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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Glück seines Lebens zu erringen? Hatten die Tage von Missunde und Düppel ihn nicht gelehrt, wie ein Held vorwärts zu gehen?

Aber wenn nun der Krieg aufs neue begann, wenn er nicht wiederkehrte? Daran dachte er nicht, das überlegte er gar nicht. Er wollte die Gewißheit seines Glücks mitnehmen, wenn er zum zweitenmal hinauszog in den Kampf – und dies junge Glück sollte ihn schützen, sollte ihm Trost und Talisman sein.

An einem warmen köstlichen Juniabend wanderten die beiden jungen Menschenkinder langsam in sinnendem Schweigen durch die ferner liegenden Gartenwege. Rings um sie her duftete und blühte es; die Schwarzdrossel sang im Gebüsch ihr süßes lockendes Liebeslied, und mit tausend Zungen redete die Natur ihre geheimnisvolle Sprache zu den lauschenden Herzen. Vor einem Rosenbäumchen, das seine frühzeitige schwere Blütenpracht fast bis zur Erde beugte, blieb Gerhard stehen und bat, was vor ihm schon Tausende baten und was nach ihm noch Tausende erbitten werden: „Schenken Sie mir eine Rose!“

Marie wandte den Kopf, ihr Erröten zu verbergen, und suchte mit großem Eifer nach einer Blüte, die nicht zu viel und nicht zu wenig sagte. Endlich war diese Auserwählte ihres Geschlechtes gefunden – keine vollerblühte dunkelrote, glühend wie die Liebe; keine farblose weiße, die von Entsagen und Sterben spricht; nein, eine jener zartgefärbten, mit weißen Blättern und rötlichem Kelch, die das Volk so sinnig „Mädchenerröten“ nennt.

Gerhard drückte die Rose an die Lippen, aber sie sah es nicht, ihre kleinen Hände pflückten angelegentlich ein paar welke Blüten von dem übervollen Strauch.

Gerhard zog sein Taschentuch hervor, die duftende Gabe hineinzulegen; da lag schon etwas zwischen den weißen Blättern, ein unansehnliches farbloses Sträußchen – die dürren Epheublätter raschelten in seiner Hand. Er nahm das Sträußchen, das mit einem arg zerdrückten blau-rot-weißen Seidenbande zusammengebunden war, und hielt es schweigend seiner Begleiterin vor Augen.

Verständnislos blickte Marie darauf nieder. Was sollte das ihr, was wollte er damit?

„Kennen Sie es nicht?“ fragte er mit verhaltener Erregung.

Sie schüttelte den Kopf. Wie lange, lange war es auch her, seit das Katteeker in Stines schweren Pantoffeln durch den beschneiten Garten gewandert, um Epheu und Buchs für die „Preußen“ zu schneiden, der Tante Hedwig zulieb – was war seitdem nicht alles geschehen!

„Kennen Sie auch die Schleife nicht, Fräulein Marie?“ fragte er dringender und zog das schmale Band sorgsam glättend durch die Finger.

Da kam ihr plötzlich die Erinnerung und verwirrt stammelte sie: „Das waren Sie ...?“

Er nickte. „Ja, ich war der Glückliche, der dies Sträußchen auffing, den Willkommgruß der Schleswig-Holsteinerin für den preußischen Eroberer.“

Sie schüttelte ernsthaft den Kopf. „Die Kinder haben’s hinuntergeworfen, nicht ich ...“

Ihr heißes Gesichtchen verriet ihm jedoch mehr, als sie eingestehen wollte.

„Sie haben’s aber gebunden, nicht wahr?“ forschte er siegessicher.

Ein stummes Nicken und dabei fielen dem Katteeker die Worte ein, die sie damals zu Tante Hedwig gesagt hatte: „Für einen Wink des Schicksals werde ich es halten, wenn ich dieses Epheusträußchen jemals wiedersehe!“

Und tiefere Glut überzog ihre Wangen, wie sie in stummer Befangenheit, mit gesenkten Blicken, vor ihm stand, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen.

„Ich trug es bei mir, immer, immer!“ sprach er in steigender Erregung. „Es war wie ein Talisman, der mich schützte. Ich nehme es auch jetzt mit, wenn wir abermals hinaus müssen. Und wenn ich wiederkehre, Marie, wenn der Krieg vorbei und Schleswig-Holstein frei geworden ist – darf ich dann kommen und die Schleswig-Holsteinerin mit mir nehmen in mein Preußenland?“

Er hatte ihre Hände ergriffen und schaute ihr bittend in das schöne junge Gesicht.

Keine Antwort; aber nach einer Sekunde des Schweigens hob sie die Augen, die von Thränen verdunkelt waren und ihm doch fast noch glänzender schienen als früher, und sah ihn schweigend an – es bedurfte keiner Worte, wo das Herz so laut und verständlich redete. Und Gerhard beugte sich herab und küßte die süßen Lippen seiner jungen Braut.

Holstein und Preußen hatten sich zum zweitenmal die Hände gereicht!

*  *  *

Und wieder Krieg und wieder Waffenstillstand, der endlich den Frieden bringen sollte.

Nicht alle kamen wieder, die einst so hoffnungsfroh fortzogen. Wie vordem die Väter für die Freiheit starben, so folgten ihnen auch die Söhne nach – treu bis zum Tode. Aber Gerhards junges Glück, das er mit hinausgenommen, hatte ihn behütet, daß er zum drittenmal jetzt wiederkehren durfte zu dem epheuumrankten Haus in der guten altmodischen kleinen Stadt.

Anfang August war’s, als sie ihn erwarteten. In Christinens blitzblanker Küche saß die junge Braut und fügte mit zitternden Händen Zweig an Zweig, Blume an Blume für den Kranz, der ihren Liebsten grüßen sollte, wenn er heimkehrte; und immer ungeschickter wurden die kleinen Hände, immer ruheloser das heiße junge Herz. Kopfschüttelnd betrachtete Stine den Kranz, der gar nicht fertig werden wollte und schon zweimal mitten durchgerissen war. „Wenn’t man nix Slimmes to bedüden hett,“ murmelte sie vor sich hin, und endlich ließ sie ihren halbfertig gespickten Kalbsbraten im Stich und ging und nahm ihre Zuflucht zu ihrer Hilfe in allen Bedrängnissen.

„Jette, Se sünd je so geschickt, wüllt Se nich’n beten nach mien Kaek kamen un dat oll lütt Katteeker helpen? Dat quält und quält sik un kämt nich ut de Stell mit dat oll Kränsewinden!“

Und das gute alte Hausgeistchen legte sogleich Nadel und Schere hin, folgte Stine hilfsbereit in die Küche, und ihre flinken geschickten Hände nahmen dem Katteeker die mühsame Arbeit ab. Wie erlöst lief Marie davon, die Treppe hinauf zu ihrem Giebelstübchen, um auszuschauen, ob sie denn noch nicht kamen, und wieder hinab in die Küche, um zu fragen, ob der Kranz nicht bald fertig wäre. Und als sie auf diesen ruhelosen Streifzügen wieder einmal die Treppe hinuntereilte, hörte sie nicht enden wollendes Gelächter, blieb an der Küchenthür stehen und mußte trotz ihrer Aufregung doch selber mitlachen über die beiden närrischen Alten.

„Neihersch“ hatte den ellenlangen Kranz um die dicke Stine herumgewickelt, daß sie die Arme nicht rühren konnte und nun hilflos und kläglich dastand. Und „Neihersch“ stellte sich vor sie hin, knixte einmal übers andere und versuchte mit ihrer feinen hohen Stimme Stines derben Baß nachzuahmen. „Jette, weeten’s wat de Lüd segg’n? De Lüd segg’n: Herr Wien un Fru Genthin ... Nanu, lütt Stine, wer hett nu rech?“

„Was ist denn hier los?“ fragte das Katteeker neugierig, und nun kam die ganze schöne Reimerei, die plattdeutsche und die hochdeutsche, ans Tageslicht.

Marie lachte, daß ihr die Thränen übers Gesicht liefen, nahm die alte Stine mitsamt ihrem Kranz und drehte sie wie toll im Kreise herum. „Ne, Stine, mien lütt Stine,“ rief sie atemlos, „Du hest je doch rech, un en plattdütschen Vers is dat doch, man de heet: Herr Wien – dat’s mien!“

„Se kamt, se kamt!“ schrie der Kutscher, den man zum Ausguck auf die Landstraße geschickt hatte. Und kaum war der Kranz über der Hausthür befestigt, kaum waren Herr und Frau Genthin herbeigerufen und hatten den Kindern ein Blumensträußchen in die Hand gedrückt – da kamen sie wirklich.

„Herrejeses, de Scherschant is ok wedder dor!“ war das einzige, was Marie in dem ganzen Trubel noch hörte. Dann sprang jemand vom Wagen – im nächsten Augenblick lag sie in den Armen ihres Liebsten.

„Mein Eichkatzel!“ rief er jubelnd, „mien lütt söt Katteeker!“ Er sagte es ganz falsch – aber das machte nichts, es klang doch süßer wie die schönste Musik in den Ohren der glücklichen jungen Braut.

Dann hielt er sie bei der Hand und schaute ihr tief und selig in die Augen. „Und nun, mein Lieb, gilt auch für uns beide der Wahlspruch Deines Vaterlandes, das uralte Wort – unser Losungswort fürs ganze Leben:

,Up ewig ungedeelt!‘“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 595. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_595.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)