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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Ich sah ihr die Angst an, die sie um mich hatte, ließ mit mir machen, was sie wollte, lag ganz still und dachte nur eins: vielleicht brauche ich nicht lange mehr zu leben mit dem Vorwurf in der Seele: um Deinetwillen!

Am andern Tage freute ich mich, wieder so matt zu sein, daß ich nicht aufstehen konnte, denn nun brauchte ich den Brankwitz nicht wiederzusehen, der einen Besuch bei der Komtesse machte. Ich wandte den Kopf zur Seite, als sie mir seine Empfehlungen brachte und dabei erzählte, er habe die Absicht, sich wieder anzukaufen, möglicherweise in hiesiger Gegend. „Und er läßt Dir gute Besserung wünschen.“

Ich antwortete gar nicht.

„S’ ist die Möglichkeit!“ murmelte die Komtesse, „’s ist doch nur, weil Dein – weil Wollmeyer ihn Dir als Tischnachbar ausgesucht hat!“

Ich nickte. „Vermutlich, Tante. Tante, laß doch einen Kranz bestellen für die Knopfmarthe.“

„Fällt mir nicht ein!“

„Dann steh’ ich auf und besorge ihn.“

„Na, um Gotteswillen – ich werd’s ja thun!“

Und ich blieb zu Bett, und der Sanitätsrat kam und zankte und schüttelte den Kopf. Ich hörte, wie er zur Komtesse sagte: „S’ ist rein seelisch, und es wäre gut, wenn sie bald fort könnte – andere Luft, andere Umgebung.“

„Helene geht mit ihr, sobald sie zurückkehrt von der Hochzeitsreise, Wollmeyer hat es ihr fest versprochen,“ erklärte die alte Dame.


Der Oktober kam ins Land mit wundervollen klaren Tagen, so blau und golden wie selten, und ich durfte wieder ausgehen. Schon seit einer Woche trug ich zwei Briefe in der Tasche, ohne mich entschließen zu können, sie zu öffnen, Briefe von Mama. Was sollte ich auch mit den Briefen? Ich hatte gemeint, sie müsse selbst kommen, denn ich war überzeugt, man habe ihr von meiner Krankheit geschrieben. Einmal fragte ich die Komtesse: „Tante, weiß Mama, daß ich krank bin?“ Und da war sie, die nicht lügen konnte, rot geworden wie ein Schulmädchen, als sie antwortete: „O, was denkst Du, so krank warst Du ja gar nicht – sie würde sich so ängstigen!“

Nein, so war es nicht! Man hatte ihr geschrieben, und sie kam nicht! Ich mochte auch ihre Briefe nicht. Endlich las ich sie aber doch. Aus jeder Zeile sprach die tödliche Angst um ihr Kind, und zwischen den Zeilen, da meinte ich nur immer zu lesen: um Deinetwillen! Um Deinetwillen ertrag’ ich das Leben! Und dann in dem letzten Briefe die Bitte um ein paar Worte; ein wahrhaft demütiges Bitten. Ich lief an den Schreibtisch, warf die heißesten Liebesbeteuerungen auf das Papier und sprach von meiner Sehnsucht und daß ich ohne sie nicht leben wolle und sie solle kommen! Da antwortete sie, sie könne jetzt nicht kommen, denn – sie hatte gezögert beim Schreiben, man sah es deutlich – denn er gedenke sich noch längere Zeit in Brüssel aufzuhalten, und da ich doch nun wohler sei – – aber dann, dann gehe es heimwärts und dann hole sie mich und reise mit mir.

Ich bat sie nicht wieder, sie kam auch noch lange nicht. Und eines Tages erhielt die Komtesse einen Brief und mußte abreisen; eine Kousine von ihr war gestorben, die sie sehr lieb gehabt hatte. Und da sie sich ängstigte, mich allein zu lassen, fand sie die Auskunft, mich wieder in unser altes Heim zu bringen. Die Base sei ja da, die alte Base Himmel. So packte ich denn meine Sachen zusammen und freute mich auf unsere lieben trauten Stuben und auf meinen Schutzengel. Die Base empfing mich schon unten im Hausflur. „Gottlob, Fräulein Annelieseken, daß Sie kommen!“ Sie trippelte neben mir durch den Flur und stieg die Treppe empor, mich immerfort anschauend mit einem gewissen bittersüßen Ausdruck, den ich gar nicht un ihr kannte. Im Vorzimmer blieb ich stehen und sah mich um. Mein Gott, war ich denn richtig gegangen? Mich umgab eine wahrhaft vornehme Pracht. Was war aus dem alten Zimmer geworden mit seinen vom Staub vieler Jahre geschwärzten leeren Wänden, seinem abgenutzten Parkett! Auf weiche Teppiche trat mein Fuß; köstliche Gobelins, Nachahmung alter Meisterwerke, bedeckten die Wände; vor dem Kamin standen nach alten Mustern geschnitzte eichene Möbel, und wie neu erschienen die hohen prächtigen wappengeschmückten Thüren.

„Die Mama findet ein schönes Heim, Fräulein Anneliese! Keine Ausgabe war ihm zuviel für sie. Nun kommen Sie aber, ich möchte Sie in Ihr Zimmer bringen; wie ein Käferchen in der Rose werden Sie drinnen sitzen, Fräulein Anneliese.“

Sie schritt voran nach dem Teile des Hauses, der früher unbewohnt gestanden hatte, und dort öffnete sie die Thür neben dem großen Saale. „So, Fräulein Anneliese, treten Sie ein!“ Und mich mit sich über die Schwelle ziehend, sprach sie ein lautes frommes: „Das walte Gott!“

Wie ein Käferchen in einer Rose – welch treffender Vergleich! Ich kleines braunes Ding in diesem mit blaßrosa Seide verschwenderisch ausgeschlagenen, im zierlichsten Rokokostil gehaltenen Boudoir! Geradezu feenhaft war es eingerichtet, und ebenso das Schlafzimmer mit seinem Erkeranbau. Ich sah von dem rosa Zauber weg in das Gesicht der Base.

„Hier soll ich wohnen?“

„Ja, Anneliese!“

„Aber ich denke gar nicht dran!“

„Gefällt es Ihnen denn nicht?“

„Gar nicht, Base, gar nicht! Ich stürbe hier oben vor Sehnsucht nach unseren lieben alten Möbeln. Wo sind sie? Wo ist Papas Bild?“

„Wir haben sie hinuntergeschafft, in die Zimmer neben meiner Stube.“

„Kommen Sie, Base – ich bin kein Rosenkäfer.“

„O, Anneliese, das nimmt er übel – er hat sich alles so schön ausgedacht für Sie!“

„Das ist mir ganz gleichgültig! Wenn ich hier im Hause leben muß, dann will ich unter meinen alten Sachen und mit Ihnen leben!“ Und ich lief die Treppe hinunter nach den kalten öden Zimmern, in denen man unsere alten Möbel in die Kreuz und Quere gestellt hatte, als seien sie wertloses Gerümpel. Aber wie flink die Hände der alten Frau mir halfen, wie ihre Augen leuchteten, trotzdem die Züge ernst blieben, und wie traulich wir Zwei uns da einrichteten in den paar Zimmern, fern von all der Pracht und Herrlichkeit droben! Am liebsten hockte ich im Lehnstnhl am Ofen und träumte von vergangenen Zeiten; und wenn abends die Base kam mit dem Spinnrad, so gelang es ihr mit ein paar freundlichen Worten oder mit Erzählen aus ihrer Jugend, mich aus meinen traurigen Gedanken zu reißen.

Einmal begann sie wieder zu erzählen und im Laufe des Gespräches ward sie redseliger, als sie es je gewesen. Sie sprach von Robert Nordmann; sie hatte nicht vergessen, daß ich an jenem Abend mit einem gewissen Interesse nach ihm gefragt hatte.

„Er war ein guter Junge, Anneliese, und das Hannchen hing an ihm, als wär’s ihr eigener – aber er, er! Na, er hatte des Buben Mutter auch nicht leiden können. Die Mutter von Robert war nämlich die Schwester von Hannchen, die Karoline, wissen Sie, und die beiden Schwestern hatten die Mühle zusammen geerbt. Der Karoline ihr Mann war aber Schullehrer und wollte sein Amt nicht aufgeben, er hätt’ sich wohl auch nicht gepaßt zum Müller, und der Wollmeyer, der dazumal schon festsaß in der Mühle als Hannchens Ehemann, der sollte auszahlen. So hatten’s die Schwestern ausgemacht. Der Wollmeyer aber ließ den Anteil seiner Schwägerin als Hypothek schreiben auf die Mühle und – wie das nun so gekommen ist, hm – die Nordmanns wollten nämlich eines Tages ein kleines Kapital erheben, hatten sich ein eigenes Haus gekauft, und da – – ja, sehen Sie, da fand sich’s, daß der Wollmeyer sich andern Tages bankerott erklären mußte. Die Nordmann aber nahm sich das so zu Herzen, daß sie ein hitziges Fieber bekam, und binnen drei Tagen war sie tot, und der Mann – –“

„Der Mann, Base?“

„Hm! Es war ja unrecht von ihm, ja, ja – aber er hat, er hat eine Beschuldigung gegen Wollmeyer ausgesprochen in seiner Wut, und der hat sich das nicht gefallen lassen und ’s ist an die Gerichte gekommen, und dann ist der Nordmann verurteilt worden wegen böswilliger schwerer Verleumdung, und – –“

„Aber Base!“

„Ja, ja! Und dann hat er sitzen müssen, und als er loskam, hatte er sein Amt verloren; und da ist er fort, so schämte er sich.“

Die alte Frau wischte mit dem Rücken der Hand eine Thräne aus den Augen und netzte den Flachs mit ihren Fingern. Ich schlich mich zu ihr hinüber und streichelte ihr die Wangen. „Wie traurig!“ sagie ich leise.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 671. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_671.jpg&oldid=- (Version vom 16.12.2022)