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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

hinauswarf, und ein Glöckchen auf dem Tisch am Bett, um die Base zu rufen.

„Ach,“ sagte ich schlaftrunken, „wie kann man nur in die Stadt ziehen, fort aus so herrlicher Gegend und einem so gemütlichen alten Hause? Da verstehe ich nun wohl, daß Frau Hannchen die Sehnsucht nicht los geworden ist.“

„Ja, es giebt mancherlei, was die Menschen wandern heißt,“ antwortete sie. Sie machte sich plötzlich in der Nebenstube zu schaffen; sie hatte wohl Angst, ich möchte aufs neue sie ausfragen.

„Base,“ rief ich nach einer Weile, aus dem ersten Hinüberdämmern auffahrend, „Base, kommen Sie rasch, ich muß Ihnen etwas erzählen!“

Sie kam auf ihren weichen Pantoffeln. „Schlafen Sie doch, liebes Annelieseken,“ bat sie.

„Nein. Base. Denken Sie nur, gestern war ich auf dem Kirchhof, und da stand jemand an Hannchens Grabe, ein großer schöner, schlanker junger Mensch, und mir ist, als hätte er Aehnlichkeit gehabt mit der Photographie von Robert Nordmann.“

Sie antwortete nicht; sie hielt den Atem an und ich fühlte, wie ihre Hand zitterte, die auf der meinen lag.

„Ja, und da dachte ich, ob’s nicht vielleicht Ihr Robert gewesen sein könnte,“ fuhr ich zögernd fort.

Sie blieb lange still, endlich sagte sie: „Weil da einer grad’ an ihrem Grabe gestanden ist? Ach, Annelieseken, ach, ich wollt’, Sie hätten’s mir nicht erzählt. Nun bildet man sich wieder ’was ein, und es wird ja doch nimmer wahr!“ Und sie ging leisen Schrittes hinaus, und im Nebenzimmer hörte ich sie weinen und mit sich selbst flüstern.

Dann erlosch plötzlich das Licht nebenan, und es ward still, ganz still, und nun kam der Schlummer.


Das Erwachen am andern Morgen war nicht ungetrübt. Ich hatte schwer und ängstlich von Mama geträumt, sie sei krank geworden und gestorben, und meine Schuld sei es gewesen, hatte sie mir im Sterben gesagt, und weil der alte thörichte Aberglaube mir in den Sinn kam, daß das, was man in der ersten Nacht an einem fremden Orte träume, unfehlbar wahr sei, stand ich zu allem andern noch unter dem Druck dieser Angst und konnte an nichts denken als an das blasse verzerrte Gesicht Mamas. Meine Phantasie malte mir unglaubliche Situationen aus. Ich überlegte mir Mamas ganzes Gebahren nochmals, ich erzählte auch der Base ausführlich, wie merkwürdig aufgeregt sie gewesen sei und wie es ihrem ganzen Charakter zuwiderlaufe, mich zu einer Verlobung zwingen zu wollen. Sie hatte doch früher immer gegen mich und gegen andere geäußert, nie werde sie sich in eine Herzensangelegenheit zu- oder abredend einmischen, und sei es auch bei ihrem eigenen Kinde; das müsse ein jedes mit sich selbst abmachen Die Base war auch recht niedergeschlagen und gab mir kaum eine Antwort. Sie versuchte dann im Laufe des Tages mich etwas aus meinem Hinbrüten aufzurütteln, indem sie mich in dem alten Herrenhause umherführte. Aber die meisten Stuben und Säle waren unmöbliert und die Kälte in den seit Jahren unbewohnten Räumen so eisig, daß sie wieder davon abstand. Ich stieg dann mit ihr die Treppe hinunter, sagte der Frau Inspektor Hübner Guten Tag – Hübners bewohnten das linke Erdgeschoß – und sah mir das halbjährige Kindchen an; die Geschwister waren in der Schule und einer gar schon drunten in Gotha auf dem Gymnasium. Die Base und Frau Hübner zeigten mir auch den Milchkeller, die Obst- und die Flachskammer, ja sogar in den Kuhstall locktnu sie mich, und die Augen der alten Frau bekamen einen feuchten Schimmer, als ich auf ihre Frage, ob es mir gefalle, antwortete: „Sehr, Base, es ist sehr schön hier!“

„Und schauen Sie, Fräulein Anneliese, dort über dem Bach drüben, das große Gebäude, das ist die Mühle, und dort hinter dem Lindengipfel die zwei Fenster im Giebel, da habe ich meine Jugend verlebt.“

Wir standen in dem offenen Hofthor des Herrenhauses, wie es genannt wird, und ich ließ meine Augen hinüberschweifen. Es war ein so trauliches Winterbild, dieses spitze verschneite Giebeldach der Mühle mit der riesigen Linde, dem gefrorenen Bache, und als Staffage der mit weißen Säcken beladene Frachtschlitten mit den kräftigen Pferden davor. Dahinter stiegen die Berge empor, und seitwärts dehnte sich das Thal mit dem Dörfchen, aus dessen Schornsteinen sich der bläuliche Rauch emporkräuselte. Das Kirchlein lag höher am Berge und blickte wie eine wachsame Mutter auf die Häuser und Hütten hinunter.

„Das ist Langenwalde,“ sagte die Base, „und das große Haus nicht weit von der Kirche ist die Schule, da bin ich oft gewesen, wie Nordmanns noch dort wohnten, kaum fünfundzwanzig Minuten ist’s von hier. Es ist lange her.“ Sie seufzte. „Auf der Landstraße dort kam er manch liebes Mal gelaufen, der Junge, und holte sich von der Pate einen Groschen oder ein Stückchen Kuchen – ich hab’ ihn nämlich über die Taufe gehalten, Annelieseken! Da kam er denn auch an dem schrecklichen Tage mit so todesbangen Augen zu mir: ,Base, die Mutter – sollst zur Mutter kommen! Die Mutter ist krank!‘ Und wie ich, das Kind an der Hand, atemlos ins Schulhaus trete, da hat sie schon keine Besinnung mehr, und sie hat sie auch nicht wieder bekommen. Ein Schlagfluß ist’s gewesen, und nach drei Tagen war sie tot – und dann ging’s so weiter ins Unglück hinein.“

„Ja, ja, Base, ich weiß, das waren die Streitigkeiten um Mein und Dein, die Du gestern angedeutet hast, und die Brankwitzens waren dabei.“

„Ja, der Vater hat dann die Mühle gekauft – das Gut hier gehörte ihm ja schon, Anneliese,“ sagte sie kurz. „Vorher hatte es ein adliger Herr aus Gotha, aber der scheint mehr Jäger als Landwirt gewesen zu sein – so heruntergewirtschaftet war’s . . . man konnte es um ein Billiges haben. Na, und als dann Wollmeyers wieder zu Gelde kamen, hat er die Mühle zurückgekauft und das Gut dazu – das ist alles. Und das wissen Sie ja auch schon!“

Ich schwieg, ich wußte, daß es nicht alles war, aber auch, daß ich jetzt nicht mehr davon erfahren würde. Mich fror und ich verlangte nach oben.

„Die Erkältung meldet sich,“ sagte die Base.

Und dann saß ich am Fenster und schaute in die Schneelandschaft und sah das Dörfchen liegen und die einsame Landstraße und sah, wie gegen drei Uhr schon die letzten Sonnenstrahlen die Berggipfel verließen. Die Base spann und schwieg, sie mochte eingesehen haben, daß es das Beste sei.

„Base“ sagte ich endlich, „ich halt’s nicht weiter so aus mit meinen Gedanken, ich muß etwas thun, ich muß fort!“

„Aber, Fräulein Anneliese, so warten Sie doch nur erst Briefe ab und Ihren Koffer, Ihre Bücher,“ tröstete sie. „Und was die Hübner ist, die leiht Ihnen auch ihr Pianino, wenn Sie’s wollen, sie hat’s schon gesagt.“

Ich ging im Zimmer auf und ab wie ein Gefangener in seiner Zelle. Einsamkeit ist ja wundervoll, aber dazu gehört das völlige Gleichgewicht der Seele.

„Wann kommt denn der Briefträger, Base?“

„Um sechs Uhr abends.“

„Noch zwei Stunden!“ seufzte ich.

Die Base ging fort, dann kam sie wieder und brachte einen kleinen Teckel. „Der ist lustig, Annelieseken, der ist, als hätt’ er Menschenverstand.“ Und wirklich, der kleine Geselle unterhielt mich dann so urkomisch, daß ich die Wartezeit leidlich überstand.

Richtig, ein Vrief von der Komtesse! Er war gestern nachmittag zwischen vier und sechs Uhr zur Post gegeben, konnte also das Neueste über die Wirkung meiner Flucht enthalten. Ich riß den Umschlag auf und las:

 „Meine liebe Anneliese!“

Das klang ja sehr feierlich!

„In meinem Leben mische ich mich nicht wieder in die Familienangelegenheiten anderer Leute, denn es ist nicht angenehm, wie Du Dir denken kannst, von Herrn Wollmeyer, sozusagen, darum gebeten zu werden, Dich fernerhin nicht mehr mit meinem Rat zu unterstützen. Du hast leider, mein liebes Kind, meinen Rat befolgt, Du bist ausgerissen. So habe ich das aber selbstverständlich nicht gemeint, ich wollte Dich nach Hamburg bringen wie Du weißt, dann hätte es Art gehabt. Was blieb mir übrig? Ich ging nach Empfang Deiner Zeilen zu Len’. Sie lag noch im Bett, und Dich hatte noch niemand vermißt, das Stubenmädchen war mit dem Thee zwar an Deiner Thür gewesen, hatte sich aber dann, in der Meinung, daß Du schliefest, wieder zurückgezogen.

Ich befand mich demnach in der beneidenswerten Lage, die erste Ueberbringerin der Alarmnachricht zu sein. Ich setzte mich also ans Bett zu Len’ – Dein Stiefvater frühstückte mit seinen Gästen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 759. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_759.jpg&oldid=- (Version vom 22.6.2023)