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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

gerösteter Semmel liegend, so appetitlich wie die Base Himmel selbst, aber gottlob nicht so mager, dachte ich in meinem unartigen Mädchenkopf.

„Guteu Abend, Base,“ sagte ich, und als sie den Teller mit den Gerichten dem hübschen Stubenmädchen zum Servieren übergeben hatte, rückte ich mit meiner Bestellung heraus.

Ueber das alte runzelvolle Gesicht unter der schneeweißen Mullhaube zog ein flüchtiger roter Schimmer. „Ist recht, Fräulein Anneliese,“ sagte sie ruhig, „werd’s bestellen.“ Und dann schickte sie sich an, dem Herrn Stadtrat Gesellschaft zu leisten bei seinem „Souper“, indem sie die Schüssel Hafergrütze, die sie an jedem Abend ihres Lebens zu essen pflegte, ergriff und der Küchenthür zusteuerte. Bis in den großen Flur gingen wir miteinander, dann sagte sie noch einmal. „Ist recht, werd’s bestellen“ und verschwand in dem Eßzimmer, zu dem ihr das Mädchen die Thür öffnete. Ich konnte, mit dem Blicke folgend, den Herrn Stadtrat am Tische sitzen sehen, wie er bereits so einen unglücklichen Krammetsvogel zerbiß. Jedenfalls hatten ihm seine Gedanken und Beschlüsse den Appetit nicht verdorben.

Kaum war ich wieder oben in unserer Wohnung, da hastete das Stubenmädchen hinter mir her. Eine schöne Empfehlung, und der Herr Stadtrat freue sich sehr und wäre einverstanden, und seiner Zeit werde er den erneuerten Vertrag zur Unterschrift heraufsenden.

Meine Mutter, die hinter der Lampe am Tische saß, noch immer mit dem nämlichen blassen Gesicht, antwortete nur: „Ich lasse danken.“

Dann versank sie wieder in ihr Brüten. Ich holte meine Bücher herbei, das Schreibzeug und schickte mich an, ein Gedicht von Beranger in deutsche Verse zu übersetzen. Da schlug sie mit einer rascheu Handbewegung das Buch zu.

„Laß das!“

„Aber – Mama!“

„Laß das! Du siehst blaß aus – – es wird – es muß auch so gehen.“

„Aber diese Arbeit soll ich –“

„Nein! Nein!“ rief sie heftig, „Du sollst nicht! Es ist ja eine Thorheit von mir,“ setzte sie, sich fassend, hinzu. „Als ob’s durchaus nötig wäre, daß Du das Examen bestehst! Du kannst ja auch irgend etwas anderes – vielleicht später, Anneliese – aber erst erhole Dich – – wir machen Ferien, Anneliese, lange Ferien.“

Ich war noch so unbefangen, noch so jung, kannte damals das Leben noch so wenig, daß ich thatsächlich eine große Erleichterung fühlte nach ihren Worten. Meiner ganzen Natur widersprach es, Lehrerin zu werden; ich hatte Lust am Lernen, aber das Drillen zum Lehrerinnenberuf war mir verhaßt, und mein Kopf hatte längst nachgegrübelt, ob es denn gar nichts anderes in der Welt für ein Mädchen geben könne, als Lehrerin zu werden – der einzige Beruf, von dem Tante Komteß meinte, daß er einigermaßen standesgemäß sei.

Der Seufzer der Erleichterung mochte wohl sehr laut und ehrlich geklungen haben, denn über das Gesicht meiner Mutter flog ein liebes Lächeln und sie reichte mir die Hand über den Tisch. „Werde gesund, Anneliese, dazu kann ich Dir vielleicht helfen – ob Du glücklich wirst, weiß Gott allein.“

Ach, in der nächsten Zeit war ich sehr glücklich! Mit dem Aufhören der fortwährenden Anspannung aller Geisteskräfte durch meine so unglaublich viele Unterrichtsstunden kam zwar eine ungeheure Mattigkeit, ein völliges Erschlaffen über mich. Ich konnte stundenlang schlafen am Tage oder müßig am Fenster sitzen. Dann aber regten sich die Kräfte, und nun trieb es mich fort; ich ließ Mama keine Ruhe, bis sie mit mir hinaus in die Schneelandschaft wanderte, wer weiß wie weit auf der einsamen Landstraße, wo höchstens ein Torf fahrendes Bäuerlein mit seinem Ochsengespann uns begegnete, ein Schwarm Krähen mit heiserem Geschrei aufflatterte, so weit, daß wir den Schloßturm von Uetze nahe vor uns sahen und umwendend die abendlichen Lichter Westenbergs kaum noch zu erkennen vermochten, daß meine Mutter seufzte, sie könne nicht mehr fort und ich übertreibe eben alles, früher das Lernen und jetzt die sogenannte Erholung. Der Sanitätsrat aber lächelte und beschwichtigte Mamas Klagen mit dem Bemerken: „Es war die höchste Zeit, daß es so kam, lassen Sie sie, die unterdrückte Jugend will ihr Recht.“

Mama hatte plötzlich eine erwachsene Tochter. Mit vollen Zügen genoß ich die höchst primitiven Vergnügungen Westenbergs, die Kaffee- oder Theeabende und die Mondscheinbälle, die viel weniger romantisch waren als ihr Titel, denn es handelte sich bei diesem einfach um die Erleuchtung der Landstraße für die Herrschaften vom Lande, die in rabenfinsterer Nacht nicht gern die Beine ihrer Pferde oder gar die eigenen Hälse riskieren wollten und deshalb nur bei Mondschein kamen.

Das Tanzen hatte mir, zu meinem unsagbaren Kummer, der Doktor verboten; nebenbei mangelte es auch gewaltig an Tänzern, mit Ausnahme von Weihnachten, wo meistens etliche Brüder und Vettern auf Urlaub anwesend waren. Der Herr Stadtrat pflegte bei diesen Festlichkeiten, in Ermangelung eines Sohnes, einen jungen Mann einzuführen, den er stets mit den Worten vorstellte: „Mein Neffe, von Brankwitz.“ Dieser Neffe mit der Berliner Aussprache, von dem man nie erfuhr, welchen Beruf er ausübe und der, wie man sich zuraunte, viel Geld hatte, imponierte uns zwar spottwenig, war jedoch schließlich als Tänzer willkommen. Er wurde auch Mama und mir zugeführt, nahm aber wenig oder gar keine Notiz von mir, wahrscheinlich weil ich nicht tanzte oder weil ich über ihn hinwegsah. Nun, jedenfalls störte er mich nicht in meinem Vergnügen; ich amüsierte mich und war es auch nur über die Toiletten der Damen, die Riekchen Wobser, die Schneiderin der Honoratiorenwelt, mit rührender Konsequenz sämtlich nach dem nämlichen Schnitt verfertigte, wobei sie nur die Farben verschiedentlich wählte, so daß wir aussahen wie eine Flaggensammlung: schwarz-weiß, rot-weiß, grün-weiß, blan-weiß etc.

Die schönste Erscheinung war und blieb unbestritten meine Mutter, trotz ihres einfachen schwarzen mit Spitzen garnierten Seidenkleides, das sie einmal wie allemal trug. Der wundervolle Hals hob sich daraus so schwanenweiß hervor und ließ ihre schlanke Gestalt nur noch ebenmäßiger erscheinen. Ich bewunderte sie über die Maßen und nahm es nicht im geringste übel, als der alte Major von Tollen in seiner soldatischen Derbheit sagte. „Ja, ja, kleines Fräulein, die Mutter erreichen wir nicht, die ist noch in zehn Jahre schöner, als wir heutzutage sind, ja, ja!“

Ich hatte gar nicht die Absicht, für schön zu gelten, ich war so neidlos – wie hätte ich meine Mutter beneiden können! Und ich war so glücklich über meine Freiheit – mit achtzehn Jahren hat man ein Recht auf Jugendfreiheit. In unserem Mädchenkreise war ich die Uebermütigste von allen ich lebte in den Tag hinein wie ein losgelassenes Füllen und fand das Dasein trotz aller Kargheit bezaubernd – diesen einen Winter lang.

Zum Frühjahr aber kam die Mattigkeit wieder stärker über mich, ich fühlte meine Glieder wie Blei, ich konnte die Treppen nicht ersteigen ohne atemloses Herzklopfen, und so sehr ich mich auch bemühte, den Husten zu unterdrücken, ich ward seiner nicht Herr.

„Anneliese, aber Anneliese!“ klagte dann meine Mutter, das blasse Entsetzen auf den zitternden Lippen.

Doch ich lachte sie aus. „Was bildest Du Dir ein, Mama! Ich habe jedes Frühjahr gehustet, im Sommer geht’s wieder vorüber.“

Die Base kam und brachte Eingemachtes und frische Eier und tröstete mich mit allerlei kleinen Aufmerksamkeiten und ermunternden Worten, und der Herr Stadtrat hielt es für nötig, sich alle Augenblicke höchstselbst nach meinem Befinden zu erkundigen oder sich zu Mama und mir in den Garten zu setzen, wenn wir die Frühjahrssonne aufsuchten. Ich antwortete ihm kaum, mischte mich nie in ein Gespräch und behandelte ihn, wie Papa ihn behandelt hatte. Aber Mama unterhielt sich mit ihm viel mehr als sonst. Er erzählte oft von seiner Besitzung im Thüringer Wald und der herrlichen Gegend, in der sie liege.

„Sie meinen wohl die Mühle?“ fragte ich einmal.

„Die Mühle,“ gab er zurück, „und das Rittergut nicht weit davon, mit seinem reizenden Schlößchen. Die Luft sollten Sie atmen, Fräuleiu Anneliese!“

„Anneliese ist die feuchte Luft hier sehr angenehm, und der Garten ist ja so schön,“ antwortete Mama ablenkend. Und sie nahm das Buch empor, aus dem sie mir vorlas, jedenfalls in der Hoffnung, der Herr Stadtrat werde sich empfehlen. Aber er empfahl sich nicht, er blieb stundenlang da bei uns sitzen und unsre Bekannten, die sich in treuer Gewohnheit nach Mamas und meinem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 630. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_630.jpg&oldid=- (Version vom 22.8.2022)