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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Meraner Fahnenschwinger.

Meran, Jnzing, im Wippthal – da und dort Musikkapellen, Schützenkompagnien u. s. w. für ihre Uniformierung die altheimische Volkstracht beschaffen werden. Ihnen aber wird gewiß in steigendem Maße auch die übrige Bevölkerung Nachfolge leisten, so daß allmählich das Alte, scheinbar dem langsamen Absterben Geweihte ins wirkliche Leben zurückkehren wird. Gelingt dies mehr und mehr im ganzen Lande – und zur Unterstützung solcher Bestrebungen war auch das Erträgnis des Innsbrucker Festes bestimmt – dann hat das „Komitee zur Erhaltung der Volkstrachten in Tirol“ die ihm obliegende Aufgabe in ihrem größeren Teile glücklich erfüllt. Wohl ist und bleibt es die Aufgabe der Neuzeit, ihre geistigen Errungenschaften auch in die weltentlegenen Winkel und Thäler, bis in die letzte Hütte zu tragen. Aber Fortschritt in Wissen und Bildung verträgt sich sehr wohl mit treuer Anhänglichkeit an das Schöne, das uns die Väter überliefert haben.


Blätter und Blüthen.

Der neue Gartenlaube-Kalender. Lange ehe die Schwalben südwärts ziehen und dem sinkenden Jahr den Abschiedsgruß zwitschern, pflegt ein anderer Zugvogel sich einzustellen, um ein ganzes Jahr uns treu zu bleiben – der Gartenlaube-Kalender! Auch jetzt ist der neue schon wieder da, der 1895er, in hübschem Gewand und wohl ausgestattet mit allerlei Nützlichem und Erfreulichem. Daß er alles bringt, was man von einem Kalender erwarten kann, Kalendarium und astronomische Notizen, Zeittabelle und Regentengenealogie, Bauernregeln und geschichtliche Gedenktage, Meß- und Marktdaten und statistische Mitteilungen aller Art, Post- und Telegraphentarife etc., das ist nur in der Ordnung. Aber der Gartenlaube-Kalender begnügt sich damit nicht: er will nicht bloß ein nüchternes Nachschlagebuch, er will auch ein unterhaltsamer Hausfreund werden, den man sich in den freien Stunden des Jahres mit Freude und Behagen zur Gesellschaft holt. Und so bilden denn allerhand ansprechende Erzählungen, Gedichte und Bilder den Hauptteil seines Inhalts, wozu eine Anzahl Artikel allgemein belehrender Art und eine ganze Reihe von Scherzen und Anekdoten kommen. Von den Erzählungen heben wir besonders diejenige unserer treuen Mitarbeiterin W. Heimburg hervor. Seit Jahren erscheint von ihr im Gartenlaube-Kalender die Novellenserie „Aus meinen vier Pfählen“, prächtige Familienbilder, die untereinander in einem bestimmten Zusammenhang stehen und doch wieder je für sich ein abgeschlossenes Ganzes bilden. Dieser Serie hat W. Heimburg heuer das siebente Stück, „Der silberne Hirschfänger“, hinzugefugt. Ernst Lenbach, durch seine herzerquickende Laune den Lesern der „Gartenlaube“ wohl vertraut, hat eine seiner gemütlichen Humoresken beigesteuert unter dem Titel „Der erste Patient“, während der unsern Lesern ebenfalls bestens bekannte Johannes Wilda in „Kapitänlieutenant Bacchus“ eine ernsthafte Geschichte aus dem Volksleben erzählt, deren Held, ein verabschiedeter Kapitänlieutenant, sich durch die Liebe zu einem schlichten Mädchen aus tiefem Verfall emporringt zu einem geläuterten Dasein. – So möge denn der neue Gartenlaube-Kalender seine gute Statt finden beim deutschen Volke und seine Freunde durch ein gesegnetes Jahr begleiten!

Eduard Unger ist gestorben – ein Künstler von liebenswürdigster Eigenart, ein guter heiterer Mensch, der „Gartenlaube“ ein fleißiger hochgeschätzter Mitarbeiter. Anfangs Juli hatte er sich von München nach Oberaudorf bei Rosenheim begeben, in der Hoffnung, dort Kräftigung seiner durch ein Herzleiden schwer angegriffenen Gesundheit zu finden; allein am 4. August erlag er einem wiederholten Schlaganfalle. Die Hand, die mit dem Pinsel und Zeichenstifte so köstliche Märchengestalten und Phantasiegebilde hervorzuzaubern wußte, so sinnig in der allegorischen Anspielung, so herzerfreuend durch drolligen Humor, so fein in der Ausführung, sie ist allzufrüh im Tode erstarrt.

Eduard Unger hat nur ein Alter von 41½ Jahren erreicht. Geboren am 4. Februar 1853 zu Hofheim in Bayern, kam er 1873 an die Münchener Kunstakademie und ließ sich auch, nach einer mehrjährigen italienischen Studienreise, dauernd in München nieder. Er stand jetzt so recht in der Vollkraft seines Schaffens und wie unerschöpflich flossen ihm die Ideen zu, welch’ reiche Hoffnungen hat hier der Tod zerstört!

Den Lesern der „Gartenlaube“ wird seine frische naive Künstlernatur noch lange in Erinnerung bleiben.

Eine Volksdichterin. Die deutsche Naturdichterin Katharina Koch, von der ich den Lesern der „Gartenlaube“ in Nr. 39 des Jahrgangs 1872 und dann wieder in Nr. 28 des Jahrgangs 1892 berichtet habe, ist nun schon zwei Jahre tot. Derartige Erscheinungen, solch poetische Sonntagskinder sind selten. Als die nun Verewigte ihr Auge für immer geschlossen, dachte ich nicht daran, daß unter den deutschen Frauen im Volke noch eine sei, die unter ähnlichen drückenden Verhältnissen ihre Stimme – freilich fast ungehört – im Dichterwald erhebe. Und doch giebt es eine solche, und ihr Gesang soll nicht verhallen, denn sie verdient, ans Licht gezogen zu werden.

Frau Johanna Ambrosius-Voigt – das ist der Name der Dichterin – lebt als Bauernfrau in Groß-Wersmeningken bei Lasdehnen in Ostpreußen. Die Tochter eines armen Handwerkers, besuchte sie bis zu ihrem elften Lebensjahre die kleine Dorfschule ihres Heimatortes und blieb dann bis zu ihrer Verheiratung bei angestrengtester härtester Arbeit im Hause der Eltern, in dem Armut und Krankheit herrschten. Ihre weitere geistige Ausbildung verdankt sie, wie sie schreibt, dem Lesen der „Gartenlaube“. Es ist rührend, aus ihren Briefen zu vernehmen, wie sie und ihre Geschwister sich den Genuß dieser Lektüre nur dadurch zu verschaffen vermochten, daß sie den Morgenkaffee ohne Zucker tranken. „Wir haben entbehrt,“ heißt es in einem dieser Briefe, „freudigen Herzens, um nur dem Geiste Nahrung zu geben. Wenn wir die Finger blutig gesponnen und die gewisse Anzahl Stücke am Nagel war, dann langten wir nach unserer geliebten ‚Gartenlaube‘.“

Mit zwanzig Jahren verheiratete sich Johanna Ambrosius an einen Bauernsohn, nachdem sie auf einigen Gütern als Wirtschafterin thätig gewesen war. Neue Kämpfe, neue Sorgen! Aber in dem vielen Leid, das ihr zu teil wurde, trat die Muse als Trösterin ihr zur Seite, ihr ward gegeben, zu sagen, was sie litt. Das ist alles, was über ihr äußeres Leben zu berichten ist. Ein doppelter Zweck ist es, der mich zu diesen Mitteilungen veranlaßt hat. Einmal möchte ich erreichen, daß der schönen poetischen Begabung dieser Volksdichterin die gebührende Würdigung zu teil werde, dann aber hege ich die Absicht, der leidenden und in sehr ärmlichen Verhältnissen lebenden Frau durch die Herausgabe ihrer Gedichte helfend beizustehen, wie ich es seinerzeit mit so glücklichem Erfolge bei Katharina Koch gethan habe. Und das wird mir leichter gelingen, wenn ich das Interesse des großen Leserkreises der „Gartenlaube“ wachgerufen habe, ein Interesse, das, wie ich zuversichtlich hoffe, nicht ausbleiben wird, wenn die Leser nur erst mit der nachfolgenden Probe aus dem poetischen Schatze der Dichterin bekannt geworden sind. Karl Schrattenthal.     


 Laßt sie schlafen!
Hart am schatt’gen Waldessaume, wo die goldnen Aehren rauschen,
Wo die bunten Sommerkinder Küsse mit dem Zephyr tauschen,
Wo des Rehes keusche Augen schauen durch das Blattgehege,
Schläft, von Mittagsglut umflossen, sanft ein Mägdlein auf dem Wege.

Mit der Sonne um die Wette flimmern goldig ihre Löckchen,
Leicht bedeckt die bloßen Schultern von dem arg zerriss’nen Röckchen,
Zärtlich um die braunen Füßchen sich die schlanken Halme schmiegen,
Drauf gleich bunten Edelsteinen Schmetterlinge sanft sich wiegen.

Rings umher nur Bienensummen, holder Elfen Zwiegeflüster,
Weltverloren dringt der Tauben traulich Girren aus dem Düster,
Sich die langen Seidenhaare aus der Stirn die Aehre fächelt,
Alles atmet Glück und Friedens hold im Traum das Mägdlein lächelt.

Was es träumt, es gleicht dem Bilde, das Natur ringsum gewoben:
Noch von keinem Feind bedrohet, noch von keinem Sturm zerstoben –
Sieht sich glücklich gleich den Blumen, die um keine Nahrung sorgen,
Schwebt auf leichten Vogelflügeln jubelnd in den jungen Morgen,

Sieht in jedem Menschenkinde holder Engel Spielgenossen,
Vom Palaste bis zur Hütte einem Stamme all entsprossen. –
Kinderzeit, mit deinen Träumen führst, in Lumpen oder Seide,
All die süßen kleinen Lämmlein auf derselben Märchenweide!

Lange stand ich vor dem Mädchen, in Gedanken tief versunken,
Hab’ an diesem Unschuldsbilde, meine Seele satt getrunken,
Wehrte ab den wilden Knaben, der mit seinem Wanderstecken
Wollt’, zum Zeitvertreib und Scherze, aus dem Schlaf die Kleine schrecken.

Singend zog er in die Ferne, als ich leise schlich von dannen,
Und es ging ein ernstes Rauschen durch die immergrünen Tannen:
Gönnt der Jugend ihren Schlummer, laßt die Kindlein ruhig träumen,
Glaubt, es wird das kalte Leben niemals seine Pflicht versäumen!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 647. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_647.jpg&oldid=- (Version vom 17.9.2023)