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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

am 11. Mai 1878 einen Revolver auf ihn ab, glücklicherweise ohne zu treffen. Hoedel war früher ein Kolporteur sozialdemokratischer Blätter gewesen, dann aber von der Sozialdemokratie selbst von ihren Rockschößen abgeschüttelt worden; er wurde hingerichtet. Inwieweit dann das Attentat, das Dr. Karl Eduard Nobiling am 2. Juni 1878 auf den greisen Kaiser verübte, mit bestimmten politischen Motiven zusammenhing, konnte nicht ermittelt werden, da derselbe sich gleich darauf mit einem Revolver in den Hinterkopf schoß und später nur ganz kurze Zeit vernehmungsfähig wurde. Auf den Mitbegründer des Deutschen Reichs, den Ministerpräsidenten von Bismarck, wurde, als er an der Schwelle jener großen Ereignisse stand, welche die politische Weltlage gänzlich wandeln sollten, in Berlin am 7. Mai 1866 ein Attentat verübt. Ferdinand Cohen-Blind schoß „unter den Linden“ in Berlin auf den Minister. An demselben Tage noch öffnete sich Blind im Gefängnis zu Potsdam die Pulsadern. Bismarck war damals der bestgehaßte Mann in Preußen; der Konflikt mit dem Landtag hatte seinen Höhepunkt erreicht; Adressen aus allen preußischen Städten bestürmten den König, er möchte ein neues Ministerium wählen. Da glaubte sich offenbar der junge Blind berufen, die Achtserklärung der öffentlichen Meinung zu vollziehen, den „Feind der Freiheit und des Friedens“ zu vernichten. Etwa acht Jahre später, nach des Deutschen Reiches Gründung, in der Zeit des Kulturkampfes, schoß der Böttchergeselle Kullmann zu Kissingen am 13. Juli auf den Reichskanzler, „um der Kirchengesetze willen“, und verwundete ihn leicht an der Hand.

Auch in den andern europäischen Ländern fehlte es keineswegs an verwegenen Köpfen, die politische Wirrnisse mit der Mordwaffe im eigenen Sinne zu lösen suchten. Insbesondere häuften sich im revolutionsreichen Spanien die Anschläge gegen Könige und Staatsmänner. Schon 1852 war die Königin Isabella von dem fanatischen Priester Merino angefallen worden; General Prim, der allmächtige Ministerpräsident, erlag im schicksalsreichen Jahre 1870 den Wunden, die ihm von meuchlerischen Händen beigebracht waren, König Amadeus sowohl wie König Alfons waren wiederholt bedroht.

Der große amerikanische Bürgerkrieg, der mit der Niederlage der Südstaaten endete, hatte ein blutiges Nachspiel in der Ermordung des würdigen Präsidenten Abraham Lincoln durch John Wilkes Booth, der ihn am 14. April 1865 im Theater in Washington erschoß. Der Mörder, ein Bruder des berühmten Schauspielers Edwin Booth und selbst Schauspieler, ein fanatischer Anhänger der unterlegenen Sklavenhalterpartei, entkam auf seiner Flucht bis Virginien, wurde aber dort entdeckt und von seinen Verfolgern erschossen.

In der Geschichte des politischen Mordes trat aber eine bezeichnende und bedeutsame Wendung ein, als derselbe in ein System gebracht und geheimbündlerischen Bestrebungen dienstbar gemacht wurde. Dies geschah in den letzten Jahrzehnten durch den Nihilismus und den Anarchismus, die beide gegenwärtig als furchtbare im Hintergrund lauernde Mächte die politische Weltlage beunruhigen und bedrohen. Die gemeinsamen Wurzeln beider sind in Rußland nachzuweisen. Der Stammvater des einen wie des andern ist Michael Bakunin, der in deutschen, österreichischen und russischen Kerkern gesessen, aus Sibirien über Japan entkommen, mit den Revolutionären in aller Herren Ländern die nächste Fühlung genommen hat und die Brandfackel schwang, die Vernichtung alles Bestehenden predigend; er ging sogar der Internationalen zu weit, die sich von ihm lossagte. Sein Schüler Netschajew zog dann die letzten Folgerungen seines Systems; er lehrte die „Propaganda der That“, die sich um ihre Opfer nicht kümmert, und pries alle Gewaltmittel, die dem Werke der Zerstöeng dienten.

Es würde zu weit führen, wollten wir alle nihilistischen Anschläge, die sich durch die letzten Jahrzehnte der russischen Geschichte hindurchziehen, hier einzeln aufzählen – von dem Attentat eines Dimitrij Karakasow gegen Alexander II. (16. April 1866) bis zu den aufgerissenen Schienen bei Borki, welche den Bahnzug mit Kaiser Alerxander III. zur Entgleisung brachte (29. Oktober 1888), ja bis herab zu dem teuflischen und glücklicherweise rechtzeitig vereitelten Plane, die Einweihung der Gedächtniskirche in Borki zu einem neuen Attentat zu benutzen (Juni 1894), bilden sie eine furchtbare Kette, der Regierenden Leben mit steter Todesdrohung verdüsternd, aller Ueberwachung und blutigen Unterdrückung spottend. Und am 13. März 1881 hat denn auch der Nihilismus einen traurigen Triumph erlebt – an diesem Tage endigte Alexander II., von einer platzenden Bombe schwer verstümmelt, sein Märtyrerdasein. Es war das sechste Attentat, das gegen den Kaiser persönlich gerichtet war.

Wenn der Nihilismus im Osten das Erbe Bakunins gleichsam nur mit Vorbehalt angetreten hat, so hat der Anarchismus das Evangelium der Zerstörung um jeden Preis, wie es Bakunins Schüler verkündigte, rückhaltlos angenommen. Die Nihilisten haben noch ein politisch-sociales Programm; die Anarchisten bekämpfen jedes Programm, in welchem noch das „Gespenst einer gesetzgeberischen Macht spukt“; sie verwerfen jede Herrschaft. Nicht bloß die Lenker der Staaten, auch die friedlichen Bürger, die ein Besitzrecht haben und damit eine Herrschaft ausüben, sind ihrem Hasse verfallen. Wohin die Mordwaffe treffen mag, sie mordet im Dienst der „guten“ Sache.

Trotz dieser Lehre waren die anarchistischen Mordanschläge in den romanischen Ländern nicht alle ohne einen bestimmten Zweck; Ravachols erstes Dynamit-Attentat am 11. März 1892 richtete sich gegen den Präsidenten eines Schwurgerichtshofes, der Anarchisten verurteilt hatte, ein zweites am 28. März galt dem Untersuchungsrichter Buloz. Und als Ravachol am 25. April 1892 vor Gericht gestellt werden sollte, da erfolgte, um dieses einzuschüchtern, am 25. April die Explosion im Restaurant Very, wo Ravachol verhaftet worden war. Es handelt sich also hier um die Verfolgung ganz bestimmter verhaßter Personen, um ganz bestimmte Racheakte. Der Bombenwurf des Anarchisten Pallas gegen den spanischen General Martinez Campos am 24. September 1893, die Unthat Vaillants, der am 9. Dezember 1893 seine Bombe in den gefüllten Sitzungssaal der französischen Abgeordnetenkammer schleuderte, um die französischen Gesetzgeber zu zerschmettern, der Revolverangriff Paolo Legas auf den italienischen Ministerpräsidenten Crispi am 16. Juni 1894 und endlich der ruchlose Dolchstoß Caserios, der am 24. Juni 1894 den unglücklichen Präsidenteu Carnot durchbohrte, wie jener andere zu Livorno, der am 1. Juli den Zeitungsverleger Bandi tötete zum Lohne dafür, daß er in seinem Blatte gegen Carnots Mörder geeifert, – sie tragen noch die Spuren einer Art von Zweckgedanken an sich. Ein vollkommen sinnloses Bubenstück aber war das Attentat Henrys im Terminus-Hotel (12. Februar 1894) und ebenso dasjenige von Pauwels in der Madeleinekirche (14. März 1894) zu Paris, wie die Schandthat Salvators, der im Teatro Liceo zu Barcelona am 7. November 1893 gegen hundert Personen tötete und verwundete.

Wenn man behauptet, der Anarchismus sei in Deutschland bisher noch nicht zur „Propaganda der That“ geschritten, so vergißt man den entsetzlichsten aller anarchistischen Mordversuche, dem gegenüber die Kaffeehausbomben der Pariser Mordgesellen als Kinderei erscheinen: das beabsichtigte Attentat am Niederwald. Von dem deutschen Anarchisten Reinsdorf ging der furchtbare Plan aus, bei der Einweihung des Denkmals auf dem Niederwalde am 28. September 1883 den Kaiser und seine Paladine, zahlreiche deutsche Fürsten und Generale, den Vorstand des Reichstags, alle hervorragenden Träger des Reichsgedankens mit einem Schlage in die Luft zu sprengen. Der Regen bewirkte, daß die Zündschnur der Dynamitlegung versagte. Erst später wurden diese neuen Herostrate, die Schriftsetzer Reinsdorf und Küchler und der Sattler Rupsch, dingfest gemacht, von dem Reichsgericht verurteilt und die beiden ersten am 13. Februar 1885 in Halle enthauptet. Auch die Ermordung des Polizeirats Rumpf zu Frankfurt a. M. durch Lieske (Januar 1885) ist eine anarchistische Greuelthat auf deutschem Boden. In der That haben die Theorien Bakunins den Weg von Rußland nach dem Westen über Deutschland genommen und leider hier – wir verweisen nur auf den Buchbinder Joh. Most – fanatische Apostel gefunden.

Von Stapß zu Caserio – welch ein Abstand! Dort der schwärmerische Predigersohn, der auszieht, die Seufzer und Thränen von Millionen zu rächen, das heilige Vaterland vom fremden Unterdrücker zu befreien, – hier der vaterlandslose Geselle, der ein durchaus friedlich gesinntes Staatsoberhaupt ersticht, nur um die Welt, soweit sie in staatlicher Ordnung sich wohl fühlt, aufzuscheuchen in jähem Schreck. Welch abgrundtiefe Kluft anscheinend zwischen beiden! Und doch steht nur der eine am Anfang, der andere am Ende einer verhängnisvollen schiefen Ebene, einer sittlichen Entartung, in deren Verlauf sich das schwärmerische Jünglingsantlitz in eine höhnisch grinsende Grimasse verwandelt.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 748. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_748.jpg&oldid=- (Version vom 13.4.2023)