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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

„Als wenn das das Schlimmste wäre!“ fuhr sie heiser fort. „Aber sehen Sie, Anneliese, da kam ’mal ein Morgen, da lag das Kreisblatt wie sonst auf dem Tisch in der Mühle, und Hannchen hatte die Hände gefaltet und starrte darauf hin und war weiß wie das Papier. Und dann, als sie sich gar nimmer rührte und gar keine Antwort gab, da guck’ ich ihr über die Schulter und denke, mich schlägt der Blitz zu Boden, als ich da lese: ‚Steckbrief‘. Der Unterschlagung des mütterlichen Vermögens seines minderjährigen Sohnes der Lehrer Nordmann verdächtig – erst kürzlich aus dem Gefängnis zu H. entlassen – seine Beschreibung und dann die Aufforderung der Behörde, sie zu unterstützen, seiner habhaft zu werden. Ach Gott, Annelieseken –“ der Fuß der alten Frau stockte auf dem Trittbrett des Spinnrads und sie schlug die alten knochigen Hände vors Gesicht, als ob sie sich schämte.

„Und war dem so, Base, war dem so?“ rief ich erregt.

Sie ließ die Hände sinken und spann weiter. „Gott wird die Wahrheit an den Tag bringen,“ murmelte sie.

„Base, glauben Sie es denn?“

„Ich?“ Sie lachte grell auf. „Ich, das glauben? Der Nordmann sollte seinem Kinde die lumpigen paar tausend Mark gestohlen haben? Schwereren Herzens hat sich kein Vater je von seinem Kinde getrennt als er, das weiß ich. Mitgenommen hätt’ er den Buben, hätt’ er selber nur einen Fleck gehabt auf der weiten Welt, wo er sein Haupt niederlegen konnte. Es giebt aber keinen gerechten Gott, Fräulein Anneliese, wenn er das nicht ans Tageslicht bringt, und – er bringt es ans Licht, er thut’s, ich weiß es, ich weiß mehr, als mancher denkt.“

„Und der Robert?“ unterbrach ich die lange Pause, die nun entstand.

„Der Robert?“ Sie schrak empor, als müsse sie sich besinnen. „Den nahmen eben Wollmeyers zu sich und hatten selber kaum das liebe Brot damals, ja, ja.“ Die alten Lippen preßten sich aufeinander, als wollten sie keine Silbe mehr entschlüpfen lassen.

„Frau Wollmeyer hatte gewiß Mitleid mit dem Neffen?“ sagte ich.

„Das wohl! Aber sie getraute sich nicht, ihren Mann zu bitten, daß er sich des Kindes annehme. Da ging er selbst noch spät abends bei Sturm und Regen und brachte den Jungen daher und gab ihm Kleidung und Essen und schickte ihn zur Schule. Aber –“ Ein höhnisches Lächeln zuckte flüchtig um den alten eingefallenen Mund.

„Aber – Base?“

„Ja, das sind so Rätsel im Menschenherzen – der Junge konnte nun ’mal kein Herz zu ihm fassen, Gott weiß, weshalb!“

Ach, das – das kann ich verstehen, dachte ich, und meine Augen suchten das Bildchen an der Wand zu erkennen, das in der Dämmerung verschwamm.

„Nun, und weiter, Base?“

„Na, wie’s in den Wald hineinschallt, schallt’s auch wieder heraus. Der Junge war und blieb scheu, mißtrauisch und steifnackig. Da versuchte es Wollmeyer mit Strenge, mit Prügeln, mit Hunger, und dann, als wir schon hier in Westenberg wohnten, da drohte er, ihn vom Gymnasium wegzunehmen und zu einem Schuster in die Lehre zu thun. Es half alles nichts. Ja, das waren böse Zeiten, Anneliese.“

„Er war wohl faul in der Schule?“

„Der? Der beste in der Prima war er,“ antwortete die Base entrüstet.

„Nun, weshalb dann das alles?“

„Ich sagte ja schon, es sind Rätsel. Je mehr der Robert heranwuchs, desto mehr mißachtete er den Onkel, kaum daß er noch die blauweiße Schülermütze rückte, wenn sie sich auf der Straße begegneten. Es gab kein Mittagbrot, an dem nicht eine böse Rede über das bißchen Essen hin und herflog. Wollmeyer schimpfte, und der Junge hatte eine Art, die Mundwinkel zu ziehen, die mehr sagte als Worte. Und dann ging’s los. Wir Frauen zitterten, doch dreinreden durften wir nicht. Hannchen versuchte es in der Erst, aber sie ließ es bald. Der Junge kam selbst zu ihr und bat: ‚Tanting, thu’ mir die Liebe und schweig’ – ich weiß, Du meinst es gut, Du machst es aber nur noch schwerer; je mehr Du verteidigst, desto schlimmer wird’s.‘ – ‚Ach Robert, Robert, Du könntest wohl dankbarer sein!‘ hat sie da geschluchzt. Und da sagte der Teufelsjunge, er sähe keinen Grund zur Dankbarkeit, er habe mehr zu beanspruchen als das, was er hier erhalte. Und die Hannchen hat dagesessen und ihn angeschaut, als habe er ihr gesagt, morgen um diese Zeit werde der Himmel einfallen oder sonst etwas. Sie hat aber gegen ihren Mann geschwiegen, um ihn nicht noch mehr aufzureizen, und –“

„Damals waren Wollmeyers wohl schon wieder zu Gelde gekommen?“ unterbrach ich die alte Frau.

„Ach mein Gott, das Geld, das kam schon gleich nach dem Bankerott in Strömen geflossen!“ rief die Base und ließ ihr Rad stehen. „Von da an ist alles gelungen – er hat einen gefunden und der hat ihm geholfen; ein Herr von Brankwitz ist’s gewesen, ist nun schon längst tot; der mit auf der Hochzeit war – das ist sein Sohn. Was der Vater von ihm war, der hat nun damals die Mühle erstanden beim Zwangsverkauf und hat den Wollmeyer als Inspektor drauf gesetzt, und keine zwei Jahre hat’s gedauert, da gehörte dem die Mühle wieder. Wo Tauben sind, da fliegen neue hinzu. Anneliese – steinreich ist er geworden da droben, es lag ein schier unheimlicher Segen auf allem, was er that, ja, ja – unheimlich, sag’ ich.“ Sie schwieg und wie gedankenabwesend setzte sie ihr Rädchen in Gang. „Ja, ja!“ wiederholte sie dann noch einmal.

„Und der Robert?“

„Fort!“ war die Antwort, „fort! Weiß nicht mehr, was es gegeben hatte vorher – fragen Sie mich nicht!“

Und als ich sie nun still ansah, murmelte sie, als spreche sie mit sich selbst: „Kam nicht wie sonst in die Küche und holte sich sein Frühstück. Ich hab’ gewartet, wie auf die liebe Gottessonne hab’ ich gewartet und endlich bin ich hinaufgegangen in sein Dachstübchen – das war leer, und sein Sonntagszeug hing nicht mehr an der Wand und in der Kommode fehlte das bissel Wäsche. Vor dem Fenster tanzten die Schneeflocken in der grauen Dämmerung des Dezembermorgens; es war so kalt, just zwei Tage vor Weihnachten. Meine alten Arme waren wie gelähmt. Hab’ keinen Christstollen backen können in dem Jahre – für wen denn auch, hab’ ich gedacht. Ist auch für mich kein Weihnachten mehr gewesen seitdem, nie mehr!“

„Base,“ sagte ich und rückte zu ihr hin, „Base – schrieb er nicht ’mal an Sie?“

Sie fuhr empor, und aus ihren alten Augen wich der Traum, sie blickte wieder so nüchtern und kalt wie immer. „Geschrieben? Wer? Der Robert? Nein, wozu soll er schreiben? Und nun ist’s spät; ich will nachsehen, ob die Mädchen die Thüren verschlossen und die Läden vorgelegt haben. Gute Nacht, Fräulein Anneliese!“

Sie schüttelte den Flachsstaub von ihrer Schürze und trug das Spinnrad hinaus. Hinter ihr schloß sich die Thür und ich blieb allein mit meinen Gedanken an Robert Nordmann, und meine Phantasie malte ihn mir, schuf mir einen ganzen Roman.


Es schien, als hätte sich die Base an jenem Abeud völlig ausgesprochen. In der Zeit, die nun folgte, saßen wir still nebeneinander, und der Sturm, der um das alte Gebäude tobte, war das einzige, was wir zu hören bekamen.

Die Bekannten gaben es nach und nach auf, sich um mich zu bekümmern. Es war auch ein undankbares Thun, zudem geschah etwas Neues, wodurch das Interesse von mir abgezogen wurde: Lore von Tollen hatte sich mit dem Adalbert Becker verlobt, von dem man eigentlich gar nichts Näheres wußte, als daß er Geld besaß und daß er sich mit unglaublicher Anmaßung in die „ersten Kreise“ der Gesellschaft gedrängt hatte.

Vor einem halben Jahre noch würde ich mich über die Nachricht gewundert haben, daß das stolzeste und schönste Mädchen Westenbergs diese Wahl getroffen; jetzt wunderte ich mich nicht mehr, nach Mamas Heirat hätte ich noch ganz andere Dinge für möglich gehalten.

Es war ein Tag zu Anfang November, da traf ein Telegramm ein mit der Nachricht, daß heute die Herrschaft zurückkehre. Ich hockte im Lehnstuhl am Ofen und rührte mich nicht, ich war müde, todmüde, hatte die ganze Nacht gehustet. Was ging auch mich das alles an? Ein ganz fremdes Gefühl überkam mich, wenn ich an Mama dachte. Im Hause war großes Getöse entstanden, sämtliche Zimmer droben wurden geheizt, die Thüren bekränzt und die Blumentische gefüllt. Die Base blieb gänzlich unsichtbar. Sie kommandierte in der Küche zwischen Konservenbüchsen und Einmachgläsern, und draußen vor dem Stallgebäude wurde der Landauer gewaschen.

Das Stubenmädchen kam gegen drei Uhr und fragte mich, ob ich nicht die Zimmer droben ansehen wolle; sie seien hergerichtet, die Herrschaft dürfe nur kommen; sehr schön sei es und furchtbar nobel, bei Beckers wäre es nichts dagegen. Ich verneinte kurz.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 674. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_674.jpg&oldid=- (Version vom 16.12.2022)