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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Das neue Reichstagshaus.

Von Emil Peschkau. Mit Abbildungen von Willy Stöwer.


Der neue Reichstagsbau ist nunmehr für die Benutzung fertig – das Werk einer fast zehnjährigen Arbeit ist vollendet, daß nur ein kleiner Teil der künstlerischen Ausschmückung, insbesondere der malerischen, der Zukunft vorbehalten bleibt. Fast zehn Jahre lang war ein ganzes Heer von Arbeitern und eine stattliche Schar unserer besten Künstler damit beschäftigt, den Vertretern des deutschen Volkes im neuen Reich ein würdiges Heim zu schaffen. Dem Laien erscheint es in der Regel wunderlich, daß man an solch einem Hause zehn Jahre lang baut, aber der Sachverständige denkt an die Monumentalwerke früherer Zeiten, an denen oft länger als ein Menschenalter, ja nicht selten mehrere Generationen hindurch gearbeitet wurde. Und was unsere Tage betrifft, so brauchte man zum Justizpalast in Brüssel siebzehn, zur Pariser Großen Oper dreizehn, zu den modernen Wiener Prachtbauten durchschnittlich zwölf Jahre. Um solche Zahlen begreiflich zu finden, muß man sich eben auch die unendliche Fülle der Einzelheiten vorstellen, die bei einem derartigen Riesenbau zu bewältigen sind, man muß als genauer Beobachter die stolze Reihe dieser Hallen, diese Unzahl von prächtigen Sälen und anheimelnden Stuben durchwandern. Fast mit jedem Schritte begegnet man da Neuem, Eigenartigem, Ueberraschendem, und ist es zumeist auch nur scheinbar neu, hat man es mit einer Anlage zu thun, die schon da oder dort versucht worden, einem Motiv, das aus einem alten Bremer Kaufhause oder einem italienischen Palaste stammt, einer Steingattung, der schon die Venetianer im fünfzehnten Jahrhundert gar reizvolle Wirkungen abgewannen, oder einer solchen, die durch die prunkvollen Villenbauten in den Geländen am Main und Rhein „modern“ wurde – man wird endlich durch den Reichtum des Gebotenen des originell Verarbeiteten, durch den bunten Wechsel der Formen, Bildungen und Farbenspiele geradezu erdrückt. Und all das mußte geplant, durchdacht, durch Tausende von Arbeitern ausgeführt und endlich wieder feinsinnig zusammengestimmt sein – zusammengestimmt bis zu den Vorhängen, den Teppichen, den Möbeln, die mit dem Wand- und Deckenschmuck harmonieren müssen. Da verschwinden denn zehn Jahre schnell, man wird darüber alt und merkt es kaum. Und mit der Zeit verschwindet das Geld – einundzwanzig Millionen hat der Bau verschlungen (wobei der Wert des Platzes nicht mit gerechnet ist), und doch zeigen zahlreiche schön umrahmte weiße Wandflächen an, daß für die Maler nicht viel übrig geblieben. Diese einundzwanzig Millionen sind für den Laien eigentlich noch viel imponierender als die zehn Jahre Bauzeit, aber man begreift auch sie, wenn man das Gebäude näher kennengelernt hat. So wollen wir denn den Versuch unternehmen, es vor dem Leser in Worten aufzubauen, wobei uns die Bilder unseres Künstlers unterstützen werden. Die Hauptfassade, die dieser in seiner Anfangsvignette wiedergiebt, hat die „Gartenlaube“ übrigens bereits in größerem Maßstabe in Nr. 9 des letzten Jahrgangs gebracht, zugleich mit einem Bildnis und einem Lebensabriß von Paul Wallot, dem Schöpfer des großen Werkes.

Wenn man jetzt die Straße „Unter den Linden“ hinabschreitet und durchs Brandenburger Thor will, so wird das Auge sofort von den Wipfeln des Tiergartens durch die gewaltige helle Steinmasse abgezogen, die sich, anmutig gegliedert, zur Rechten erhebt. Wer der Kunst nicht ganz fremd gegenübersteht, ohne sich doch bis ins Einzelne mit ihr beschäftigt zu haben, dem steigt beim Anblick des gerade in Berlin besonders überraschenden Gebäudes sofort der frische Lebenshauch, die heitere Frühlingshelligkeit in der Seele empor, die man als das Charakteristische der frühen Renaissance bezeichnen könnte. Da griff man die Formen der Antike wieder auf und bildete sie fröhlich weiter, ohne sich an die strengen Gesetze zu binden, die später die Hochrenaissance ihren Werken zu Grunde legte. Treten wir nun dem neuen Reichstagshause näher, so bemerken wir bald, daß nur von dem Geist dieser Frührenaissance die Rede sein kann und daß der moderne Meister auch Motive aus der Zeit des Niederganges der Renaissance, aus dem Barock etc. aufgegriffen und fortgebildet hat. „In welchem Stil ist das Gebäude also durchgeführt?“ fragt der Laie, der gern sicher geht, und ich möchte am liebsten antworten: „Im modernen.“ Wir haben in der That einen modernen Baustil, der eben das Gute der Alten gerade so verwendet und den Zeitansprüchen gemäß entwickelt, wie es die Meister der Renaissance mit den Anregungen thaten, die ihnen aus der Antike zuströmten. Man kann einen neuen Stil nicht von heute auf morgen mit dem stolzen Wort „Ich will“ schaffen. Der Stil ist etwas, das wird, das sich entwickelt, und der moderne Stil, der sich jetzt noch des Eisens bemächtigt hat – über dem Reichstagshause erblicken wir eine mächtige Kuppel, gebildet aus vergoldeten Eisenrippen und Glas, von einer bildnerisch reichgeschmückten Laterne gekrönt – dieser moderne Stil hat seine Kinderjahre bereits hinter sich. Wallots Reichstagsgebäude ist ein wesentlicher Schritt weiter in der Entwicklung dieses neuen Stils, der die alten Motive so verschmilzt und verarbeitet, daß das ganze Werk uns

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 762. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_762.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)