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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Sie man so bei, ’s würd’ ein Jammer und ein Elend! Nee, das dürfen Sie nicht thun!“

„Was geht mich denn der an!“ erwiderte ich.

„Nichts, gar nichts, gottlob und Dank! Bleiben Sie man so bei, Anneliese! Gelt, an Hannchens Grab gehen Sie auch ’mal, bringen ihr ’mal ein Kränzchen hin von dem Epheu draußen im Garten an der Mauer – sie hat ihn immer so gern gesehen. Na, und nun schlafen Sie, Anneliese; ich bin auch gleich so weit. Hab’ gar nicht gedacht, daß ich soviel Plunder aufgesammelt hätt’, hab’ doch immer nur das Nötigste angeschafft. Und schreiben thun Sie ’mal, nicht wahr? Ich antwort’ auch, aber schön schreiben, das hab’ ich nicht gelernt. Der Robert, der konnt’ schreiben wie gestochen, Anneliese. Ach, ich hab’ bloß noch zwei Wünsche auf dieser Welt, der eine, daß er möcht’ wiederkommen, so recht groß und stattlich und mit Ehren, und dann –“ Sie sah mich an und nickte ernsthaft. „Ja, ja, man kann’s nicht lassen, sich etwas Schönes auszudenken, und ’s wird doch niemals nicht wahr. Und ’s ist auch recht so, Gott weiß allein, was das Beste ist. Aber beten will ich drum jeden Abend, Anneliese.“

„Was ist’s denn, Base?“

„Ei, ich sag’s nicht, es wird ja doch nichts draus werden.“

Als ich in meinem Bette lag, kam sie noch einmal zu mir herüber und steckte mir etwas in die Hand. „Damit Sie mich nicht ganz vergessen, Anneliese!“

Ich fühlte, es war eine kleine gehenkelte Münze. „Gute Base, ich danke Ihnen vielmal. Ich vergesse Sie nicht, auch ohne dies nicht!“

Und endlich erlosch auch ihr Licht, aber wir fanden beide keinen Schlaf.

Auf einmal fuhr ich erschreckt empor. Droben, über mir in Mamas Zimmer, war etwas umgefallen; ein lauter, lang nachschütternder Krach rollte über die getäfelte Decke, und dann eine Stimme, eine scheltende polternde Männerstimme, die sich bis zum Wutschrei steigerte.

„Base! Base!“ jammerte ich. „Ach, meine Mama!“

Keine Antwort.

Droben war es ein paar Minuten still, dann abermals sein scheltendes drohendes Sprechen. Ich warf ein Kleid über und wollte hinauf in alles vergessender Angst; da was mich ein Lichtschein und die Base hielt mich zurück.

„Bleiben Sie hier, um Gotteswillen bleiben Sie, ich gehe schon hinauf.“ Und sie ging und im Schein des Lichtes sah ihr altes starres Gesicht schier unheimlich entschlossen aus. So verschwand sie hinter der Thür. Ich zählte die Sekunden, mein Herz pochte wie rasend. Er, er schalt meine Mutter, die nie ein rauhes Wort gehört! Seine Freundlichkeit, seine Anbetung war wie eine Maske plötzlich heruntergefallen, der wahre Charakter schaute hervor mit dem brutalen Gesicht, so wie ich stets gefürchtet, ihn zu sehen. O, lieber Gott, laß es nur einen Irrtum sein – alles, alles, nur das nicht!

Und nun wurde es still, ganz still. Hatte das die Base vermocht? Welch geheimnisvolle Macht besaß diese Frau über den Mann? Welche Furcht mochte sie ihm einflößen, daß er sich ihrer entledigen wollte? Ich schlich mich zitternd zurück in mein Bett und lauschte mit erhobenem Kopf, als könnte ich die Dunkelheit durchdringen. Wie lange die Base blieb! Und rings um mich tiefes Schweigen der Nacht, der Einsamkeit.

Morgen würde ich die alte Frau nicht mehr sehen, würde ich ganz allein und wehrlos sein, auch Mama. Diese scheue Frau, die ich heute verweint und angstvoll erblickt hatte wie nie im Leben, die kaum den Mut fand zu einer entschlossenen Antwort.

Da kam sie zurück, die Base, wunderlich anzuschauen in ihrer Nachthaube und dem Tuchmantel, den sie sich eilig umgehängt hatte. „Schlafen Sie doch, Anneliese,“ flüsterte sie, „’s war ja gar nichts, gar nichts.“

„O, Base, Base! Er hat gegen Mama getobt!“ rief ich jammernd.

„I, Gott bewahre, Kind, Gott bewahre! Es war der Friedrich, mit dem er gescholten hat, meiner Seel’, der Friedrich! Schlafen Sie nur, Mama schläft auch – und wachen Sie morgen fröhlich auf!“

Sie wagte zum ersten Male eine scheue Liebkosung, und da schlang ich aufschluchzend die Arme um ihren Hals. „Gehen Sie nicht, gehen Sie nicht fort!“

„Ei, darum dürfen Sie nicht weinen, Anneliese,“ sagte sie, schier aus der Fassung gebracht durch meinen Schmerz. „Schlafen Sie!“

Und rasch verließ sie mich, um nicht weich zu werden, und ich weinte mich in den Schlaf. Mir ahnte nicht, daß beim Erwachen mein Schutzengel schon weit weg sein würde, den Thüringer Bergen entgegen fahrend. In aller Morgenfrühe war die alte Frau gegangen, und Lebewohl hatte sie keinem gesagt.


„Na, nun wird Frieden werden,“ sagte mein Stiefvater behaglich beim ersten Frühstück, als er diese Nachricht empfing. „Lieber Otto, es giebt ein Sprichwort: ‚Wem der Teufel etwas anthun will, dem giebt er eine schöne Tochter,‘ aber das ist Unsinn, gelt, Anneliese? Ich sage, dem giebt er ein klatschmäuliges Weib ins Haus. Drei Kreuze vor der Alten, und auf Nimmerwiedersehen!“

Ich präsidierte auf Wunsch Mamas diesem Frühstück. Die Damen waren noch nicht erschienen, Mama lag Kopfschmerzen halber zu Bette, und Frau Sellmann hatte ihren Thee hinunter befohlen, weil sie gewohnt war, ihn im Bett zu trinken. Ich war unsant aus meinem kurzen Schlaf geklopft worden. Die Base sei fort, die gnädige Frau krank, ich möge mich ein wenig um den Frühstückstisch bekümmern.

Ich kann nicht sagen, wie öde, wie verlassen ich mich fühlte an diesem Morgen, wo mein alter Schutzengel nicht vor dem Ofen hockte, um für ihr „Annelieseken“ das Feuer anzuzünden, bei dessen Prasseln und Flackern es sich so schön im weichen Bette lag und träumen und denken ließ. Der Flammenschein huschte dann über Papas Bild und ließ das geliebte Gesicht wie lebend erscheinen; vor den Fenstern tanzten die Flocken, und ganze Scharen hungriger Spatzen, Meisen und sonstiger kleiner Vögel saßen auf dem verschneiten Blumenbrett und warteten auf das Futter, das ich ihnen hinzustreuen pflegte – aber erst, wenn die Base mich gefüttert hatte, als wäre ich ebenfalls so ein hungriger Piepmatz. Sie hatte immer allerhand Gutes für mich, frische Eier, ein Stückchen Pastete, delikate Mettwurst oder eine andere Herrlichkeit, die sie für mich aufsparte. Und der Frühstückstisch war immer so appetitlich hergerichtet, und die alte Frau sah so beglückt zu, wenn mir’s schmeckte. Sie hatte mich gesund gepflegt und nun war ich ganz verwaist. Niemand hatte daran gedacht, in meinem Zimmer zu heizen, niemand hatte mir den Thee gebracht und die gewärmten Pantöffelchen; gewiß, es ging auch so, aber es fror mich und es hungerte mich, nicht körperlich, sondern seelisch.

„Darf ich jetzt zu Mama gehen?“ fragte ich meinen Stiefvater, denn ich hatte es satt, die Blicke des Herrn Brankwitz zu ertragen, die er mir unausgesetzt zuwandte.

Wollmeyer, der eben die Zeitung las und unter dem riesigen Blatt unglaubliche Phrasen über Politik vernehmen ließ, in denen Bismarck, Windthorst, nationaler Gedanke und Sozialismus die Schlagwörter waren, ließ den Bogen einen Augenblick sinken und erklärte:

„Meinetwegen, und ich lasse bitten, daß Mama mir das Menü für heute durch Sie schickt.“

Das Menü – Speisezettel zu sagen, wäre nicht schick gewesen in seinen Augen – bildete einen Hauptgegenstand seiner Gedanken, seiner Gespräche und Thaten. Bisher hatte die Base es zusammengestellt und der Mama einfach vorgelegt, und mein gutes Mütterchen hatte immer Ja gesagt, denn die Base kannte die feine Zunge des Herrn Wollmeyer aufs genaueste. Sie hatte mir einmal die Entwicklung seines Geschmacks erzählt. „Zuerst war er froh, wenn wir Sonntags Thüringer Kartoffelklöße und Schweinebraten hatten, dann kam alle Tage Braten, Gänse- oder Tauben- oder Rinderbraten mit Salat, aber als wir fein wurden, da hatte er es plötzlich mit die Frikassees und Pasteten und mit die Austernsaucen. Na, das hab’ ich denn auch gelernt, weil ich mich so’n gewisses Kochtalent nicht absprechen kann, Anneliese.“

So hatte die Base in ihrem wunderlichen Deutsch gesprochen.

Ich fand Mama im dunklen Zimmer, das nach Baldriantropfen roch, stöhnend vor Kopfschmerz. Die Köchin, die neue, die in aller Eile angestellt worden war, stand mit einer Schiefertafel vor ihr. Es schien eine unangenehme schnippische Person zu sein, und Mama war krank und gar nicht gewöhnt, Menüs

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 694. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_694.jpg&oldid=- (Version vom 23.8.2022)