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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Ein Lieutenantsstreich.

Humoreske von Hans Arnold.

Ja, den hättet Ihr ’mal als blutjungen Lieutenant sehen sollen,“ sagte der Major und goß sich ein frisches Glas ein. „Was das für eim bildhübscher Bengel war, der Solten! Und so voll Tollheit und Uebermut – der ,Frechling‘ hieß er schon als Fähnrich – aber trotz seines vorwitzigen Schnabels konnte ihm niemand lange böse sein – ein famoser Bengel! Ich erlebte einmal eine Geschichte mit ihm – einfach unglaublich und nur dann möglich, wenn man eben so liebenswürdig unverschämt und so unverschämt liebenswürdig war wie Solten.

Er war damals noch ein ganz junger Dachs, ich sein Premier, und wenn er im Monat einmal statt fünfzig Dummheiten nur neunundvierzig gemacht hatte, so konnte er sich bei mir dafür bedanken – ich bin immer ein sehr vernünftiger Mensch gewesen.

Aber um auf meine Geschichte zu kommen – ich entsinne mich des Abends noch, als wenn es gestern gewesen wäre! Wir hatten einen unbeliebten Regimentskommandeur ,weggegessen‘ und waren so recht, was man quietschfidel nennt. Wir warfen uns in Civil, Solten und ich – es war ein kalter windiger Märztag gewesen – und fühlten uns zu allem aufgelegt, nur nicht dazu, den Abend zu beschließen wie alle andern Abende.

,Ich muß heut’ noch eine Dummheit machen,‘ sagte Solten wohl zehnmal, während wir Arm in Arm die Friedrichstraße herunter schlenderten, ‚ich habe gerade ein rasendes Talent dazu, und solche Augenblicke muß man nicht vorbei lassen!‘

‚Da thut man ein Unrecht an sich selbst,‘ ergänzte ich ernsthaft, und wir bummelten so weiter, in der schönen Hoffnung, daß der Zufall sich ein paar lustigen Gesellen schon günstig erweisen und ihnen irgend ein Abenteuer in den Weg werfen würde. So kamen wir nach dem Bahnhof Friedrichstraße, ließen uns Fahrkarten für die Stadtbahn geben – warum, weiß ich selber nicht mehr zu sagen – und gingen durch die Wartesäle und auf den Bahnsteig hinaus. Ich, ganz zerstreut und ohne auf irgend etwas oder irgend jemand zu achten, döse so vor mich hin. Da auf einmal packt mich Solten am Arm. ‚Stehen bleibeu!‘ sagt er.

,Ja, was hast Du denn?‘ frage ich ganz verwundert.

Da winkt er mit den Augen nach dem Damencoupé hin, an dessen beiden Fenstern zwei weibliche Wesen einander gegenübersaßen, eine Alte und eine Junge; die Junge recht niedlich, das war nicht in Abrede zu stellen ,Na ja!‘ sage ich, ‚ich sehe, aber nun komm’ doch weiter!‘

Allein er kam nicht, kein Gedanke! Er zwang mich, immer zehn Schritte mit ihm zu gehen und dann wieder Kehrt zu machen, immer vor dem betreffenden Coupé auf und ab und immer nach dem Grundsatz jenes Lieutenantstoastes auf die Damen: Augen links, Augen rechts – es leben die Vertreterinnen des schönen Geschlechts! –, je nachdem wir von der einen oder von der andern Seite herkamen. Nachdem die Sache etwa fünf Minuten gedauert hatte, wurde sie mir sträflich langweilig, ich verlor die Geduld.

,Nein,‘ sagte ich, ‚nun ist’s genug. Ich bin nicht mit Dir hierher gegangen, damit wir wie die Eisbären im Käfig immer vor dem Damencoupé hin und her taumeln – das ist ja toll!‘

‚Zugestanden!‘ meinte er und lachte, ,es ist toll – aber ist sie nicht bildhübsch?‘

Ich sah mir die beiden daraufhin genauer an. ,Die Junge – ja!‘ gab ich zu, ,aber die dazu gehörige Alte sieht aus, als wenn sie auf Urlaub aus dem Pfefferkuchenhäuschen wäre! Der Zahn ist gut! Dafür, daß er der einzige in seiner Art ist, könnte er viel größer sein! Sieh nur – sie gestikuliert ordentlich damit!‘

Er lachte wieder und antwortete nichts, sondern ging nur immer ganz unverdrossen seine Patrouille vor dem Damencoupé ab. Ich kannte das schon an ihm; wenn er ein hübsches Gesicht sah, da war nichts mehr mit ihm anzufangen.

‚Du,‘ begann ich wieder, ,geh’ jetzt weg! Die Alte fletscht schon ihren Zahn – wetten, daß sie Dich nächstens stellt?‘

,Wetten, daß mir das höchst egal ist?‘ antwortete er. ,Warum fährt sie mit einer so hübschen Nichte oder Tochter oder was weiß ich auf der Eisenbahn!‘

,Hoffentlich Nichte!‘ sagte ich, ,denn sollte die Schöne ihre Tochter sein, so warne ich Dich als Freund. Denk’ Dir die Alte als Schwiegermutter! Das Blut erstarrt mir in den Adern bei der Vorstellung.‘

In diesem Augenblick, während wir noch beide lachen, stand die alte Dame auf, beugte sich zum Fenster heraus und winkte Solten mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit zu sich heran – mit einem Zeigefinger, so lang und dünn wie ein Feuerhaken. Unheimlich anzusehen! Ich, feige, wie es dem Mann geziemt, zog mich ein paar Schritte in den Hintergrund zurück, aber nicht außer Hörweite. Ich dachte: springt sie ihn an, muß ich doch zu erreichen sein! Vorläufig sprach sie ihn aber nur an, mit einer Stimme, so sanft wie die einer ungeschmierten knarrenden Thür. ‚Mein Herr, ich bitte Sie, nicht immerfort in dieses Coupé zu sehen, es belästigt uns in hohem Grade.‘

‚Da hast Du’s!‘ dachte ich schadenfroh. Solten aber sah sie ganz kaltblütig an und sagte mit größter Ruhe. ,Ich bedaure, diesem Wunsche nicht entsprechen zu können – ich revidiere den Zug.‘

Nun, diese Unverschämtheit hätte ja eben durch ihre maßlose Unverschämtheit glücken können, aber er konnte sein Gesicht nicht so vollständig beherrschen; es zuckte ihm ein ganz klein wenig um den Schnurrbart, als ob er in der nächsten Minute hinauslachen müßte – und dies Zucken sah die alte Tante da drin in ihrem Raubtierkäfig. ,So?‘ gab sie giftig zurück, ‚Sie revidieren den Zug? Und mit welchem Recht, wenn ich fragen darf?‘

,Na, nun ist’s aus!‘ sagte ich vor mich hin, denn nach meiner unmaßgeblichen Ansicht blieb ihm nichts übrig als tief zu erröten und zu verschwinden. Aber der heillose Bengel macht sein feierlichstes Gesicht, nimmt den Hut ganz tief ab und sagt, ohne sich einen Augenblick zu besinnen, mit einer tadellosen Verbeugung und mit großem Nachdruck: ,Ich bin der verstorbene Bahnhofsinspektor!‘ Und ehe die Alte und die Junge Zeit finden, sich über diese erstaunliche Mitteilung und die ganze Tragweite des schlechten Witzes klar zu werden, macht mein Solten kurz Kehrt, nimmt mich unter den Arm, und wir gehen nun wirklich weiter und lachen so, daß sich die einsteigenden Passagiere alle noch Zeit nehmen, sich ganz verwundert nach uns umzusehen, obwohl es schon zum zweitenmal geläutet hatte.

‚Sag’ ’mal,‘ begann ich nach einer Weile, während deren wir uns einigermaßen satt gelacht hatten, ‚eine bescheidene Frage – schämst Du Dich eigentlich gar nicht?‘

‚Keine Spur!‘ entgegnete er so recht glückselig, und dann auf einmal: ‚Vahlberg, damit darf die Sache nicht zu Ende sein! Die Alte wird weiter geärgert. Es war zu niedlich, wie sie Wut schnaubte!‘

,Laß sie doch!‘ bat ich, denn ich fühlte ein menschliches Erbarmen. ‚Sie sah so schon aus wie eine Bombe im ersten Stadium des Platzens.‘

,Nein!‘ antwortete er ganz eigensinnig. ‚Rache muß sein! Ja, wenn sie mir’s noch liebevoll gesagt hätte, aber so! Komm, Vahlberg!‘ Und eh’ ich mich’s versah, zerrte mich der Unband nach einem Coupé - erster Klasse natürlich, darunter thaten wir’s damals nicht – und wir stiegen ein.

‚Bis zum Schlesischen Bahnhof kann sie verschnaufen,‘ sagte Solten und zündete sich eine Cigarette an, ,aber da erscheine ich ich ihr noch einmal und sage ihr ’was extra Niederträchtiges; bis dahin fällt mir’s schon noch ein.‘

‚Sie hatte doch ganz recht,‘ bemerkte ich als Stimme der ruhigen Vernunft.

,Na, wenn Du soviel für sie übrig hast‘ meinte Solten und legte sich in eine Ecke, ,da will ich nicht so sein – da darfst Du ihr dann einen Kuß geben! Nun sei aber auch zufrieden!‘

Und wir fahren und fahren und fahren – endlich sage ich: ‚Hör’ ’mal, Solten, nach meiner Berechnung müßten wir schon lange am Schlesischen Bahnhof sein.‘

,Nach meiner auch,‘ antwortet er und versucht, zum Fenster hinaus zu sehen; es war aber pechfinster draußen.

In diesem Augenblick geht die Thür des Coupés halb auf und der Schaffner verlangt die Fahrkarten. Wie wir ihm nun ganz kindlich und vertrauend unsere Stadtbahnkarten entgegenhalten, wird der Mann des Gesetzes ziemlich grob. ,Ja, was gehen mich diese Karten an? Ihre richtigen Fahrscheine will ich haben!‘

Mir dämmert ein entsetzlicher Gedanke.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 660. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_660.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2023)