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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

der vornehmste Mann des Reiches, der vornehmste auch der Gesinnung nach, unser teurer alter Kaiser, ein so leuchtendes Beispiel giebt.“

„Aber das geistige Leben kam doch wohl etwas zu kurz, Komtesse, bei den Talglichtern und der Stopferei?“ entgegnete Frau Sellmann.

„In der Zeit, wo ein Goethe lebte, das geistige Leben zu kurz gekommen? Ich kenne kein Geschlecht, in dem die Frauen thätiger daran Anteil genommen hätten!“

„Aber es war alles so gräßlich sentimental und überschwenglich,“ erklärte die junge Frau.

„Französische Sittenstücke waren es freilich nicht, die wir lasen, das stimmt,“ sagte die Komtesse trocken, „gegenwärtig ist der Geschmack anders. Welcher der bessere ist – das steht dahin. Die Welt kämpft sich durch alle möglichen Veränderungen. Aus unglücklicher Liebe vertrauert kein Mädchen mehr sein Leben heutzutage, sie tröstet sich und heiratet einen reichen Mann, ohne an gebrochenem Herzen zu sterben. Ich weiß nicht, was ich vorziehen würde – –“

Und nun kam das für mich sehr peinliche Gespräch in andere Bahnen, man wechselte ein paar Gemeinplätze, und endlich sagte die Komtesse: „Apropos, wo in aller Welt brannte es denn heute mittag, Herr von Brankwitz? Sie sind ja mit der Anneliese wie ein Wetter hier durch die Straßen gefahren!“

„Ach, haben das die Komtesse auch bemerkt? Ich wollte nach Damnitz – ich wollte – –“

„Nach Damnitz?“ fragte ich, „davon haben Sie ja kein Wort gesagt.“

„Eh, ich durfte ja überhaupt nichts sagen. Das gnädige Fräulein war in einer sehr wenig zugänglichen Laune, Komtesse, und somit kam ich unverrichteter Sache nach Hause.“

„Wollen Sie etwa Damnitz kaufen?“ fragte die alte Dame.

„Nun, Onkel Wollmeyer wenigstens wünscht es sehr,“ antwortete er, „wir sahen uns das Gut schon im Herbst einmal an. Na, man braucht ja schließlich dort nicht ewig zu kleben, man hat seine Wohnung noch in Berlin oder sonstwo in einer großen Stadt, wenn man einen ordentlichen Inspektor hat, geht es ja. Ich wollte das Schloß heute früh Fräulein Anneliese – pardon – Fräulein von Sternberg zeigen, man hört doch gern – hm – das Urteil einer Dame. Für das Interieur – Sie verstehen, Gräfin – sind Frauenaugen maßgebend. Aber, wie gesagt, man war sehr ungnädiger Laune, und ich ziehe vor, eine bessere Stimmung abzuwarten.“

Die Komtesse hatte den Kopf gewandt und sah mich groß und erstaunt an. Ich wurde dunkelrot unter diesem Blick.

„Mich interessiert das Schloß Damnitz nicht ein bißchen, und für Interieurs habe ich gar kein Verständnis,“ sagte ich.

„Du bist ja sehr streitbar, Anneliese,“ lächelte die Komtesse.

„Sehr!“ stimmte Brankwitz bei und strich den blonden Bart, „aber das liebe ich, da giebt’s niemals Langeweile.“

Frau Sellmann unterbrach dieses Gespräch, indem sie die Komtesse mit schüchterner Miene und in sanftem Flötenton bat, auch sie auf der morgenden Hochzeit als zweites Töchterchen unter ihren Schutz nehmen zu wollen.

Die alte Dame lachte auf. „Nanu, meine Beste! Ich dächte, als Frau und – ich glaube doch, Sie werden ohne meinen Schutz fertig werden! Anneliese und ich bleiben auch nicht etwa bis zum Kehraus, wir verschwinden beim Nachtisch, gelt, mein Kücken?“

„O, das wäre grausam!“ rief Herr von Brankwitz. „Sie müssen länger bleiben, und überdies – Fräulein Anneliese steht auch noch unter unserem Schutz, selbstverständlich!“

Ich nickte der Komtesse zu. „Ich gehe mit Dir, Tante.“

Danach ließ die alte Dame eine Pause eintreten, die sehr deutlich sagte: Ihr könnt Euch nun empfehlen und nachdem man eine Weile stumm dagesessen hatte, begriff Frau Sellmann endlich und stand auf. „Auf Wiedersehen morgen, Komtesse!“

„Auf Wiedersehen!“ sagte diese, küßte mich auf die Stirn, und ich erzählte ihr noch mit fliegenden Worten und feuchten Augen, daß die Base fort sei.

„Komm zu mir, so oft Du willst, mein Kücken,“ erwiderte sie und klopfte mich auf die Schulter.


Lores Hochzeitstag kam und endete sehr traurig; den alten Major von Tollen rührte der Schlag. Just als die Komtesse und ich die Treppe hinunterschritten, um heim zu gehen, hörten wir Thüren zuschlagen und angstvolle Ausrufe, und die alte Dame kehrte auf der Stelle wieder um, der Frau von Tollen ihre Hilfe anzubieten. Ich stand einen Augenblick überlegend auf der windigen verschneiten Straße, aber schließlich – warum sollte ich denn nicht allein heimgehen? Ich war so froh, aus diesem Trubel fortzukommen, zudem hatte mich der Anblick der blassen Braut aufs tiefste bewegt, und anderseits – ich zitterte bei jeder neuen Liebenswürdigkeit des Herrn von Brankwitz; fortgesetzter Kampf macht müde.

So nahm ich denn, so gut es ging, die Robe zusammen, die ich schon auf Mamas Hochzeit getragen, und wanderte durch die Straßen. Im Hause des Doktor Schönberg war kein Licht, es lag so finster da unter den hohen Bäumen, als berge es einen Toten, und ich glaubte auch zu wissen, wen. Es war ein großes, großes Glück dort gestorben.

Arme Lore! Falsche Lore! Wie konnte sie – ja wie konnte sie! Wenn Gründe plötzlich menschliche Gestalt annehmen könnten, welches Brautgeleite würde da manches Mädchen, manche Frau haben? Welches zum Beispiel hätte Mama gehabt? Ein bleiches elendes Weib wäre ihr zur Seite geschritten – die Not. Bei wie wenigen folgt die schöne blühende rosenbekränzte Liebe! Bei Lore von Tollen war es auch nicht die Liebe, sie hätte anders ausgesehen sonst – nicht so starr und bleich; Genußsucht und Selbstsucht, diese beiden häßlichen Zwillingsschwestern, hatten sie sicher auch nicht dem unangenehmen Menschen zugeführt – vielleicht war es die Not auch hier! Die Komtesse hatte bei Tische so liebevoll mit Lores Vater gesprochen und hatte ein paarmal den Lieutenant von Tollen mit sehr mißliebigen Blicken gestreift, den jüngsten Bruder der Braut, der von ihr als Tollenscher „Familienwindhund“ bezeichnet wurde. Ja, wer weiß, wer weiß, welche Mittel das Schicksal hat, ein armes Menschenkind zu zwingen, den Weg zu gehen, den es nicht gehen will!

Ich war während dieser traurigen Gedanken rasch vorwärts geschritten und in die Kirchgasse eingebogen, die zwischen der Mauer des Schloßgartens und der Marienkirche hinführt und eng, dunkel und menschenleer ist; sie kürzte aber meinen Weg bedeutend ab, und ich fürchtete mich nicht. Plötzlich hörte ich Tritte hinter mir, eilige Tritte, mehr ein Laufen und dann rief eine fast atemlose Stimme: „Aber, mein gnädiges Fräulein, wie können Sie – – weshalb denn nur? Sie dürfen nicht allein gehen!“

Unwillkürlich schritt ich rascher aus, aber natürlich holte Brankwitz mich ein, und dicht an meiner Seite gehend, versuchte er, meinen Arm in den seinen zu ziehen, was ich energisch verhinderte. Da hielt er mich, gerade an der dunkelsten Stelle des Gäßchens, am Mantel fest, und sein Gesicht so dicht zu dem meinen beugend, daß ich seinen heißen Atem spürte, fragte er fast tonlos: „Anneliese, meine wilde süße Anneliese, warum quälen Sie mich so – warum?“

„Herr von Brankwitz!“ sagte ich laut und riß an dem Mantel, doch ohne Erfolg.

„Schenken Sie mir ein paar Minuten!“ bat er flehend. „Sie müssen es ja wissen, Sie müssen es ja fühlen, wie lieb ich Sie habe, Anneliese! Sie dürfen mir nicht alle Hoffnung rauben. Können Sie mich denn nicht ein bißchen, ein ganz klein wenig wiederlieben? O ich will damit zufrieden, will selig sein!“

„Ich Sie lieben? – Lassen Sie den Mantel los! Niemals kann ich das, also sprechen wir nicht mehr darüber. Ich mag solche alberne Späße nicht, Sie vergessen, wen Sie vor sich haben!“

Dabei strebte ich so rasch als möglich vorwärts, denn ich zitterte vor Angst, ich glaubte, er sei berauscht und könne noch zudringlicher werden.

„Aber ich begreife nicht, wie können Sie nur von Spaß reden? Sie thun mir weh, Anneliese!“

In diesem Augenblick hatte ich das Hofthor erreicht, öffnete die kleine Pforte desselben, da die großen Flügel schon geschlossen waren und schlüpfte hindurch. „Bekümmern Sie sich doch lieber um Ihre Schwester!“ rief ich ihm zu. „Sie ist in dem Wirrwarr zurückgeblieben, ein Wagen ist nicht dort – wie soll sie heimkommen?“ Damit lief ich über den Hof, und einmal im Hause, war ich auch bald an meiner Thür. Ich fühlte mich, als ich in dem finsteren Raume stand, hochaufatmend, die Hand auf die Brust gepreßt, so sicher wie ein Wild, das müde gehetzt endlich einen sicheren Schlupf gefunden vor der suchenden Meute.

Langsam ging ich von der einen Thüre zur andern und drehte die Schlüssel herum, dann schlug ich die schweren eichenen Läden zu, die im Innern des Zimmers angebracht waren, und nun erst überließ ich mich der Empörung über diese zudringliche Werbung.

Ich hockte auf dem Fenstertritt und wußte nicht, was beginnen. Eine lange Zeit überlegte ich, mit Mühe meine aufgeregten Sinne

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 711. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_711.jpg&oldid=- (Version vom 25.8.2022)