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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

„Ich will nichts hören, ich will Dir nur sagen, wenn Deine Mutter zu ihrer ersten Dummheit noch eine zweite macht und duldet, daß diese Spatzenscheuche, dieser – na, ich will lieber schweigen – ihre Tochter erschnappt, so sind wir geschiedene Leute – bestell’ ihr das! Bei aller Hochachtung vor Herrn Wollmeyer – sein Neffe ist ein – –“ Sie bekam einen Hustenanfall.

„Tante, darf ich Dir denn erzählen?“

„Nein!“ donnerte sie mich an, „ich will nichts erzählt haben!“

„Du sollst mir aber helfen,“ rief ich jetzt noch lauter als sie, „ich soll ihn nehmen und ich will nicht, Tante.“

Sie war auf einmal ganz still. „So, so?“ kam es endlich heraus, „Du sollst, aber Du willst nicht? Wer will denn, daß Du sollst? Len’ wird doch nicht?“

„Meine Mama weiß nichts,“ stieß ich schluchzend hervor, „sie soll es auch nicht wissen, weil es sie so sehr aufregt, sagte man mir. Er, Wollmeyer, will bis morgen mittag die entscheidende Antwort haben; es giebt gar kein Nein, hat er gesagt, Tante.“

„Ach was, Schnack!“ antwortete sie; „das sind ja Redensarten, um Dir angst zu machen.“

Ich schwieg und kämpfte mit mir, ob ich ihr von dem Gespräch erzählen dürfe, das ich belauscht hatte. Aber das dumpfe Gefühl, irgend etwas Schreckliches, die bewußte Skandalgeschichte heraufzubeschwören, hielt mich davon ab. „Er hat so gesagt, Tante,“ stotterte ich nur, „und ich habe Angst vor ihm. Wenn ich nur mit Mama reden dürfte – Mama würde mir recht geben, sie kann ja gar nicht anders.“

„Es kommt mir sonderbar vor, daß Len’ nichts davon wissen soll,“ murrte sie; „Schwiegersöhne sind Angelegenheiten mit denen sich keine Mutter gern überraschen läßt, da will jede ihren Senf dazu geben.“ Und plötzlich warf sie mit einem Ruck ihr Tuch ab. „Streiten kann ich mich nicht mit ihm,“ rief sie, „er ist Stadtverordneter, und diese Sorte redet unsereinen in Grund und Boden, aber seinen Willen bekommt er nicht, Anneliese. Ernsthaft gesprochen, Kind, jetzt beichte, denn klar muß ich sehen, weil ich die Geschichte für ein Unglück halte. Wie ist’s gekommen? Heraus mit der Katze aus dem Sack!“ Sie saß kerzengerade da, mit der Miene eines Untersuchungsrichters.

„Hat er, der Brankwitz, sich Dir denn selbst schon erklärt?“

„Ja, Tante, bei der Wagenfahrt letzthin – und dann fing er gestern abend noch einmal an – nach dem Diner.“

Sie blickte starr vor sich hin. „Nu sieh, nu sieh das Kücken,“ sagte sie und machte jetzt ein Gesicht, als denke sie nach, ob ihr jemals etwas Aehnliches begegnet sei. „Daran bist Du selbst schuld,“ fuhr sie mich dann an, „allemal sind die Frauenzimmer schuld, wenn die Männer von Liebe zu schwatzen wagen und unverschämt werden, allemal, sag’ ich Dir. Mir ist keiner so unverschämt gekommen, ich kann’s beschwören.“

Ich blinzelte sie von unten herauf an, diese übergroße häßliche und doch so liebe Person, und meine Blicke blieben schließlich an der zur Faust geballten mannsgroßen Hand hängen, die sie auf den Tisch gelegt hatte. Ach ja, sie besaß etwas Achtunggebietendes, die Tante Komtesse.

„Was siehst Du mich denn so an mit Deinem Spitzbubengesicht, unter den Krokodilsthränen hervor, Du Krott?“ schalt sie. „Meinst wohl gar, die Trauben seien sauer gewesen? Hör’, ich könnte Dir Geschichten erzählen – es gab mehr wie einen, der die lange Komtesse gern gefreit hätte, aber – das ist altes Eisen wie ich selber. Ich spreche jetzt von Dir! Du bist schuld, Anneliese, und nun muß man Dich aus der Patsche ziehen – – wenn ich nur wüßte, wie!“ Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Du sagst einfach Nein!“ entschied sie endlich.

„Ja, das habe ich schon gethan und werde es wiederholen, Tante. Wenn Du – –“

„Wenn Du weiter nichts weißt – willst Du sagen? Sehr freundlich! Aber ich gebe Dir die Versicherung, Kücken, wenn Ihr Euch beide zusammenthut, Du und die Len’, da kann der Wollmeyer gar nichts durchsetzen, gar nichts; Du kennst die Macht noch nicht, die unsereiner auszuüben vermag durch passiven Widerstand. Ich sage Dir, Napoleon selber wäre mir gegenüber nicht Sieger geblieben – den Ersten meine ich – der Dritte ist ja ein glänzendes Beispiel für meine Behauptung, denn den hat seine Eugenie links und rechts gebracht, wie sie wollte.“

„Tante,“ sagte ich traurig, „Du weißt nicht, wie Mama sich geändert hat.“

„Aber nicht in der Liebe zu Dir, denn hier spricht ihr Mutterherz. Laß den Mut nicht sinken, Kind!“

„Und wenn – wenn Du Dich täuschest, Tante, wenn auch sie es wünschen sollte – was würdest Du thun an meiner Statt?“

„Ausreißen!“ sagte sie schnell, „das heißt,“ verbesserte sie sich, dunkelrot vor Aerger über sich selbst – „mach’ nicht solche Augen, als ob Dir ein Talglicht aufginge, Du Naseweis – ich meine damit, ob Du nicht vielleicht einmal verreisen willst, etwa nach Hamburg, wohin ich Dich damals schon bringen wollte, als Len’ sich verlobte. Wie? Ich werde mit Len’ sprechen und auch mit Wollmeyer; Du bist ja noch viel zu jung zum Heiraten. Ich treffe Deine Mutter heute abend beim Superintendenten, da red’ ich ihr ins Gewissen. Vielleicht sind die beiden auch dabei, der Brankwitz und die fragwürdige Schwester – hör’, Kücken, laß Dich mit der nicht ein, sie sieht gefährlich aus! Na, wie gesagt, das verstehst Du nicht, aber ich kenne Berlin, ich kenn’ es – aber das verstehst Du nicht. Also, ich thu’, was ich kann, Kleine; laß die Ohren nicht hängen! Jetzt kannst Du gehen, ich will mir einen frischen Kamillenumschlag machen, damit ich heute nachmittag zu der armen Tollen kann, und dann abends zum Whist. Ich darf sie nicht im Stich lassen mit ’nem Strohmann können sie ja wohl spielen, aber der Postdirektor fehlt heute, und mit Zweien, das kann hier keiner, denn, lieber Gott, dazu gehört Finesse, große Finesse!“

Ich küßte ihr die Hand und ging, aber mit ganz verwirrtem Kopf. „Ausreißen!“ hatte sie gesagt. Wenn alles nichts half, alles Weigern nicht, wenn Mama mich auch verlassen sollte, dann – – ich war jetzt ganz beruhigt.


Als ich nach Hause kam, lag ein Brief von der Base da, ein großer dicker Brief, er enthielt ihr Sparkassenbuch und die Bitte, ihr hundert Mark zu erheben und hinzuschicken. Ein lieber fehlerhafter alter Basenbrief, vor dessen Herzensgüte und Treue alle seine stilistischen Fehler in nichts zerflossen.

„Herzliebes wertes Fräulein Anneliese! Wenn Sie wollen so gütig sein, mich hundert Mark herunterzuholen und per Post an mich gelangen zu lassen; Adresse Dorothea Himmel in Langenwalde bei Quersleben, abzugeben bei Herrn Inspektor Hübner daselbst. Ich würde sehr dankbar sein, wenn Sie dazu schreiben wollen, ob Sie gesund und wohl auf seien und wie es sonstig geht, und ob die gnädige Frau Mama nicht gar soviel Plag’ hat mit die alten Küchengeschichten und ob die neue Köchin eiugeschlagen ist – ich habe soviel Herzbangen nach Ihnen, sonst geht’s mich gut. Ich wünsche immer, Fräulein Anneliese wär’ hier, so schön ist’s hier und so friedlich. Ich konnt’ auf der Mühle nicht wohnen, weil der Pächter so viel Platz braucht für seine große Familie, da bin ich im Schlößchen untergekommen, und was die Frau Inspektorin ist, giebt mir Essen für ganz billig. Um Weihnacht herum bin ich immer so traurig, dies Jahr besonderlich; ich habe gar zu wenig zu thun, immer bloß spinnen, da spinnen die Gedanken mit und im Kopf drinnen dreht es sich wie ein Rädchen.

Wenn’s Mai wird, sollten Fräulein Anneliese ’mal kommen, jetzt ist’s aber auch schön, so schöne Schlittenbahn wird Ihnen

gewiß gefallen. Leben Sie wohl, Fräulein Anneliese! So gewiß der Himmel über uns ist, so gewiß hat Sie bis zum Tode lieb

die alte Base Dorothea Himmel. 

P. S. Wenn Sie’s nicht übel nehmen – sollten Sie in Verlegenheit kommen mit Geld, so holen Sie sich man ruhig was auf dies Buch – man kann ja nicht wissen. Ich brauche ja nicht viel, nur so ein bissel vor Weihnacht, sonst bekomme ich alles, und alles bekommt ’mal Robert Nordmann, aber wer weiß, ob er noch lebt.“

Alte gute Base! Ich saß da mit dem Schreiben in der Hand, als das Stubenmädchen erschien und im Auftrage meines Stiefvaters fragte, ob ich oben speiseu wolle mit der Herrschaft oder ob ich vorziehe, hier unten zu essen.

„ Bitte, hier unten!“ entschied ich. Und ich dachte, als ich da allein saß, ob es Zartgefühl sei, das ihn veranlaßte, mich hier unten zu lassen, oder Angst vor mir.

Was aber mochte man Mama vorgeredet haben? Sie kam nach Tische ganz blaß und aufgeregt herunter. Am liebsten wäre ich ihr um den Hals gefallen und hätte ihr alles gesagt, aber dicht hinter ihr war diese Olga Sellmann, und die setzte sich auf den Fenstertritt und redete lauter Unsinn, nannte mich „Kleiner Eigensinn“, „Eremitin“ und dergleichen und that, als ginge diese Zurückgezogenheit nur von meinen Launen aus. Sie wich und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 730. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_730.jpg&oldid=- (Version vom 25.8.2022)