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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

denn sie war plötzlich von einer fahlen Blässe und die Augen schienen wie eingesunken. Sie schüttelte den Kopf, ließ das Blatt sinken, besah ein paar Kassenscheine – von welchem Wert konnte ich nicht erkennen – las wieder den Brief und ging dann rasch der Thür zu, die in ihr Zimmer führte.

„Mama!“ rief ich verzweiflungsvoll, denn ich war gewöhnt, daß sie mir alles rückhaltlos mitteilte.

Sie wandte sich und sagte: „Von Onkel Herbert ein Brief.“

„Von Onkel Herbert? Gute Nachrichten? Er schrieb ja ewig nicht, Mama!“

„Gute Nachrichten, Anneliese, es geht ihm nach Wunsch, er hat sich verheiratet, und –“

„Und das schreibt er erst jetzt?“

Aber sie antwortete nicht, sie ging. Erst viel später habe ich jenen Brief gelesen, der mir damals ein Geheimnis blieb. Ich besitze ihn noch, er lautet:

  „Liebe Schwester!

Es thut mir wahrhaft leid, daß Du Dich in einer so bedrängten Lage befindest, und schwer, sehr schwer wird es mir, Dir die Hilfe, die Du von mir heischst, nicht in vollem Umfange gewähren zu können. Ich habe zwar augenblicklich eine Stellung gefunden mit leidlichem Einkommen, aber – auf wie lange? Man muß doch auch an die Zukunft denken, denn, liebe Helene, ich – ich hätte es Dir längst mitteilen sollen – ich habe mich verheiratet vor drei Jahren, und schon sind zwei Kinder unser. Meine Frau, sie ist die Tochter des hiesigen Oberinspektors, ist sehr praktisch und führt genau Buch über unsere Einnahmen. Sie hat den Plan, unsere Buben sollen dereinst auf eigenem Grund und Boden sitzen, und legt jeden Pfennig für die Kerlchen zurück. Ich hoffe, ich kann Dir öfter unter der Hand eine Kleinigkeit schicken wie heute, und später auch wohl eine größere Summe, ich habe es nicht vergessen, daß ich Dir viel schulde. Wer helfen könnte! Du hast ja aber nur ein Kind und dazu eine Witwenpension, vor wirklicher Not bist Du also geschützt. Leb’ wohl, liebe Helene, grüße Dein Kind und sei versichert, daß wenn ich in bessere Lage komme, ich an Dich

denken werde. Jetzt – man ist eben nicht Alleinherr seiner Handlungen – leb’ wohl!

Dein treuer Bruder Herbert.“ 

Unten war vermerkt: „Anbei zwei Fünfzigmarkscheine.“

Das schrieb der Mann, dem sie einst den Sparpfennig geopfert, der sie und ihr Kind vor äußerster Not schützen sollte!

Wie gesagt, damals kannte ich den Inhalt dieses Briefes nicht und ebenso wenig die wirkliche Notlage, in der sich Mama befand. Ich hatte sie nie klagen hören, ich dachte zwar, wir wären arm, aber doch vor dem Aeußersten geschützt, und glaubte, Onkel Herbert, von dem wir so lange nichts gehört hatten, sei in guter Stellung und Lage, besaß ich doch keine Ahnung, daß er noch als Assessor umgesattelt hatte und Oekonom geworden war, nicht gerade aus Lust und Liebe zur Landwirtschaft, sondern um sich vor seinen Gläubigern zu retten; er hatte in Berlin etwas zu viel Geld verausgabt und war dann nach Ungarn gegangen, und der Brief meiner Mutter mußte ihn dort gefunden haben.

Von alledem wußte ich nichts, ich wunderte mich nur, daß Mama so verstört gewesen war und so lange in ihrem Zimmer blieb. Wir nannten es den „Salon“; Mamas Schreibtisch stand darin, ihr Nähtischchen, eine Chaiselongue und ein paar nette Rokokomöbel, die noch von Mamas Großmutter herstammten. Das Zimmer hatte durch die ganze Anordnung, durch Blattpflanzen, die Mama zärtlich liebte, und durch einige nachgedunkelte alte Familienbilder ein behagliches, fast elegantes Aussehen, und wir wetteiferten beide, es noch durch allerhand kleine Spielereien zu verschönern. Dort empfing Mama ihre Besuche, dort hielt sie ihre Whistkränze und dort schloß sie sich ein, wenn sie weinen wollte.

Ich mußte noch lange pochen, ehe sie öffnete und ich den alten Freund unseres Hauses, den Sanitätsrat, anmelden konnte. Sie war sogleich bereit, ihn zu empfangen, und ich hörte nur noch, wie er sagte: „Ei, ei! Was ist’s denn wieder einmal, Frau von Sternberg? Sie weinen ja!“ Dann schloß sich die Thür hinter ihm, und ich stand allein am Fenster unserer Wohnstube und sah in dem sinkenden Oktoberabend auf den todeseinsamen Hof hinab, der recht herrschaftlich mit einem großen von eisernem Kettenwerk eingefriedigtem Rasenplatz geschmückt war. In der Mitte erhob sich ein schön gemeißelter Sandsteinbrunnen, dessen wasserspeiender Löwe das Wappenschild derer von Serrenburg noch immer in den Pranken hielt, sicher zur besonderen Freude des Herrn Wollmeyer, dessen drittes Wort war: „Feudal!“

Merkwürdigerweise war Wollmeyer bei allen Leuten im Städtchen beliebt, ich wenigstens fand es sehr merkwürdig, denn ich mochte ihn nicht leiden. Warum? Ich hätte es nicht zu erklären gewußt, hätte auch nichts Greifbares gegen ihn vorbringen können und hütete wich daher, mit meiner Meinung herauszurücken, denn in diesem Falle hätte ich sogar Tante Komtesse gegen mich gehabt. Der Herr Stadtrat legte ja alljährlich um Weihnachten herum eine große Summe in die Hände der alten Dame, ohne die ihre „Armekinderbescherung“ höchst mangelhaft hätte ausfallen müssen. Der Herr Stadtrat that überhaupt unendlich viel Gutes. Er hatte ein Asyl gebaut für alte erwerbsunfähige Frauen, das er zu Ehren seiner Gattin „Johannen-Heim“ nannte; er hatte der Stadt ein Siegesdenkmal geschenkt und ein kunstreiches schmiedeeisernes Gitter um die Luther-Eiche; auf einem Dutzend Ruhebänken in den städtischen Promenaden waren die stolzen Worte zu lesen: „Gestiftet von Herrn Stadtrat Wollmeyer, seinen Mitbürgern zur Erholung“, sein Name stand obenan bei allen Sammlungen. Er vertrat die konservative Partei der Stadt im Landtage; er fehlte Sonntags niemals in der Kirche, gab ausgesuchte Diners und lud Jagdfreunde zu seinen Feldjagden ein, deren großes Revier er den Bauern teuer genug abgepachtet hatte. Er schickte der Reihe nach in die Häuser der Honoratioren Hasen oder ein paar Rebhühner, je nachdem, beschenkte die Kinder seiner Bekannten zu Weihnachten mit den leckersten Süßigkeiten und zu Ostern mit bunten Eiern, kurz, Männer, Frauen und Kinder Westenbergs fanden keinen Tadel an ihm, dahingegen sehr viel zu loben. Schade nur, daß er Hannchens wegen doch von der eigentlichen Gesellschaft ausgeschlossen geblieben war, daß er nie einen Platz am Stammtisch der alten verabschiedeten Offiziere behaupten konnte, daß der Landrat bei seinen offiziellen Herrendiners zu Ehren des Präsidenten der Provinz stets vergaß, für Herrn Wollmeyer decken zu lassen, und daß das Knopfloch seines Fracks bis jetzt gänzlich ungeschmückt geblieben war. Ich wußte aus feinem Benehmen, daß er diese Mißerfolge seinem Hannchen zur Last gelegt und sie in solcher Stimmung abscheulich behandelt hatte. Kinder haben ein scharfes Auge für Ungerechtigkeiten. Das war’s wohl auch, weshalb ich den Herrn Stadtrat nicht leiden mochte; ich war empört über die absichtlich nachsichtige mitleidige Art, mit der er vor andern von seiner Frau sprach und auch von der Base, die übrigens nie in Gesellschaft erschien. Ich wußte ja, wer regierte, wußte, daß er eine Taktlosigkeit über die andere begangen haben würde ohne diese einfache Frau.

Eben sah ich ihn über den Hof kommen, neben ihm schritt die Base, sie kehrten wohl vom Kirchhof zurück, wohin sie einen Kranz zum Gedächtnis getragen hatten. Ja richtig, die Base hatte ja mit meiner Mutter sprechen wollen, wohl wegen der Wohnung! Ach, diese Wohnung! Es würde doch sehr schwer sein, sie zu verlassen und in so ein kleinbürgerliches Haus zu ziehen, fort aus diesen Räumen, die trotz aller Mängel der Tapeten und Oefen, trotz der Mäuse und der altersschwachen ungenügend schließenden Fenster so vornehm waren.

Wie lange der Sanitätsrat heute blieb und wie leise sie sprachen!

Da klopfte es – ein ganz ungewohntes lautes unverschämtes Klopfen, das ich noch nie gehört. Wer mochte es sein? Der Base Himmel ihr schüchternes tapp, tapp! war es nicht.

„Herein!“ sagte ich zögernd.

„Störe ich, gnädige Frau?“ fragte eine Männerstimme. „Ah, Sie sind da, Fräulein Anneliese? Würde ich die Frau Mama sprechen können, einen einzigen Augenblick nur?“

Der Stadtrat selbst! Wunderbar, daß er jetzt heraufkam! Er war nie wieder dagewesen, seit er, noch zu Papas Zeiten, bei seinen wiederholten freundschaftlichen Besuchen die „Herrschaft“ merkwürdigerweise niemals zu Hause getroffen, selbst wenn er sie kurz vorher hatte die Treppe hinaufgehen sehen.

„Mama?“ fragte ich verwundert. „Mama hat Besuch vom Herrn Doktor.“

„Erlauben Sie, daß ich etwas warte, Fräulein Anneliese, da ich nun doch einmal hier bin.“

Er könnte auch „Gnädiges Fräulein“ sagen, dachte ich ärgerlich, mir war eben nichts recht an dem guten Mann.

„Ihre Frau Mutter hat mich sehr betrübt,“ begann er wehleidig, seinen funkelneuen grauen Cylinder behutsam neben seinen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 615. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_615.jpg&oldid=- (Version vom 22.8.2022)