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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

zusammenzustellen. Ihr Lebtag hatte sie es nicht gebraucht, denn in unsern äußerst einfachen Verhältnissen war es selbst bei einem sogenannten Souper nicht über Karpfen und Hasen- oder Hühnerbraten hinausgegangen.

„Wünschen gnädige Frau vielleicht zuerst Hummersuppe? Hinterher Filet à la jadinière oder Schneehühner mit Sauerkraut in Champagner?“

„Ja, ja!“ stöhnte Mama.

„Aber dann, gnädige Frau?“

„Ach, ich weiß thatsächlich nicht!“ klagte sie.

„Muß es denn noch etwas sein?“ fragte ich. „Kochen Sie doch, was Sie wollen! Mama ist krank, sprechen Sie mit dem Herrn, gehen Sie, bitte, gehen Sie!“

„Vielleicht eine Fischmayonnaise vor dem Braten?“ fragte sie von der Thür her. „Gotte doch, mit wem soll ich denn reden?“

„Mit dem Herrn! Gehen Sie!“ rief ich empört, und sie ging endlich.

„O diese Qual, diese Qual!“ stöhnte Mama. Sie nahm das Tuch von ihrem heißen Gesicht und sah mich an mit roten dick verschwollenen Augen.

„Anneliese, liebe Anneliese, es thut mir weh für Dich – die Base, daß sie hat fort müssen!“

„Meine Herzensmutter, gräme Dich nicht. es geht auch so, es muß gehen ich habe ja Dich!“

„O, und das gesellige Leben wird Dich ein wenig abziehen, nicht wahr, Liebling? Du hast so eine trübe graue Jugend gehabt bis jetzt.“

„Ich?“ .fragte ich verwundert. Mir kam es vor, als sei sie jetzt erst grau geworden als sei sie früher eitel Gold und Himmelblau gewesen.

„Sei ein bißchen lustig, Anneliese, ein bißchen liebenswürdig gegen unsern Besuch! Ja? Du bist oft so spöttisch, es verletzt – nicht mich, ich kenne Dich ja, aber – Du weißt, was ich meine!“

„Sei gut, mein Mütterchen, ich will es versuchen, Deinetwegen! Ich ziehe meinen Mund ganz spitz wie unsere Schneiderin, weißt Du, und lerne flöten wie die dicke Frau Sellmann – bist Du zufrieden?“

Mama streichelte mich und murmelte etwas.

„Hast Du übrigens den Skandal mit Friedrich diese Nacht gehört, Mama?“ fragte ich, sie scharf ansehend.

„Hast Du etwas gehört?“ fuhr sie empor.

„Ja, etwas davon, aber ich war sehr müde.“

„Der Friedrich, er stieß im Dunkeln an einen Schrank – ja, ja,“ sagte sie, aber so stockend, daß ich genug wußte. Lieber Himmel, dachte ich, soweit war es schon!

Und in diesem Augenblick ward die Thür aufgerissen und die Stimme des Hausherrn, diese verhaßte Stimme, rief: „Bekümmert sich denn niemand um Olga Sellmann? Sie geht aus einem Zimmer ins andere. Anneliese, halten Sie sich für eine Ausfahrt bereit, ich habe leider keine Zeit, muß aufs Rathaus. Da ist eine Einladung zu Postdirektors gekommen für übermorgen – das Hochzeitsgeschenk für Lore Tollen muß weggegetragen, die Visitenkarte dazu geschrieben werden – ist es denn ganz unmöglich, Helene, daß Du aufstehst?“

Sie wolle es nachher versuchen und zu Tische werde sie jedenfalls kommen, erklärte sie, bei jeder neuen Silbe zusammenzuckend.

Ich ging auf einen Druck ihrer Hand, um mich für die Ausfahrt anzuziehen. Der „Selbstkutschierer“ mit dem übertrieben hohen Bock war herausgeschoben und der neue Traber wurde davorgespannt. Ich zerbrach mir den Kopf, wie das werden sollte, ob ich hinten auf dem Dienersitz Platz nehmen müsse oder Frau Sellmann? Denn daß Herr von Brankwitz fahren würde, unterlag doch keinem Zweifel.

Ich ging dann im Jackett und Pelzmützchen die Treppe wieder hinauf, um Frau Sellmann abzuholen – in dem alten lieben Pelzmützchen, zu dem ein von Papa selbst erlegter Marder sein Fell gegeben hatte und das am Rande schon ein wenig kahl geworden war, aber nur ganz wenig, und das ich so sehr liebte. Ich fand Frau Sellmann im Morgenrock – hochroter Plüsch – einen echten Fes auf dem Titianhaar, im türkischen Zelt eine Cigarette rauchend.

„Guten Morgen, liebe Kleine!“ rief sie mir entgegen. „Himmel, Herrgott, bin ich müde! Dieses Westenberg hat etwas furchtbar Einschläferndes, Chloral ist nichts dagegen!“

„Wollten Sie denn nicht mit ausfahren?“ fragte ich verwundert.

„Ja – vorhin, das heißt, ich sagte Ja, um den guten Wollmeyer loszuwerden mit seinen ewigen Anpreisungen der Westenberger Reize. Nein, ich danke Ihnen – ich fühle mich hier sehr behaglich!“

„Dann bleiben wir also hier?“ sagte ich.

„Sie? O nein, Otto würde ja einfach rasend! Nein, Sie müssen mit, hören Sie, Sie müssen, wenn Sie mich nicht moralisch zwingen wollen, mich über Hals und Kopf in Toilette zu stürzen und mir auf dem offenen Wagen einen großartigen Schnupfen zu holen.“

„Bitte sehr – selbstverständlich zwingt Sie niemand, sich einer Gefahr auszusetzen.“

Ich ging. Mamas wegen wagte ich nicht, zurückzubleiben.

Wollmeyer und Brankwitz standen vor dem Wagen und betrachteten das fesche Gespann, das Brankwitz von einem bekannten Sportsmann für Wollmeyer gekauft hatte. Ich stieg hinauf, unterstützt von meinem Stiefvater, von der andern Seite schwang sich Herr vom Brankwitz hinauf, er ergriff die Zügel und der schöne Rappe zog an.

„So warten Sie doch,“ rief ich, „Friedrich ist noch nicht oben!“

„Liegt Ihnen soviel an Friedrich?“ fragte er, ohne anzuhalten, „was soll denn der gute Mann? Wir fahren ja nicht in den Tiergarten von Berlin spazieren oder“ – er sah mich durch sein Monocle an – „fürchten Sie sich vor mir, gnädiges Fräulein?“

„Durchaus nicht.“

„Das freut mich.“

„O, keine Ursache dazu! Wenn ich mich vor einem Mann fürchtete, so wär’ es wenigstens –“ Ich brach ab, ich hatte sagen wollen: so wär’ es wenigstens für mich nicht so völlig gleichgültig, ob er neben mir sitzt oder nicht. – –

Wir jagten durch die Straßen der Stadt, daß die Kinder schreiend auseinanderstoben und die Leute die Fenster aufrissen, um uns nachzuschauen. Herr Otto von Brankwitz wollte sich mir gegenüber ganz entschieden als „schneidiger Sportsmann“ zeigen. Im Hui ging’s um die Straßenecken und mit ohrenbetäubendem Gerassel unter dem uralten Backsteinthor hindurch auf die Landstraße hinaus. Das Tier griff mächtig aus; einmal hätten wir beinahe einen Bauern überfahren, der neben seinem Torfwagen schritt, die Pfeife im Munde, schier schlafend, und die gröbsten märkischen Scheltworte flogen hinter uns her.

Aber in der nämlichen Gangart ging es weiter, bis dahin, wo die Landstraße in den Kiefernwald einbiegt, den Kiefernwald, den ich bisher so geliebt hatte und der mir heute zu einer Stätte unliebsamer Erinnerungen werden sollte. Herr von Brankwitz, der in seinem eleganten Pelz auf dem für ihn viel zu hohen Fahrsitz thronte – es sah geradezu beängstigend aus – ließ jetzt das Pferd in Schritt gehen und bemerkte, als Einleitung zu einer Unterhaltung: „’s ist eine gottverlassene Gegend, diese Westenberger.“

Und ich hatte gerade das Gegenteil gedacht; mir war das Herz aufgegangen, als ich die Kiefern sah, über die leichter flimmernder Schnee ausgestreut war. Dort am Saume des Grabens, der den Weg rechter Hand begrenzte, reckte eine riesenhafte uralte Eiche ihre hundert knorrigen Aeste blätterlos zum grauen Himmel empor, der niedrig und Schnee verkündend über der Landschaft hing. Ein Schwarm Krähen flog mit mißtönigem Geschrei empor, und in der leichten Schneedecke unter den Bäumen waren viele hundert kleine Fußspuren eingeprägt, als hätten die Hasen am frühen Morgen schon eine Versammlung abgehalten. Und über all dem der Kiefernduft, jener Duft, den ich niemals wieder so harzkräftig geatmet habe wie in Westenbergs „gottverlassener Gegend“.

Ich ließ ihn reden, es war ja so gleichgültig, lehnte mich zurück und atmete mit vollen Zügen.

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 695. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_695.jpg&oldid=- (Version vom 23.8.2022)