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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Trotz des ärztlichen Verbotes konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, an diesem letzten Abend noch gegen neun Uhr den Garten aufzusuchen; in den Stuben brütete eine so dumpfe schwere Luft. Mama war nicht daheim, sie war vor kurzem mit Hut und Umhang durch das Zimmer gegangen und hatte von einem Besuch bei Fräulein Melitta von Tollen gesprochen, der sie Lebewohl sagen wolle. Ich hatte ihr einen Gruß an das Puppenfräulein aufgetragen, und sie solle doch ja fragen, ob das Unerhörte wahr sei, daß Adalbert Becker sich um Lore von Tollen bewerbe. Nun suchte ich ebenfalls ein leichtes Tuch und schlich die Treppe hinunter.

Im Hausflur brannte die Lampe, die Base saß dort neben der Köchin und schnitt Bohnen zum Einlegen. Mit einem flüchtigen: „Guten Abend!“ ging ich vorüber und zur Thür hinaus. Die Uhr der Marienkirche drüben schlug Neun. Ein blasser Mondenschein, der nur mühsam durch Gewitterwolken drang, lag über dem stillen Hof; die Pforte der Gartenmauer stand weit geöffnet und in der Gärtnerwohnung brannte Licht. Die kleinen Kinder des Mannes hockten noch in Nachtjäckchen auf der Schwelle der Hausthür und riefen ihr „Guten Abend, gnä’ Fräulein!“ hinter mir her.

In dem großen parkähnlichen Garten atmete ich auf; von dem Weiher, der die Grenze nach den Wiesen zu bildete, kam eine feuchte dufterfüllte Luft herüber. In der Ferne, hinter dem Dorfe, wetterleuchtete es unaufhörlich. Langsam schritt ich dem am Wasser gelegenen Teil der Anlagen zu. Dort stand ein kleines Mooshüttchen, da wollte ich sitzen und träumen. Es war ja ein Sommerabend wie im Märchen, so schön, so stimmungsvoll weich, und ich war achtzehn Jahre alt, und wiederkehrende Gesundheit und lichte Hoffnungen klopften in meinem Herzen, die Erwartung von irgend etwas Wundervollem, Herrlichem, das Verlangen nach Glück.

Der Schatten der Bäume, unter denen das Hüttchen lag, war sehr tief; desto lichter hob sich die mattglänzende Wasserfläche ab, in der sich das Zucken der Blitze spiegelte. Fast lautlos war ich herangekommen, da stockte mein Fuß – aus der Mooshütte, an deren Seitenwand ich eben stand, im Begriff, im nächsten Augenblick den Eingang zu erreichen hörte ich die halblaute flötende Stimme des Herrn Wollweyer: „O, sei doch nicht so eilig, bleib’ doch noch, ich darf Dich ja wochenlang nicht sehen!“

Halb hatte ich mich schon gewandt, da blieb ich wie angewurzelt stehen, ein Schrei des Entsetzens wollte sich mir entringen und erstarb doch in der Kehle in einem krampfhaften Schluchzen. Meine Mutter, meine Mutter hatte geantwortet! Ich weiß noch jedes dieser Worte, die mich so unglücklich gemacht haben wie nichts mehr im Leben, denn sie vernichteten das Vertrauen, die Liebe, die anbetungsvolle Achtung eines Kindes für seine Mutter in einem einzigen Augenblick, wie ein gewaltiger roher Hammerschlag ein Götterbild zertrümmern mag.

„Wochenlang nicht, aber ich komme ja wieder und dann –“ hörte ich meine Mutter sagen.

„Dann?“ fragte er halberstickt.

„Dann löse ich mein Wort und werde die Ihre.“

„Helene!“ hörte ich ihn leidenschaftlich rufen, „Helene!“

Ich aber flüchtete über den nächsten Rasenplatz, und weit drüben kniete ich am Fuß einer großen Linde nieder, schlang die Arme um den alten Stamm, stieß den Kopf gegen die Rinde und wand mich wie in körperlichen Schmerzen. ,O, Papa! Papa!‘ Weiter konnte ich nichts sagen, aber ich wiederholte es mechanisch immerzu. „Wäre ich mit Dir gestorben, wäre ich bei Dir, Papa!“

Endlich raffte ich mich auf, zur rechten Zeit, um mich zu verbergen, denn sie schritten dicht an mir vorüber auf dem Kies, diese schlanke königliche Gestalt und neben ihr der verhaßte gewöhnliche Mensch, der entweihend den Arm um ihre Hüften gelegt hatte. Und dann blieben sie stehen, er brach eine Rose, die leuchtend weiß aus dem Dunkel schimmerte, und überreichte sie ihr mit einer süßlichen Redensart, die mir das Blut in die Wangen trieb – und sie nahm sie, meine Mutter nahm sie! Sie warf sie ihm nicht ins Gesicht, sie stieß ihn nicht zurück, sie dachte nicht an den Mann, dem sie einst gehörte, sie dachte nicht an ihr Kind!

„O, Papa, Papa!“

Mit einer Entschlossenheit, die schier über meine körperlichen Kräfte ging, folgte ich ihnen. Am Gartenthor trennten sie sich; er schritt zurück einen andern Weg. Mama ging ins Haus; fast unmittelbar hinter ihr trat ich in die Stube.

„Du bist noch aus?“ fragte sie und kam durch die Dunkelheit zu mir herüber, „willst Du Dich nicht legen, Herz?“ Und sie streckte die Hand aus, um mir kosend über die Wange zu streichen. Und da – da packte es mich wie Wahnsinn, ich schleuderte diese Hand zurück.

„Laß mich!“ schrie ich, „rühr’ mich nicht an!“

Einen Augenblick hörte ich nur das Keuchen meiner eigenen Brust.

„Anneliese?“ fragte sie leise und erschreckt.

„Laß mich fort von hier, ich will nicht bei Dir bleiben!“ Und unfähig, meine Erregung zu bemeistern, griff ich nach der weißen Rose, die sie in der Hand hielt, warf sie auf den Boden und trat mit den Füßen darauf.

„Ah!“ sagte sie leise, als gehe ihr ein Verständnis auf, und sie wandte sich rasch. An der Thür blieb sie stehen, aber sie redete kein Wort, als habe sie die Sprache verloren in der Scham vor ihrem Kinde. Dann ging die Thür und ich war allein. Ich hockte mich auf das Fensterbrett und nahm meinen Kopf in beide Hände. Ich kam zu keinem andern Ergebnis als zu dem: du hast keine Mutter mehr! Ich wollle fort von ihr, sie brauchte mich nicht, sie hatte ja den Bräutigam, bald einen Gatten, einen reichen Gatten, ich konnte mir allein meinen Weg suchen Ich fühlte Riesenkräfte in diesem Augenblick. Nur nicht hier bleiben, nur nicht mit ansehen müssen, wie das Geliebteste auf Erden, zu dem man aufgeschaut hat wie zu einem Heiligenbild, hinabsteigt in den gemeinen Staub des Lebens! Wenn ich nur hätte weinen können! Aber ich konnte nicht. Mein Kopf, mein noch immer so angegriffener Kopf – – lieber Gott, hilf mir, daß ich nicht wahnsinnig werde!

Stundenlang saß ich so, dann traf ein Lichtschimmer meine Augen.

„Du findest nicht den Weg zu mir, Anneliese?“ fragte Mama.

Ich rührte mich nicht.

„Du wirst Dich wieder krank machen,“ fuhr sie fort und setzte die Lampe auf den Tisch. Dann kam sie zu mir herüber und kniete neben mir nieder. „Anneliese, versprich mir, jetzt nicht darüber nachzudenken; wenn wir von der Reise zurückgekehrt sind, wollen wir alles bereden – nicht wie Mutter und Kind, nein wie zwei Freundinnen. Komm, sei gut, laß mich noch diese einzigen paar Tage genießen, wo ich – – noch frei bin.“ Sie hatte das letzte halb erstickt gesprochen.

„O, ich will nicht, daß Du das thust, ich will nicht reisen – ich – ich schreibe an Onkel Herbert, er soll kommen, er soll –“

Ein kurzes schrilles Auflachen von ihr unterbrach mich. „Onkel Herbert!“

„Er hat sich doch brüderlich gegen Dich benommen, er schickt Dir ja so oft Geld, wie Du selbst sagst!“

,Onkel Herbert! Ja, ja freilich!“

„O, ich wollt’, ich wäre tot! Ich wollt’, ich wäre bei meinem lieben Papa!“

Ihr schmales schönes Antlitz sah fast verzerrt aus in diesem Augenblick, aber sie schwieg und blickte starren Auges auf die Diele.

„Du darfst es nicht thun!“ schrie ich aufspringend, „Du kannst es nicht thun, Du kannst Papa nicht vergessen, sein Andenken nicht beschimpfen wollen, indem Du diesen – diesen – –“

„Schweig’!“ gebot sie, indem sie sich aufrichtete. „Ich kann nicht anders handeln – frage nicht mehr! Vergiß nicht, daß Du das Kind bist, dem es nicht ziemt, die Handlungen der Eltern zu beurteilen. Denke, daß ich diesen Schritt thun muß, daß ich ihn reiflich überlegt habe und daß er mir, Gott weiß, nicht leicht geworden ist. Denke nach und versuche, Dich darein zu finden – es ist unabänderlich!“

Sie hatte die Lampe wieder ergriffen und hielt mir die Hand hin. „Komm, laß uns schlafen gehen, Anneliese; wenn Du mich auch jetzt noch nicht begreifst, später, meine liebe –“

Das Kosewort erstarb ihr auf den Lippen, ich hatte mich hastig umgewandt, ohne die Hand zu ergreifen. Sie stand noch ein Weilchen; endlich ging sie. (Fortsetzung folgt.)     


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 632. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_632.jpg&oldid=- (Version vom 22.8.2022)