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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Wir standen vor der Hausthür. Da zog er seinen Arm aus dem meinen und legte mir die Hände auf die Schultern. Von seinem Gesicht sah ich nicht viel bei der Dunkelheit, aber ich hörte es an dem Klang seiner Worte, wie’s darauf aussah. „Siegfried, Frieden hast Du gebracht und Sieg hast Du erfochten und ich hab’ keine Schulden mehr! Nur eine grosse noch, und die mag unser Herrgott Dir bezahlen – reichlich!“

So zogen die beiden Pfarrherren heim von ihrem Stiftungstag. Der eine, der Hausherr, hat vielleicht wenig in dieser Nacht geschlafen und seine Frau geweckt und die Verwunderte geküßt, zwei-, dreimal, wie einst im Wagen unter den Tannen, und ihr trotz allen Verbots eine Geschichte erzählt von überwundenem Leid, die auch ihr den Schlaf vertrieb. Der andere aber schlief wie ein Murmeltier.

Als ich am Morgen, nicht ganz früh, die Treppe herunterkam, stand da auf dem Flur ein junges Mädchen, ganz Glück und Sonnenschein, reichte mir beide Hände und sagte schnell: „Was Sie meinen Eltern Gutes gethan, das weiß ich nicht, ich weiß nur, daß alles anders ist.“

„Freut mich, Else,“ antwortete ich, „konnte wohl auch nichts schaden. Führen Sie mich nachher in den Wald zu Ihren Quellen und Thälern?“

„O, wie gern! Vater ist zu einem Schwerkranken aufs Filial geholt worden –“ Da kam die Mutter. Was doch aus Menschenaugen werden kann von gestern auf heute! Sie sagte gar nichts, nicht einmal Guten Morgen, und drückte meine Hand nicht besonders fest; und doch hat kein Dank im Leben mich so gefreut.

Ich ging neben Else her. Ein klarer Morgen, heller Sonnenschein, Licht über der ganzen Welt. Da unten im Waldthal, tief verborgen, rauschte eine Quelle. Dort setzten wir uns auf zwei Steine, die dicht nebeneinander lagen. Fröhlich ließ sie die braunen Augen umgehen. „Ist’s hier nicht schön?“

Ich nickte und zündete mir in stillem Behagen eine Cigarre an. „Also gehört hatten Sie schon von mir, Else?“

„Freilich,“ sagte sie lachend, „und Ihr Bild im Album kannte ich schon als ganz kleines Kind. Aber jetzt hätt’ ich Sie mir anders vorgestellt, mit weißer Binde und ohne Vollbart und ein bißchen grau wie der Vater. Sind Sie denn soviel jünger, da Sie doch zusammen studiert haben?“

„Ich bin drei Jahre jünger.“

„Ich hätte mindestens zehn gesagt,“ entgegnete sie munter. „Aber Sie haben’s auch besser gehabt als er,“ setzte sie leise hinzu – mit einem Mal griff sie schnell nach meiner herabhängenden Hand. „Bitte, bitte, sagen Sie mir, wie haben Sie’s angefangen, soviel Sonnenschein in unser Haus zu bringen? Ich hörte den Vater singen, als er aufstand, und als die Mutter hereinkam, riß er sie in die Arme und küßte sie, und sie sahen wie zwei Brautleute nebeneinander aus. Sehen Sie“ – fuhr sie fort und schaute mir dabei mit so köstlichem Ausdruck in die Augen – „ich kenne Sie ja gar nicht und hab’ doch gleich gestern am Brunnen solch inniges Vertrauen zu Ihnen gehabt. Und darum will ich Ihnen auch sagen, was mir jedem andern gegenüber eine Unmöglichkeit wäre: wir haben viel Unfrieden im Hause gehabt und ich hab’ oft geweint, wenn ich die Mutter still die Hände ringen sah. Und nun wird alles gut und ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.“ Ein süßes Freudenlicht leuchtete in ihren Augen.

Ich nahm ihre Hände. „Ich verspreche Ihnen, Else, daß ich mir meinen Lohn als Wolkenschieber gelegentlich schon berechnen will. Wer weiß, ob ich Ihnen nicht zu teuer werde!“

Sie schüttelte den schönen Kopf und sah mich still an. Es war eine köstliche Stunde hier in der Waldstille beim Murmeln und Rauschen der Quelle. Kühl und duftig um uns her die Luft, die Welt weit, weit weg. Es war wie im Märchen.

„Else, ich kannte Sie schon, ehe ich Sie gestern erblickte, durch meinen Neffen, Hermann Winkler –“

„Ach so, der!“ lachte sie unbefangen, „ein netter junger Mensch, aber etwas sehr galant!“

„Else, wissen Sie, wie Sie mir jetzt vorkommen?“

„Nun?“ fragte sie lächelnd.

„Wie die Nixe dieses Wassers, und ich wie der fahrende Mann, der sie überrascht und gefangen hat. Sehen Sie, Sie können nicht los –“

„Ich will ja auch gar nicht,“ sagte sie freundlich. – –

Ich blieb noch drei Tage bei meinem Freund, Tage voll stillen großen Glücks. Am letzten Morgen kam ich Else entgegen, als sie gerade auf ihr Zimmer wollte. Es lag dem Fremdenzimmer gegenüber. Wir verkehrten als herzliche Freunde miteinander. „Darf ich einen Blick in Ihr Mädchenstübchen werfen?“ fragte ich, ihre Hand fassend.

„Gewiß, aber erwarten Sie kein Boudoir!“ sagte sie einfach. „Hier!“ Sie öffnete die Thür. Glänzend weiß alles, Wände und Vorhänge und Bett, nur die Weinranken, die vors Fenster gezogen waren, und die blühenden Geranien und Fuchsien brachten Farbe hinein. An der Wand hing ein Brett mit Büchern. Darunter das kleine, mit buntem Kattun bezogene Sofa. Ich setzte mich drauf, es war sehr hart. Sie lachte in ihrer reizenden Art. „Im Grunde nur eine große Kiste, die Polsterung von Moos aus dem Walde.“

Ich sah sie an und sagte mir mit stillem Bangen: „Siegfried, Du hast das Mädchen sehr lieb, lieber, als Du je eine gehabt hast.“

„Sie schauen mich so ernst an, woran denken Sie?“ fragte sie und neigte sich über ihre Blumen.

„Daran, daß ich fort muß und wir nicht mehr durch den Wald streifen werden.“

„Ach, es war so wunderschön,“ gab sie leise zur Antwort; „Sie sind mir so viel gewesen!“

„Else, geben Sie mir noch einmal die Hände –“

Sie stand vor mir, jung und schlank, und legte ihre Finger in meine ausgestreckten Hände. Ich sah lange zu ihr auf, sie zu mir nieder.

„Else!“ rief unten die Mutter.

„Ich muß gehen!“ flüsterte sie.

„Leben Sie wohl und grüßen Sie die Quelle!“

„Das will ich thun und an alles denken, was Sie da zu einem jungen thörichten Ding gesprochen –“

„Else!“ klang es wieder von unten.

Sie machte ihre Hände los.

„Else, wenn Sie einmal einen Menschen gebrauchen, dann denken Sie an den alten Freund Ihres Vaters!“

„Tausend, tausend Dank!“ sagte eine süße Stimme. Und ehe ich es ahnte, hatte sie sich über meine Hand gebückt und hatte sie geküßt mit weichen warmen Lippen. Und dann war ich allein. Ich lehnte gegen die Wand und sah durch die Geranien hinaus in den blauen Himmel, von dem die Sonne so hell und heiß herabschien. So schien sie jetzt herab auch auf ein einsames großes Haus nah’ der Kirche in meinem Dorf – –

Es war ein fröhlicher Abschied, als ich von dannen fuhr. Auch mit den Kindern allen war ich gut Freund geworden. „Behüt’ Gott – und auf Wiedersehen!“ klang es herzlich. Frau Elsbeth hatte Thränen in den Augen. Und als ich zurückblickte, sah ich aus Elses Giebelfenster ein weißes Tuch wehen. Ein Geraniensträußchen hatte ich im Knopfloch.

Werner kutschierte selbst. Er war ein anderer als am Tage, da ich kam. Auf dem Bahnhof tranken wir den letzten Schoppen. „Sagen thu’ ich Dir nichts, Siegfried,“ war sein letztes Wort, „aber Du weißt, wie es im Herzen eines Menschen aussieht, wie ich einer bin durch Dich, auch wenn er schweigt. Aber, nun gesteh’ mir auch,“ unterhrach er sich und legte die Hand auf meinen Arm, „wie kamst Du dazu – man findet solche Wunderkraft der Liebe nicht oft in der Welt – wie kamst Du dazu, den Gedanken zu fassen, daß Du mir so helfen wolltest aus der Not?“

„Wie ich dazu kam, Werner? Als Du mir erzähltest, daß Du dem weinenden Mädchen die fünfzig Thaler gegeben, ihren Vater zu retten. Nun weißt Du’s! Behüt’ Dich Gott!“ Wir drückten einander die Hände. So fuhr ich dahin.


Im Frühherbst. 
Da sitze ich denn wieder daheim in meiner stillen, ach so stillen Klause. Vor mir liegt ein Brief Werners. „Welche Wandlungen sind in meinem Hause vorgegangen,“ schreibt er mir, „seit Deinem gesegneten Hiersein. Du hast recht: Liebe vermag alles. Es ist Friede bei uns. Meine Frau ist wie erwacht zu einem neuen Leben, seitdem ich ein Anderer, Besserer geworden bin, und meine Else, auf deren junger Stirn sonst der Ernst oft so schwer lag, singt jetzt den ganzen Tag durchs Haus –“

So, Werner, also bei Dir hat sich’s gewandelt? Bei mir auch! Wo ist mein stilles Behagen und Genügen geblieben? Meine Freude an dem Winkel Erde hier, mein Gefallen an den einsamen Wegen, auf denen ich ging? Es ist alles anders

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 626. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_626.jpg&oldid=- (Version vom 14.12.2022)