg – endlich hat das Nichtsthun ein Ende!“

Sie starrte ihn mit großen erschrockenen Kinderaugen wortlos an, aber er nahm ihr die weiße Schürze aus der Hand, „die Friedensfahne“, griff nach eben dieser kleinen Hand und fragte hastig und in tiefster Erregung: „Werden Sie an mich denken, Fräulein Marie, an den Preußen, der jetzt hinauszieht, um eine kleine Schleswig-Holsteinerin für ewige Zeiten von Dänemark loszureißen?“

Sie antwortete nicht, sondern nickte nur stumm; dann machte sie sich los und floh in ihr Zimmer zurück. Dort kauerte sie in einer Ecke nieder, schlug beide Hände vors Gesicht, und die Angst, der Schrecken, das heiß aufquellende Weh ihres jungen treulosen und doch treuen Herzens machten sich in bitterem Schluchzen Luft.

„Ich bin ein Preuße“ spielte draußen die Musik, und fort zogen die braven Soldaten, ob zum Siege, ob zum Tode – sie wußten es nicht. Sie dachten auch nicht daran. Diese tapferen jungen Herzen schlugen höher bei den Klängen der Musik. Und heute waren die Thüren und Fenster nicht geschlossen – jung und alt stand auf den Straßen und starrte ihnen nach. Mancher Blick aus braunen und blauen Mädchenaugen folgte der stattlichen Schar, den „verhaßten“ Preußen.

Im Giebel des Genthinschen Hauses klirrte leise ein Fenster, aber so leise es auch geschah, es gab doch ein Ohr, das diesen Ton auffing, ein Paar Augen, die hinaufspähten, und andere Augen grüßten – dunkle, traurige, die aus einem seltsam blassen Gesichtchen herniederschauten, lange, lange noch, den Fortziehenden nach, die Landstraße entlang, soweit sie nur sehen konnten.

Heute blaute kein klarer nordischer Winterhimmel über den fern und ferner Ziehenden. Lautlos rieselte es herab aus dichtgeballten grauen Wolken, die vom Wind gepeitscht gen Norden stürmten. Leise verhallten die Klänge des Preußenliedes, ein Ton, ein letzter, wehte herüber, dann war alles still.

Schweigen und Schneegeriesel hüllte das Städtchen ein wie ein Mantel, den Mutterhand sorglich über das schlafende Kind breitet, daß sein Schlummer nicht gestört werde durch bittere Winterkälte und fernen Kriegslärm.


Der erste Februar war vorbei. Die verbündeten Preußen und Oesterreicher hatten die Eider überschritten, und die ersten deutschen Truppen waren in Schleswig eingerückt. Der Druck, der so lange lähmend auf diesem unglücklichen Lande gelegen hatte, war wie durch Zaubermacht gehoben, neue Hoffnung regte sich in den geduldigen, oft enttäuschten Herzen der Schleswiger.

Schlag auf Schlag ging es vorwärts ohne Rast und Ruh’ – Schritt um Schritt drängte man den Feind in blutigem Ringen zurück.

Und allmählich, ganz allmählich schlug die Stimmung in den schleswig-holsteinischen Landen um. Die Sympathien, die man bisher nur den Sachsen und Hannoveranern entgegengebracht hatte, wandten sich nun endlich auch den Preußen zu. Reich und arm, vornehm und gering, Stadt und Land sandte Liebesgaben in das preußische Lager; Bürger und Bauern traten während des Marsches herzu und reichten den wackeren Soldaten die Hände. Alte Sünden, alte Vorurteile wurden vergessen. Ueberall regte sich in diesen zähen mißtrauischen Herzen das stammverwandte Deutschtum, der treue rechtliche Sinn.

Auch in dem kleinen P. schwand bei dem siegreichen Vordringen der Armee der Haß gegen die Preußen, und allmählich hob man auch den Bann auf, den man über Frau Hedwig Genthin verhängt hatte. Der alte Doktor kam und fragte: „Wissen Sie schon?“ und erzählte von den herrlichen Siegen und schüttelte ihr die Hände und sagten „Frau Hedwig, es kommt eine bessere Zeit, und wir – wir fangen an, sie zu begreifen!“

Aber noch ein anderes Ohr, ein anderes Herz hörte diese verheißungsvollen Worte, ein Herz, das angstvoll schlug, so oft von einem neuen Gefecht die Rede war, das die Preußen unter Prinz Friedrich Karl geliefert hatten. Marie Kattein stand oft und lauschte und glaubte in der Ferne Kanonendonner zu hören. Vor ihren Augen wehten preußische Fahnen, hin über die Ebene stürmten preußische Truppen den „tapperen Landsoldaten“ entgegen – jedes Dorf eine Festung, jedes Haus eine neue Schanze. Und deutsche Begeisterung flammte im Herzen der jungen Schleswig-Holsteinerin auf.

Dann, als es schon Frühling geworden war, am 18. April 1864, kam der glorreiche, der herrliche Tag von Düppel, jener Tag, wo banges Hoffen zu tröstlicher Gewißheit wurde, wo bei den Klängen des Hohenfriedberger Marsches schleswig-holsteinische Freiheit durch Ströme preußischen Blutes erkauft ward. Da war für ewige Zeiten das eine Wort zur Wahrheit geworden: „Los von Dänemark!“

Der Waffenstillstand folgte, und einige Kompagnien, die bei dem Düppeler Sturm am schwersten gelitten hatten, kehrten vom Kriegsschauplatz zurück, um in Holstein verpflegt zu werden.

Aber wie anders als vor einem Vierteljahre wurden diesmal die Preußen empfangen! Ihr Marsch durch das befreite Land war ein Triumphzug. Aller Hände streckten sich ihnen hilfsbereit entgegen, die Häuser und die Herzen waren ihnen aufgethan, man wetteiferte in dankerfüllter herzlicher Begrüßung der ruhmgekrönten Sieger von Düppel, als sie nun wiederkehrten zu kurzer Rast – verwundet und pflegebedürftig, mit zerschossenen Gliedern aber mit ungebeugtem Mut.

Auch der Reservelieutenant Gerhard Wien, den ein Streifschuß in den rechten Arm getroffen hatte, war bei den Zurückkehrenden. Seine Verwandten hatten ihn gebeten, sich in ihrem Hause von den Strapazen des Krieges zu erholen.

Herr und Frau Genthiu standen mit den Kindern unter der Thür, als der Wagen vorfuhr. Gerhard sprang herab, den Arm noch in der Binde, er drückte dem Ehepaar in herzlicher Wiedersehensfreude die Hände, küßte die kleinen Mädchen, die ihm in verlegener Scheu ihre Maiglöckchensträuße hinhielten, und – sah sich suchend um.

Genthin fing den Blick auf und sagte kaltblütig: „Sie suchen meine Nichte? Die ist nicht hier.“

„Aber Mann!“ flüsterte Frau Hedwig vorwurfsvoll, als sie sah, wie des Vetters freudestrahlendes Gesicht plötzlich so kalt und ruhig wurde. Doch Genthin hatte diese sichtliche Enttäuschung mit wahrer Genugthuung bemerkt. „Geschieht Ihnen ganz recht, guter Freund! Das ist nur die gerechte Strafe für die Heidenangst, die ich Ihretwegen einmal ausgestanden, mein Herr Vetter,“ sprach er bei sich selber und rieb sich stillvergnügt die Hände.

Dann führten sie den lieben Gast feierlich durch die bekränzte Thür ins Haus hinein. Auf der Treppe – Onkel Johannes schmunzelte, und Vetter Gerhard traute seinen Augen nicht – kam ihnen das Katteeker entgegen, das sich nur durch Zufall ein wenig verspätet hatte. Lächelnd und erglühend wie ein Mairöslein stand Marie in ihrem weißen Kleide dort auf der Treppe, und Gerhard Wien starrte sie an wie verzaubert.

War dies das wilde Katteeker mit den haßfunkelnden schwarzen Augen? Was hatte dieses eine Vierteljahr aus ihr gemacht!

O nein, Herr Gerhard Wien! Nicht dieses eine Vierteljahr und nicht Tante Hedwigs sanfte Hand hatten das wilde übermütige Katteeker gezähmt – der Krieg, der männermordende, war’s, der mit rauher Hand sein Erziehungswerk an diesem jungen Geschöpf gethan; die heimliche Angst um ein geliebtes Leben war’s, die das unbesonnene Kind zu einem anderen Wesen umschuf, zu einem Bilde hold aufblühender Weiblichkeit. Gerhard konnte sich gar nicht satt sehen an dem süßen Gesichtchen und den großen dunklen Augen, in denen die Liebe ihr altes und ewig neues Wunderwerk begonnen hatte.

Wie der verkörperte Genius der meerumschlungenen Schwesterlande, der die Hände ausbreiten möchte, seinem Erlöser aus Schmach und Knechtschaft zu danken – so stand die junge Schleswig-Holsteinerin vor dem verwundeten preußischen Offizier, und bis zu seiner Todesstunde wird er dieses Augenblicks gedenken! – –

In solcher aufgeregten sturmbewegten Zeit bedarf es keiner langen Präliminarien. Die Hände finden sich gar rasch, wenn die Herzen tage-, wochen- und monatelang in Sehnsucht oder in banger Furcht um einander geschlagen haben.

Gerhard Wien hatte auch nicht Zeit zu langem Liebeswerben; die leichte Schußwunde begann zu heilen, bald mußte er wieder gen Norden ziehen. Also warum zögern, wo es galt, sich das

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 594. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_594.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)