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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

erschossen wurden, ward unser Corps vollständig vernichtet. Zur Beresina kamen nur einige hundert Mann, ohne Artillerie, ohne Pferde, dazu vollständig ermattet und gequält von Hunger und Kälte.“

Aus dieser Stelle geht unzweifelhaft hervor, daß Savin auch jenen in der Kriegsgeschichte geradezu einzig dastehenden Marsch Neys über den Dniepr mitgemacht hat. Der Sachverhalt war kurz folgender: Bei Krasnoi am 17. November fast vollständig aufgerieben und von der „Großen Armee“ abgeschnitten, war Ney mit den Ueberbleibseln seines Corps zur Nachtzeit mit unerhörter Kühnheit über den halbzugefrorenen Dniepr marschiert und auf langem Umwege und nach Aufopferung seiner sämtlichen Bagage, Artillerie und Pferde mit noch 600 Mann wieder zu dem Hauptheere gelangt. Napoleon hatte ihn verloren gegeben und war in äußerst niedergeschlagener Stimmung nach Orscha weitermarschiert. Der kaiserliche Geheimsekretär Baron Fain schildert uns in seinem „Manuscrit de 1812“ die ungemein dramatische Scene, wie die Rettung Neys zu den Ohren des Kaisers gelangte. Dieser saß gerade in dem Oertchen Baranoui mit den Marschällen Berthier und Lefebvre zu Tische, als sein Generaladjutant Gourgand (sein späterer Gefährte in der Verbannung von St. Helena) mit der Meldung hereinstürzte, der Marschall Ney wäre da. Der Kaiser sprang vom Tische auf, faßte den Arm des Generals und stieß in tiefer Bewegung nur die Worte hervor: „Ist das auch wirklich wahr?“ Gourgand antwortete, polnische Offiziere, die dem Marschall vorausgeritten, seien soeben in Orscha eingetroffen und der Vicekönig Eugen sei dem Neyschen Corps entgegengerückt. Da rief der Kaiser aus: „Ich habe zweihundert Millionen in den Kellern der Tuilerien, ich hätte sie hingegeben, um den Marschall Ney zu retten.“ Der General Gourgand hat diese Einzelheiten in seiner kritischen Besprechung des bekannten Ségurschen Werkes über den Feldzug von 1812 selbst mitgeteilt.

Der alte Savin gedenkt in seinen Erzählungen mit besonderer Rührung eines Mannes, der in jener entsetzlichen Zeit Unendliches geleistet, der durch seine unausgesetzten Bemühungen Tausende vor dem schrecklichen Tode des Erfrierens gerettet habe. Es war dies der bereits genannte Larrey, der erste Doktor der „Großen Armee“, dem auch Nicolas Savin selbst in jenen Tagen das Leben verdankte.

Nicolas Savin,
der letzte Lieutenant der Großen Armee.
Nach einer Zeichnung von J. Grothe.

Sehr interessant sind des Alten Erinnerungen an den Uebergang über die Beresina. Noch einmal wollen wir dem Erzähler selber das Wort geben: „An der Beresina angekommen, versammelten sich die verschiedenen Corps bei dem kleinen Dörfchen Studianka, wo sich schon der Kaiser mit dem Reste der Garde befand. Mit fieberhafter Hast schritt man zum Bau zweier Brücken, die eine für die Infanterie und Reiterei, die andere für die Artillerie und das Fuhrwerk. Da man keine Pontons hatte (ein mitgenommener Brückentrain war, wie so vieles andere, auf dem Rückzuge vernichtet worden), so baute man die Brücken auf Pfählen, welche unsere braven Pioniere, bis unter die Arme zwischen treibenden Eisschollen im Wasser stehend, einrammten. Man mußte sich beeilen, da der Feind uns auf den Fersen folgte. Vor seinem Uebergange auf das jenseitige Ufer vertraute mir der Marschall Ney die Aufsicht über das Fuhrwerk mit der Kasse des Hauptstabes an. In der Kasse befanden sich mehr als vier Millionen Franken. Dabei befahl er, die Fuhren über die Brücke zu führen, welche für die Geschütze und das schwere Fuhrwerk bestimmt war. Ungeachtet meiner Vorstellungen über die Gefährlichkeit eines solchen Unternehmens, blieb der Marschall bei seinem Befehle, und ich mußte gehorchen. Ich sollte mit der Arrieregarde des Marschalls Victor die Brücke passieren. Das Hauptkommando und die Marschälle befanden sich schon auf der anderen Seite des Flusses. Die Ordnung schwand zusehends. Befehle wurden nicht mehr beachtet. Gerade hatte die Artillerie mit dem schweren Geschütze, mit uns zusammen, den Uebergang begonnen, als man von weitem die Piken der Kosaken auftauchen sah. Nunmehr wurde das Gedränge entsetzlich. Unser Fuhrwerk kam nicht einmal mehr bis zu der Mitte der Brücke, als diese unter der Last der Kanonen und Munitionswagen zusammenbrach und alles, was auf ihr war, Menschen, Pferde, Geschütz und Fuhrwerk, im Wasser versank. Vom Pferde abgeworfen, mit knapper Not dem Tode entgangen, wurde ich von dem übriggebliebenen, rückwärts flutenden Teile der Menge wieder mit auf das diesseitige Ufer gezogen, wo die Unsrigen bald von einem Kosakenhaufen umringt waren. Wir wären verloren gewesen, wenn nicht ein Mann in Generalsuniform die Kosaken aufgehalten und uns zur Ergebung aufgefordert hätte. Das war Platow selbst, der Hetman (Führer) der Kosaken, welchem auf diese Weise viele von uns die Rettung ihres Lebens verdanken.“

Mit dieser Erwähnung Platows, des berühmten Reiterführers der Jahre 1812 bis 1814, schließen, nach dem Berichte meines russischen Korrespondenten, die Erzählungen Savins. Als Gefangener an die Ufer der Wolga gebracht, ist dieser seit dem Feldzuge in Saratow verblieben, hat sich dem Lehrfache gewidmet und ist in diesem noch über 60 Jahre thätig gewesen. Er hat sich auch in Rußland verheiratet und lebt gegenwärtig mit seiner Tochter, einem gleichfalls schon recht alten Fräulein – Oedipus und Antigone – in einem bescheidenen Häuschen in einer der Nebenstraßen jenes halbasiatischen Ortes. In dem engen Stübchen, das der Greis bewohnt, hängen an der Wand zwei Aquarellbilder, die er selber gezeichnet, kostbare Erinnerungen aus den längst entschwundenen Tagen von 1812. Das eine hat er einst in Moskau gefertigt; es stellt ihn selbst dar als schneidigen Reiteroffizier in der Uniform des 2. Husarenregiments. Das andere ist der Kaiser Napoleon in der historischen Tracht, dem grauen Ueberrocke und dem dreieckigen Hütchen, den Blick sinnend in die Ferne gerichtet. So war er im Jahre 1812, und so hat ihn Savin fünfundzwanzig Jahre später nach dem Gedächtnisse gezeichnet, „sprechend ähnlich“, wie Herr Woensky mir mitteilt. Dieser besucht den uralten Krieger sehr gerne, und wir vermögen ihm nachzufühlen, wenn er versichert, daß er bei dem Eintritte unter das Dach des ehrwürdigen, von den großen Tagen der Vergangenheit gern plaudernden Alten „ein unerklärliches Gefühl empfinde, jenes geheimnisvolle Erzittern, welches der Wanderer empfindet, wenn er in die Gewölbe des Pantheons oder unter die Säulen des Kolosseums tritt, nur mit dem Unterschiede, daß hier nicht ein schweigendes Grab steht, sondern ein lebender Mensch weilt, der von der Geschichte eines ganzen Jahrhunderts zu berichten weiß“.

Unter dem Volke an der Wolga genießt der alte Savin jene Art schwärmerischer Verehrung, welche die Phantasie des Slaven dem Märchenhaften, Unbekannten in so reichem Maße entgegenzubringen pflegt. Der „Lieutenant der Großen Armee“ heißt er in dem Lande seiner einstigen Gegner, das ihm seit mehr als achtzig Jahren eine zweite Heimat geworden. Auch der Zar, der von der dürftigen Lage des Greises erfahren, hat ihn vor einiger Zeit mit einem Geschenke bedacht.

Aber im eigenen Valerlande blieb Savins Name vergessen, vergessen, wie so mancher von dem raschlebigen Volke vergessen wurde, der die „große Nation“ in den Tagen der Väter hat groß machen helfen. Die Franzosen, wenigstens die heutigen Republikaner, haben sich überhaupt verzweifelt wenig um die Veteranen des „großen Heeres“, die „ruhmvollen Trümmer“, wie man sie freilich nannte, gekümmert. Erst im verflossenen Jahre sind zwei hundertjährige Kriegskameraden des alten Savin, Louis André Manuel Cartigny, der Letzte von Trafalgar, und Constantin Denis, ein Mitkämpfer von Ligny und Waterloo, beide in großer Armut in ihrem eigenen Vaterlande gestorben. Wenn neuerdings der Pariser „Figaro“, von Herrn Woensky auf dessen Schützling aufmerksam gemacht, für den greisen Krieger eine Sammlung veranstaltet hat, so ändert das daran wenig. Der ganze Ertrag belief sich auf hundert Rubel, die man dem alten Veteranen zugesandt hat, der noch heute von der großen Revolution, von Jena und Eylau, von dem mörderischen Kriege in Spanien und den eisbedeckten Fluten der Beresina als Augenzeuge erzählen kann!


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 716. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_716.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2023)