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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Die Sklaven.

Novelle von Ernst Eckstein.


Lucius Menenius und sein einziger Sohn Cajus waren beim Quästor Camillus zu Tisch geladen. Die Hausfrau, Plotina, weilte mit ihrer Tochter zu Bajä. Auch der getreue Klient und Vermögensverwalter des Lucius Menenius war seit Vormittag abwesend.

So kam es, daß sich die Sklaven etwas ungebundner als sonst dem Genuß ihrer Feierzeit hingaben. Nicht nur der Obersklave des Atriums, Heliodorus, und der unfreie Hausarzt – die beiden vornehmsten aus der Dienerschaft – sondern auch die Sklaven zweiten und dritten Rangs machten es sich von Herzen bequem und überließen sich einer harmlosen Fröhlichkeit.

Heliodorus lag auf dem eberfüßigen Ruhebett unter dem Säulengange des Peristyliums[1] und vertiefte sich eifrig in eine Buchrolle, die den Titel führte: „Liebes- und Leidensgeschichten“. Es waren die sechsunddreißig Novellen des griechischen Dichters Parthenios, die sämtlich einen sehr tragischen Ausgang hatten, so daß die leichtblütige Kammersklavin Lucretia, die der pathetische Heliodorus mehrfach einer Mitteilung aus dem Inhalt dieser Novellen gewürdigt hatte, den Dichter Parthenios für einen unglaublichen Schwärmer erklärte, da so viel Unglück auf einmal in dieser schönen sonnigen Welt gar nicht Raum habe.

Ninus, der unfreie Hausarzt, lehnte ein wenig ermüdet in den rotledernen Kissen eines gemeißelten Marmorsessels und schloß die Augen. Er war die ganze Nacht außer Bett gewesen, da einer der Küchensklaven sich schwer verbrüht hatte. Lucius Menenius hielt darauf, daß bei derartigen Fällen die Wartung unmittelbar durch den Leibarzt gehandhabt wurde; denn er war im altrömischen Sinn ein pater familias, ein Vater nicht nur für seine Kinder, sondern für die Gesamtheit der Hausgenossen, unbekümmert um Rang und Herkunft.

Ein Teil der übrigen Sklaven hatte sich plaudernd und scherzend um den Brunnen gelagert, andere hielten im Innern des Hauses Rast; noch andere saßen im Xystus, dem gartenähnlichen Hof hinter dem Peristylium, und ergötztem sich mit Gesang und Saitenspiel oder ließen die beiben prächtigen Wolfshunde über den Stock springen.

Aus der Thüre des Bibliothekzimmers trat ein zwanzigjähriger Jüngling von schöner Gestalt und großer Lebhaftigkeit der Gesichtszüge. Zwischen den Fingern hielt er eine Papyrusrolle von der nämlichen Größe und mit dem gleichen Rotschnitt versehen wie die Novellensammlung des Dichters Parthenios, die jetzt der Obersklave so eifrig studierte.

„Hier!“ sagte der Jüngling und schritt auf den Lesenden zu. „Endlich hab’ ich gefunden, was Du begehrst – Ovids ,Heilmittel‘! Irgend wer muß ohne mein Vorwissen unter den Bücherkästen gekramt haben. Das ,Heilmittel‘ – dessen Titel doch vollständig lautete ‚Heilmittel gegen die Liebe‘ – steckte höchst komischer Weise unter den medizinischen Abhandlungen. Sollte Ninus vielleicht im Taumel seiner Gelehrsamkeit . . .?“

Der Leibarzt schaute empor. Er hatte nur halb gehört.

„Du sagst, Geticus?“ frug er mit warmer tieftöniger Stimme.

In den Zügen des Jünglings malte sich etwas wie Feindseligkeit. Die wohlwollende Ruhe des Ninus verdroß ihn. Er war überhaupt seit lange schon eifersüchtig auf das gewaltige Ansehen, dessen sich dieser asiatische Grieche nicht nur bei der Familie des Hausherrn, sondern auch bei den Sklaven erfreute, die doch sonst nicht für geneigt galten, das Verdienst eines Unfreien anzuerkennen. Er warf den Kopf in den Nacken, zeigte sein schönes Gebiß und murmelte boshaft:

„Ich unterstellte, Du seist vielleicht gestern, als man den Knaben herauftrug, insgeheim hinter den Büchern gewesen, um Dir Belehrung zu holen . . .“

„Nein,“ versetzte der Leibarzt ruhig. „Brandwunden machen dem Kundigen keinerlei Schwierigkeit. Uebrigens, wenn ich denn wirklich einmal in die Lage käme, die heilwissenschaftliche Bibliothek des Lucius Menenius in Anspruch zu nehmen – ich habe ja meine eigene – so würde ich ganz gewiß nicht verabsäumen, mich ordnungsgemäß an den Bibliothekar zu wenden oder an Dich, seinen Gehilfen.“

Das Wort „Gehilfe“ war von dem Leibarzt ohne jede verletzende Absicht gesprochen worden. Geticus aber, der eine gar heftige Gemütsart hatte, fand darin eine tückische Anspielung auf die Zurechtweisung, die ihm neulich der sonst so gütige Lucius Menenius erteilt hatte, weil sich der Jüngling allerlei Eingriffe in die Obliegenheiten seines Vorgesetzten erlaubte. Er wandte sich also wieder zu Heliodorus, legte ihm das vielbewunderte „Heilmittel“ des römischen Dichters vorsichtig auf den Schoß und sagte mit einem höhnischen Seitenblick auf den Leibarzt:

„So, mein Freund, nun erquicke Dich! Nach der Mattherzigkeit des hellenischen Märchenerzählers muß das gesunde Latein der Ovidischen Prachtverse wie ein verjüngendes Bad wirken! Ueberhaupt, weshalb mußt Du denn Griechisch knabbern? Die Wahrheit und Kernhaftigkeit des Lateiners widerstrebt doch dem attischen Lügentum!“

„Junger Mensch,“ mahnte der Obersklave mit einer Gebärde der Abwehr, „versuche nicht, wider den Strom zu schwimmen! Die wahre Bildung erheischt von uns Kenntnis beider Litteraturen. Danke den Göttern, daß auch Du Griechisch gelernt, sonst nähmest Du wohl jetzt einen minder behaglichen Posten ein! Glaubst Du nicht auch, Ninus?“

„Gewiß, Heliodorus!“ versetzte der Leibarzt. „Das Hellenische ist ebensogut Weltsprache wie das Lateinische; ja, in den Bibliotheken der römischen Großen soll das Hellenische oft überwiegen.“

„Sehr mit Unrecht!“ schrie der Jüngling so laut, daß die Sklaven am Brunnen des Peristyls aufmerksam wurden. „Wir sind leider zu duldsam gegen die Eindringlinge! Wir beugen und ducken uns! Ging’ es nach mir . . .“

„So würdest Du den Homer mitsamt den Tragödien des Aeschylus und des Sophokles in die Flammen schleudern,“ fiel ihm der Obersklave ins Wort. „Wahrlich, Du bist, was Dein Name besagt: ein schnöder Barbar!“

„Und Ihr küßt dem Hellenentum die Sandalen!“ rief Geticus. „Denkt Euch dabei, was Ihr wollt – und es giebt ja wohl Ausnahmen –: aber ich hasse die Griechen als eine Bande von Schleichern und Duckmäusern! Allezeit höflich, aalglatt, olympisch, aber im Grund ihres Herzens verlogen und niederträchtig, so hab’ ich sie kennengelernt! Du verzeihst, Ninus – aber ich fügte sehr deutlich hinzu: ,es giebt ja wohl Ausnahmen.‘“

„Das hoff’ ich!“ erwiderte Ninus unerschüttert in seinem Gleichmut. „Inzwischen – täusche ich mich? Du scheinst mir ein wenig verstimmt. Fehlt Dir etwas?“

„Fehlen? Mir? Nichts fehlt mir! Nur, daß der Mensch zuweilen den Drang verspürt, sich ordentlich Luft zu schaffen!“

„So schaffe Dir Luft, Geticus! Oder noch besser: suche Dich zu beherrschen! Du bist gar zu erregbar. Möglicherweise taugt Dir das lange Vorlesen und das Abschreiben nichts. Falls Du es wünschest, sprech’ ich darüber mit Lucius Menenius.“

„Das thu’ lieber nicht!“ erwiderte Geticus, bebend vor Ingrimm. „Ich selbst bin mir Arzt genug, und das Abschreiben treib’ ich doch nur zum Vergnügen!“

„Ja, ja, er ist sehr geschickt mit dem Schreibrohr,“ sagte der Obersklave, der ihn beschwichtigen wollte. Dann, um dem Gespräch eine Wendung zu geben, setzte er freundlich hinzu: „Uebrigens – Dank für die Mühe!“

Er nahm das Werk des Ovid und rollte es auf.

„Ich freue mich sehr, dies allerliebste Gedicht nach so unendlicher Zeit wieder einmal mit Muße zu lesen. Mich dünkt, neben der ,Kunst zu lieben’ ist es die Krone von allem, was uns der Meister geschaffen hat. Du kennst es wohl auch, Ninus?“

Der Leibarzt bejahte.

„Nun, und was hältst Du davon?“

„Betreffs des Einzelnen teil’ ich durchaus Deine Bewunderung. Nur besitzt es, als Ganzes genommen, den großen Fehler, auf einem Irrtum zu fußen.“

„Wie meinst Du das?“ frug Heliodorus, dessen Schwäche es war, litterarisch-ästhetische Auseinandersetzungen herbeizuführen.

„Die Liebe,“ entgegnete Ninus, „von der man geheilt wird, scheint mir schlechtes Korinthermetall. Echte wahrhaftige Liebe stirbt nur mit dem Liebenden!“

„O, o, welche Phantastereien! Hör’ ich den kühlen verständigen

  1. Der mit Säulen umgebene innere Hof des römischen Hauses.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 680. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_680.jpg&oldid=- (Version vom 14.11.2023)