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verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Beim Obstpflücken.

Des märkischen Frühlings Lieblingskind aber ist die Havellandschaft um Werder.

Ein so mitleidig ironisches Lächeln man auch immer als Antwort bereit hat, wenn die Rede auf Brandenburgs Naturschönheiten kommt, und so gern die, denen ihr schlichter Zauber unbekannt ist, die Redensart von „des Deutschen Reiches Streusandbüchse“ anwenden – „Potsdam und Umgebung“ läßt selbst Baedeker gelten, und er greift tüchtig in seinen Vorrat an Sternen, um sie nach Gebühr zu feiern. Sogar der Berliner, der bei allem Lokalpatriotismus seine engere Heimat gemeinhin wenig kennt und den wider sie genährten Vorurteilen kurioserweise am bereitwilligsten anhängt, läßt es sich nicht nehmen, Logierbesuche aus der Provinz und dem Reiche nach Potsdam zu führen. Von der stillen Nachbarresidenz, die breite Havelarme zärtlich umwinden, geht dann die Fahrt weiter nach Werder, dem Inselort, der mitten auf dem breiten, im Mittagssonnenglanz blau und silbern flackernden Havelbecken wie ein riesiges Nymphäenblatt ruht. Man pflegt in Baumgartenbrück, dem ehemals durch seine „Referendarpresse“ hochberühmten, reizenden Flecken, zu rasten und dann den Weg bis zum Ziele zu Fuß zurückzulegen. Machtvoll nimmt das zauberhafte Landschaftsbild die Phantasie jedes Naturfreundes gefangen, der hier zur Zeit der Baumblüte entlang gezogen kommt. Daß ich doch hinzustellen vermöchte vor eure Augen in greifbarer Klarheit diese funkelnden Wasserflächen, diese duftumwobene Ferne, diese weißschimmernden Blütenhaine, diese ragenden Wälder und lieblichen Hügel, von denen sich immer neue Fernblicke eröffnen! Wer einmal hinabgeschaut hat in das Gefild, auf das in Blütenschnee gehüllte Werder, das wie ein großer, weißer Blumenstrauß in amethystener Schüssel ruht, wessen Blick dann weiter schweift über die Wassermassen der Havel, die im Halbkreise das Land umwindet, über schwarzgrüne Wälder nach Potsdams emporsteigenden Türmen und über die unruhvollen Wellen des stolzen Schwilowsees – der spottet nicht mehr über die Mark, dem erstirbt später, wenn er einmal ihre sandverwehten Heiden, ihre Brüche durchstreift, das herbe Verdammungswort auf der Zunge. Der Anblick, den Werder zur Zeit der Baumblüte gewährt, steht nicht hinter dem der vielbesungenen Darmstädter Bergstraße zurück.

Ist der Frühlingssonntag gekommen, an dem sich all die weiße Pracht von Werder entfaltet, jeder Obstbaum sich unzählige Blüten ins grüne Gelock geflochten hat, dann strebt halb Berlin der kirschengesegneten Havelinsel zu. Man erreicht sie mit Dampfern und mit den „Extrazügen“ der Eisenbahn; tüchtige Fußgänger wandern auch den größeren Teil des Weges, der immer am Fluß entlang, durch hübsche, auch in Obstbaumwäldern eingebettete Schifferdörfer führt. Dann entwickelt sich hier ein echtes, rechtes Volksfest, eine lärmende Fröhlichkeit sondergleichen, und je näher man Werder kommt, desto lebhafter geht es zu. Nicht lange, und die Obstpflanzungen treten dicht an die Landstraße heran. Wir schlendern an ihnen, die aus weißem Sande, dem unverfälschten „Brandenburger Schnee“, aufsteigen, tief aufatmend vorbei. Unter Kirschen- und Pflaumenblüten, zwischen die sich der Pfirsichblüte feines Rot drängt, verschwinden nun Blätter und Stämme vollkommen; kaum hier und da wagt sich ein wenig Grün hervor, das dann wie etwas Ungewohntes, Seltsames anmutet, oder eine sonnenvergoldete, phantastisch verkrüppelte Baumform.

Nun, wo der Weg auf die Höhe des sandigen Galgenberges führt, weht der Wind Wellen würzigen Duftes herüber, um den Ceylon unsern Norden beneiden könnte; nun sehen wir unter uns leise wogende, schier unendliche Blütenmassen, die wie köstlicher Schnee die Dächer der Häuser, ja selbst die Havelfluten zu bedecken scheinen. Wer uns entgegenkommt, trägt einen dichtbeblühten Kirschbaumzweig in der Hand – so überreift mit dem Frühlingssegen ist der Galgenberg, daß selbst die sparsamen Werderaner ihren Gästen freie Hand lassen. Unter den breit ausladenden Wipfeln wandeln, wie trunken von Luft und Sonne und Freude, jubelnde singende Menschenkinder, und all die leuchtenden Augen rings sprechen noch deutlicher, als Worte es vermöchten.

Beim Obstwein auf der Gerlachshöhe.

Wo sich zwischen zweien der größten Gärten des Galgenberges ein schmaler Rain hindurchwindet, ragt eine junge Kiefer in die blaue Luft und unterbricht in eigen reizvoller Weise mit buschigem Grün die silbern leuchtende Herrlichkeit ringsum. Sie ist eben dabei, ihr Winterkleid abzustreifen und neue Nadeln zu treiben, und man sieht’s ihr an, wie arm sie sich in dieser gesegneten, farbenfunkelnden Flur vorkommt und wie sie mit allen Fibern, dankbar und bescheiden, an der wonnereichen Lenzfeier teilnimmt.

Auf dem „Wachtelwinkel“, von dessen Höhe man wie vom Galgenberge das ganze Landschaftsbild erfassen kann – hier sogar „kostenfrei“, während der Zutritt zum Nebenbuhler besteuert wird – lockt eine gemütliche Frühlingskneipe, die nur für die Tage der Baumblüte aufgethan wird und wo man unter einem noch kahlen, „1830 gepflanzten“ Nußbaum Werderschen Obstwein oder Werdersches Bier genießen kann. Es giebt sogar Menschen, die irrtümlicherweise beide Säfte in einem Magen vereinigt haben und doch wieder leidlich gesund geworden sind. Der Werdersche Apfelwein wird von Kennern sehr gepriesen, ob aber auch getrunken, ist eine andere Frage. Der erste Schoppen erweckt unbestimmte Befürchtungen; man merkt, daß die Hersteller des Saftes es sich sauer werden ließen und daß der märkische Apfel nicht allen Mägen die Traube vom Rhein ersetzen kann. Aber bei einiger Uebung

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verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 697. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_697.jpg&oldid=- (Version vom 19.9.2023)