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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

geworden. Mich hat’s gefaßt mit täglich wachsender Gewalt. Es ist ein Gast bei mir eingekehrt, ein holder Gast, auf den ich nimmer gerechnet – Frau Minne ist über Land gefahren und hat an meine Thür geklopft, und ich einsamer Gesell hab’ ihr aufmachen müssen. Viel Licht und Glanz kam mit ihr ins Haus, aber auch viel Unruh’ und Qual in ihrem Gefolge. Else, wie ist’s denn möglich? Das junge Kind und ich alter Mann! Nein, alt nicht. Ich recke die Arme, stark und frisch, wie der jüngste! Mein Herz geht in mächtigen Schlägen! Es hat lange Ruh’ gehabt, nun ist’s erwacht. An dies Herz möcht’ ich Dich ziehen, auf diese Arme möchte ich Dich heben und Dich über meine Schwelle tragen, ein stolzer Mann, stolz auf seine Bürde. Ich kann jung denken wie Du, ich kann mich freuen wie Du im hellen Lachen Deiner Fröhlichkeit. Dreiundzwanzig Jahr’ älter! Und dreiundzwanzigmal ist meine Liebe inniger, fester als die der andern, die um Dich werben mögen! – Else, es ist lange lange her, daß ich gedichtet hab’. Als ich von Dir ging, da hat der Quell wieder geströmt, und daran hab’ ich’s gemerkt, wie lieb ich Dich hab’.

Und soll’s denn auseinandergeh’n
Und soll’s geschieden sein,
Ich denke immer doch zurück
An Deiner Augen Schein,

So wie ich einsam Dich geseh’n
In Deiner Schönheit Glanz,
Wie Du des Freundes Seele hieltst
Im Zauberbanne ganz,

Wie ich mit Dir, Du holde Frau,
Beglückt hinging durch Berg und Au,
So ruf’ ich Dir’s beim Scheiden zu:
Mein Denken und mein Glück bist Du!

So greif’ denn zu, Siegfried, und hol’ Dir Dein junges Glück! Doch nein – ich bin kein Knabe mehr.

Ich will hinaus in die Luft, in den Wald. Frische, freie Luft!


Am Jahresschluß. 
Es ist Weihnachten gewesen. War früher ja auch einsame Zeit, jetzt nicht zum Ertragen. War ein köstlicher Winterabend, der Heilige Abend. Vollmond, alles auf Meilen hin bereift. Der Waldsee lag wie ein glänzender starrer Krystallspiegel da, und das Mondlicht, das bleiche, schien aus ihm zurück. Ich saß auf dem Stein unter der Eiche. Waldfrieden, Grabesruhe und ich ganz allein in der Welt unter den glitzernden Sternen. Es war nicht zum Aushalten. Und statt dessen – wie hätte es statt dessen sein können! Dein junges Leben neben mir in meinem Hause, Else, Deine Hände um meinen Hals, Dein Haupt an meiner Schulter, das Licht des Tannenbaums in Deinen leuchtenden Augen sich spiegelnd – – –


Im November. 
„Vater verunglückt! Kommen Sie schnell!“ Das Telegramm lag auf meinem Tisch, als ich heimkam. Acht Tage vorher war Werner bei mir gewesen. Wie hatte ich ihn willkommen geheißen! Aber von dem, was in meinem Herzen lebte, hatte ich ihm nichts vertraut, das war mein heiliges Geheimnis, an das durfte auch des Freundes Hand nicht rühren. „Wir fangen jetzt mit der Heuernte an,“ hatte er beim Wegfahren gesagt, „und leider werde ich selbst viel mitarbeiten müssen. Mein Knecht – Du kennst ihn ja – ist vor kurzem endgültig aus dem Dienst gegangen, und ich habe noch keinen neuen. Wenn aber die Heuernte vorüber ist, und ich wieder Zeit habe, dann komm’! Und Dein Eingang sei gesegnet!“ Er drückte mir die Hand zum letztenmal in dieser Welt.

„Vater verunglückt! Kommen Sie schnell!“ Das war recht, Else, daß Du mein Wort behieltest und in der schrecklichen Not an meine Hilfe dachtest. Meine Pferde kamen gerade vom Felde – mit dem Ackergeschirr ließ ich sie vor den Wagen legen; wenn ich sehr eilte, konnte ich noch zum Mittagszug auf der Station sein. Wir fuhren Galopp, der Knecht murrte laut über Schinderei; vorm Bahnhof hielten die Pferde zitternd an, der Zug stand schon da. Ohne Gruß wandte der Kutscher. Ich sprang hinein in den Waggon. Vorwärts! Vorwärts! Mir war, als ob nun auch mein Geschick in Erfüllung gehen müßte.

Als ich vor Werners Haus aus dem Wagen sprang, kam mir Else entgegen; verzweifelnd, kaum sich haltend. Sie lehnte das Haupt an meine Schulter und weinte, wie man um einen gestorbenen Vater weint. Dann richtete sie sich auf. „Gut, daß Sie gekommen sind! Helfen Sie mir! Mutter liegt halb bewußtlos.“ Mit gläubigem Vertrauen sah sie zu mir auf.

„Else, führen Sie mich zu ihm!“

Sie zitterte wie Espenlaub in meinem Arm, als sie mit mir vor der Leiche stand und meine Thränen auf sein zerschmettertes Angesicht fielen. Das war dein Ende, du schöner stolzer Bursche: nach einem verfehlten Leben vom Wagen geschleudert und am Brunnenrand die Stirn zerschmettert, hinter der so tiefe Gedanken gearbeitet, die du so hoch getragen und so frei in den Tagen der Jugend!

Stille heilige Tage des Schmerzes kamen und gingen. Wir hatten ihn zur Ruh’ gebettet und die letzten Kränze auf sein Grab gelegt. Die Mutter lag im Fieber: die einzige Stütze ihres Lebens, der Mann, den sie in ihrer Art so grenzenlos geliebt, der war dahin. Sie hatte nicht die Kraft zu sehen, was ihr geblieben war.

Ich ging neben Else dem Hause zu. „Ich muß morgen früh reisen, darf ich nachher auf Ihr Zimmer kommen, daß wir noch alles bereden und ordnen und –“

„Kommen Sie!“ bat sie mit leiser Stimme.

Ich klopfte an ihre Thür. Sie selbst that mir auf, das süße Geschöpf im dunklen Trauergewand. Sie reichte mir beide Hände. „Hier, nehmen Sie, was wir an Dank haben für Sie!“

Ich hielt die Hände fest und zog sie an mich und sah ihr in die Augen. „Else, ich möchte diese Hände halten, immer halten, mein Leben lang –“

Sie zitterte. Hochatmend sah sie vor sich nieder, dann hob sie den Blick, einen Blick, den ich nicht vergessen, der in den tiefsten Tiefen meiner Seele zu forschen schien. Ihre Finger umspannten die meinen fest. „Ich habe gewußt,“ begann sie mit verschleierter Stimme, „zu meinem Leid und meinem unendlichen Glück hab’ ich gewußt, ich wollte es nur nicht sagen, daß und wie Sie meinen Vater gerettet. Ich hab’ es auch gewußt, daß ich Ihnen lieb war, zu meiner Wonne, denn geliebt sein von Ihnen war für mich ein unfaßbares mächtiges Glück, zu meinem Leid, denn ich sagte mir in Thränen. was kannst du Kind dem Manne sein? Wird er nicht mit dir spielen und dann das Spielzeug in den Winkel stellen? Ich habe so Trauriges gesehen und wie schwer es einer Frau wird, im Winkel zu stehen. Da hab’ ich mir gelobt, in solchen Stunden, Nein zu sagen, wenn der Mann, an den ich bei Tag und bei Nacht denken mußte, zu mir käme. Und ich kann auch jetzt nicht Ja sagen, ehe ich eine Antwort von ihm habe, und die verlange ich jetzt. Haben Sie an mich gedacht, als Sie meinem Vater das Geld schenkten?“ Sie stand hoch aufgerichtet, das Haupt zurückgeworfen vor mir.

„Bei Gott, nein,“ sagte ich, „ich hab’ an anderes gedacht. Dein Vater weiß, woran!“ Da faßte sie, ehe ich’s hindern konnte, demütig meine Hände und legte ihr heißes Gesicht darauf. „So nimm mich hin!“ Und sie hob das Gesicht und streckte die Hände nach mir aus. „Siegfried!“

Zum erstenmal hörte ich meinen Namen aus ihrem Munde. Ich zog sie an mich und bettete ihr Haupt an meinem Herzen. Sie blickte auf aus glänzenden verweinten Augen.

„Ich weiß wohl,“ sagte sie, „ich hätt’s doch nicht thun sollen, aber ich konnte nicht anders. So nimm das arme junge Ding hin – Du hast’s ja nicht anders gewollt!“

Am ersten November war ihr einundzwanzigster Geburtstag. Da sind wir getraut worden in der Kirche ihres Heimatdorfes. Und dann fuhren wir fort in ihr neues Heim, das ihr Fuß noch nicht betreten, ihr Auge noch nicht gesehen. Sie hatte es nicht gewollt. Fest lehnte sie auf meinem Arm, als die Thür sich uns aufthat; strahlenden Auges sah sie um sich und hinein in die Reihe der hellerleuchteten Zimmer. Da fiel mein Blick in den großen Spiegel uns gegenüber: ihre ganze Gestalt stand da vor mir – an der Seite des Einsamen ein junges glückliches Weib.

Draußen pfiff und brauste der Novembersturm ums Haus, und die ersten Schneeflocken fielen. Wir saßen einander gegenüber, erhoben die Gläser und ließen sie hell zusammenklingen. Und wie sie trank, schaute sie übers Glas weg mit liebenden Augen auf mich, und es niedersetzend, reichte sie mir die Hand, mit Lächeln fragend: „Hast Du mich lieb?“

„Ja, ohne Wandel!“

„Und ich Dich!“

Und des Sturmes wilde Jagd ging heulend weg über das Haus. Das Feuer auf dem Herd sprühte auf und sank zusammen, und der Hofhund verbarg sich in seiner Hütte, mit der Kette rasselnd. Um Elses Schultern wallte ihr langes dunkles Haar. „Siegfried, küsse mich!“

Und der Sturm heulte weiter, hinausrasend über den Wald, die Sterne verhüllend. Brause nur zu – meine Sterne, die verlöschest du nicht!


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 627. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_627.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2022)