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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

trotzige Gesichtchen. „Vorsicht!“ mahnte er, als unter den zierlichen Knopfstiefeln ein Stein in die Tiefe kollerte.

„Ach!“ warf sie geringschätzig hin, „wer solche Gletschertouren gemacht hat wie ich, ist nicht ängstlich!“ Und gereizt von einer Empfindung, die sie sich selbst nicht zu erklären vermochte, setzte sie hinzu: „Was könnte mir denn auf diesem höchst harmlosen Weg gefährlich werden?“

Er lachte über die Herausforderung in Ton und Miene. „Wir sind ja auch nicht hier, um Gefahren zu bestehen, sondern um von etwas geheilt zu werden.“

„Brauchen Sie auch die Kur?“ fragte Ilse, verwundert, daß dieses Bild der Gesundheit einer solchen bedurfte. „Ist die Quelle vielleicht auch gut gegen unbefugtes Lauschen und Lachen?“

„Gegen Mucken aller Art,“ gab er ihr ebenso anzüglich zurück. Dann fuhr er gleichmütig fort: „Und die will ich meinem Arm abgewöhnen, der seit einem Sturz mit dem Pferd im Manöver anfängt, sich als Wetterglas aufzuspielen. Was meinen Sie, was er heute prophezeit hat? Veränderlich? Sturm?“

Ihr blonder Kopf richtete sich kampfbereit höher auf.

„Hellen Sonnenschein,“ vollendete er verbindlich. „Und er hat recht behalten. Denn ich habe eine reizende Bekanntschaft gemacht, an der ich nur eins vermisse –“

Wieder fuhr sie herum, eines Angriffs gewärtig. Er weidete sich einen Augenblick an dem bewegten blühenden Gesichtchen, dann schloß er: „daß ich sie nicht mit Namen nennen kann.“

Sie knixte schelmisch gravitätisch: „Ilse Großheim.“

Er erwiderte mit tiefer Verbeugung. Dann suchte er in seinem Gedächtnis. „Der Name klingt mir bekannt.“

Ilse half nach. „Großheims Spargel, Schnittbohnen, Pfirsiche, Nüsse und was weiß ich? Ich kümmere mich natürlich nicht um unsere Konserven.“

„Schmücken sich aber mit jungen Gemüsen,“ scherzte er, einen Blick auf ihre dicke Hutguirlande werfend. „Ich sehe sogar Schoten. Die gehören doch in den Topf, nicht auf den Kopf. Wie kochen Sie Schoten?“

„Küchenangelegenheiten! Damit kann man mich jagen!“ lachte sie auf.

„Mich nicht,“ entgegnete er. „Ich jage nur ungeschickte Köchinnen fort.“

„Sie sind verheiratet?“ Es klang ganz enttäuscht.

Ein Lächeln verlor sich in seinem Bart. „Unberufen, nein. Aber Vorstand des Kasinos und als solcher verpflichtet, über die Küche zu wachen.“

„Und natürlich ein Feinschmecker wie alle Hagestolze,“ neckte sie.

„Auch das,“ gab er zu, „Wenn ich die Mahlzeiten meiner Kompagnie koste.“

„Kosten, meinetwegen,“ sagte Ilse. „Aber kochen? Das wäre unter meiner Würde!“

„Eine gute Reissuppe und alle Hülsenfrüchte kann ich zubereiten,“ antwortete er.

Ihre Lippen kräuselten sich. Das Wort „Topfgucker“ schwebte auf ihrer Zunge. Aber es wurde nicht ausgesprochen angesichts dieser hochgewachsenen Gestalt, die trotz des bequemen Civilanzuges wie aus Eisen gegossen schien.

„Man muß das verstehen,“ erklärte er, „wenn man das Abkochen der Leute im Manöver überwachen will.“ Und nachdrücklich setzte er hinzu: „Was zu unserem Beruf gehört, ist nie unter unserer Würde.“

Ilse empörte sich gegen die Belehrung, aber sie fand keine Antwort. Während sie innerlich danach rang, wieder auf das hohe Pferd zu kommen, auf dem sie zu sitzen pflegte, band er, ein flottes Marschtempo anschlagend, ohne daß sie es merkte, ihren unstäten Gang an seinen gleichmäßigen Schritt.

Am Eingang in die Stadt holten sie das andere Paar ein. Gabriele war stehen geblieben. „Ich habe noch ein paar Einkäufe zu besorgen.“ Schersen zog sofort den Hut. Ein letzter rosiger Abendstrahl traf das jetzt unbeschattete fein geschnittene Gesicht, schimmerte auf dem hellen Haar und schien sich in den schönen braunen Augen zu spiegeln. Ihr selbst unbewußt vermochte ihr Blick ein paar Sekunden lang sich nicht von ihm loszureißen. Dann verneigte sie sich zum Abschied.

„Auf Wiedersehen!“ sagten einstimmig ihre Begleiter.

Schweigsam gingen die Freundinnen durch Damengruppen, die in Toiletten à la Watteau, den Pompadour am Arm, den Kaffeegärten entströmten; durch Kinderscharen, die mit Ketten von Löwenzahn und Körbchen voll Eichelnäpfchen aus den Waldverstecken, von den sonnigen Triften heimkehrten; vorüber an Trupps von Herren, die, friedlich vor sich hindämmernd, nach Hause schlenderten, sichtlich in der beschaulichen Stille des kleinen Badeortes von der nervösen Hast der Großstadt erlöst.

Keine merkte die Einsilbigkeit der andern. Mit ihren Gedanken beschäftigt, begab sich jede nach eingenommenem Thee auf ihr Zimmer. Bei Ilse hob sofort ein Klingeln nach dem Stubenmädchen, ein Klappern mit Schlüsseln und Kofferdeckeln und lautes Geplauder an.

„Den Anzug, ‚à la Tragkleid‘ in die tiefste Ecke des Schrankes, man wird sonst zuletzt für ein Baby gehalten! Wie ein Kind, das auf die Nase fällt, bin ich behandelt worden. Fort mit den englischen Schuhen! In denen schiebt man wie eine Ente herum. Die Pariser Stiefelchen mit den hohen Hacken zieh’ ich morgen an. Da hat man seine richtige Größe, auch einem großen – nein, langen Herrn gegenüber. Haben Sie die Bonbonniere auf das Marmortischchen gelegt? Etwas zu knabbern muß ich haben. Daß Sie mich morgen nicht wecken! Ich schlafe, so lange es mir gefällt. Gute Nacht!“

Indessen saß Gabriele, die Feder in der Hand, vor dem Cylinderbureau. Aber auf der neuen Seite des Tagebuchs waren nur die Worte eingetragen: „Zeit bringt Rosen“. Sonst pflegte sie Pläne zu Arbeiten, kurz skizziert, darin niederzulegen. Jedoch die kleine Erzählung, die bei dem Frankenhaus ihr durch den Sinn gegangen war, als hätte eine Stimme aus dem zerklüfteten Gebäude sie ihr ins Ohr geflüstert, ließ sich in keine feste Form fassen. Des Türmers Töchterlein, das sie in das verfallene Fenster geträumt hatte, zerfloß wie ein Nebel vor der Erinnerung an ihr eigenes Bild, das ein Fremder mit einer Art Hellsehen dahin zeichnete und bannte. Der düstere Held aus dem Bauernkrieg, den sie so deutlich zu erschauen meinte, wie er den Schlachtberg hinaufzog, tauchte in die versunkene Zeit zurück vor der Gestalt des Zeichners, der hinter den geschlossenen nickenden Rosenknospen sich erhob. Ein Stück Maler steckte in ihm. Die erkennen aus dem Antlitz der Menschen feine Regungen der Seele, welche gewöhnlichen Sterblichen verborgen bleiben. So las er von ihren Zügen die Sehnsucht ab.

Kein Wunder, daß diese wie ein Teil von ihr geworden war! Sie hatte es jahrelang geübt, das Ausschauen in die Ferne, in die Sterne, bis sie wußte, daß es Barmherzigkeit war, wenn die Himmelslichter ihr nicht wiederspiegelten, was sie erblickten.

Und an dem Faden flogen die Gedanken einen weiten Weg zurück. (Fortsetzung folgt.)


Blätter und Blüten.

Das neue Heilverfahren gegen Diphtherie und sein Begründer. Das Jahr 1890 war das Geburtsjahr einer neuen Heilmethode. Damals machte Stabsarzt E. Behring in Berlin eine hochwichtige Entdeckung. Er fand, daß das Blut von Tieren, welche an gewissen durch Bakterien erzeugten Krankheiten leiden, sich in eigenartiger Weise verändere. Genasen die Versuchstiere von der Diphtherie oder dem Wundstarrkrampf (Tetanus), so enthielt ihr Blut Heilstoffe, welche die verderblichen Wirkungen der Diphtherie- oder Tetanusbacillen aufzuheben vermochten. Ferner ermittelte Behring, daß jene Heilstoffe nicht in den festen, sondern in den flüssigen Bestandteilen des Blutes, d. h. in dem Blutserum oder Blutwasser, enthalten waren. Dieselben Eigenschaften zeigte auch das Blut der Tiere, welche durch Schutzimpfung gegen die genannten Krankheiten immun oder unempfänglich gemacht wurden. Es galt nun, diese wichtige Entdeckung zum Wohle der leidenden Menschheit zu verwerten, und mit rastlosem Eifer ging Professor Behring daran, aus dem Blute diphtherieimmun gemachter Tiere ein Heilserum zu gewinnen, das auch an Diphtherie erkrankte Menschen retten könnte.

Mit berechtigter Spannung sah die Welt den Endergebnissen dieser mühevollen Arbeiten entgegen; war doch bis jetzt gegen den Würgengel unserer Kinderwelt kein sicher wirkendes Heilmittel bekannt. Bevor man jedoch zu Versuchen an kranken Menschen schreiten konnte, waren große Schwierigkeiten zu überwinden; die Kunst, verschiedene Haustiere mit Sicherheit immun zu machen, mußte erst erlernt werden, und zwei Jahre vergingen, bis der Erfinder des Heilverfahrens in der Lage war, so hohe Grade der Immunität zu erzielen, daß mit dem neuen Mittel Versuche in Kinderkrankenhäusern angestellt werden durften. Das erste Ergebnis war nicht entscheidend, aber soviel stellte sich heraus, daß das Heilserum keinen Schaden brachte und den Verlauf der schweren Krankheit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 755. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_755.jpg&oldid=- (Version vom 13.4.2023)