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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

große Strecke ich gewandert war, und stand nun plötzlich an der Stelle der Waldstraße, wo sie sich um einen schroff vorspringenden Felsen windet und auf der anderen Seite steil nach einer Schlucht zu abfällt, geschützt durch eine einfache niedrige Mauer. Der letzte Tagesschein lag über der tannenbewachsenen Schlucht, über den Bergen, die rings umher aufstrebten; eine große ergreifende Einsamkeit umgab mich. Nichts rührte sich in diesen Wäldern, nur die Schneeflocken tanzten ihren stummen Reigen um mich her. Ich hielt den Atem an und lauschte. Ein Bangen überkam mich plötzlich – so still alles, so totenstill, nicht das Brechen eines Zweiges, nicht der Knall einer Peitsche, kein Schuß, der widerhallte in den Wäldern. Selbst der Wilderer jagte heute nicht – es ist Weihnachten, Frieden auf Erden für jede Kreatur, Frieden und Freude und ein trautes Sichfinden und Beieinanderbleiben – nur für mich nicht!

Da schüttelte mich ein wildes Herzeleid. Ich setzte mich auf das Mäuerchen in den Schnee und die Thränen rannen mir heiß aus den Augen. Wenn mich der liebe Gott lieb hat, dachte ich, läßt er mich hier nicht allein, dann schickt er mir jetzt etwas – etwas – einen Trost, ein Zeichen, daß es besser wird. Und so lange bleibe ich hier sitzen, und sollte ich darüber erfrieren. Finden sie mich hier tot – nun, so ist alles gut.

Und dann ließ ich mein naß geweintes Taschentuch sinken – es klangen Glocken herauf zu mir, abgetönte Schlittenglocken, wie sie die Postpferde hier trugen und ich begann zu überlegen, ob ich nicht mit zurückfahren solle, wenn Platz vorhanden wäre, denn es war stark dämmerig geworden und ich hatte noch weit nach Hause. Und plötzlich schmetterte das Posthorn durch den Wald.

„O Tannenbaum, o Tannenbaum –“

klang es so frisch, so weihnachtlich!

Aber das war doch nicht die gewöhnliche Post? Da bogen sie um die Ecke, die Postpferde, vor einem hübschen Schlitten, der Schwager mit dem Federbusch auf dem Hut nach Herzenslust blasend, und im Schlitten – ich wandte mich enttäuscht ab – ein gewöhnlicher – ich sah noch einmal hin – ein ganz gewöhnlicher Soldat, weiter nichts. Mögen sie voranfahren, dachte ich und rührte mich nicht.

Einen Augenblick verstummte Blasen und Schellengeläut, einen Augenblick nur; dann erklang es wieder, und langsam wandte ich mich dem Heimweg zu. Aber da stand plötzlich dieser Soldat vor mir, ein großer schlanker Mann, die Mütze etwas zur Seite gerückt auf dem krausen Haar, ein Tannenzweiglein zwischen den Lippen. Und nun nahm er dieses Zweiglein aus dem Munde, legte die Hand an die Mütze und fragte. „Fräulein Anneliese von Sternberg?“

Ich starrte ihn wortlos an, erstaunt, verwirrt. Dann erkannte ich das hübsche frische Gesicht, die treuherzigen ernsten Augen – ja, er war es, der Fremde vom Westenberger Kirchhof, von Hannchens Grab. Ich wischte mir eine Schneeflocke aus den Wimpern und fühlte, wie meine Hand zitterte.

„Die bin ich,“ stotterte ich.

„Darf ich Ihnen einen Platz im Schlitten anbieten?“ fragte er weiter, „Sie entschuldigen meine Dreistigkeit, gnädiges Fräulein, aber der Weg ist noch weit und es dunkelt schon – Sie wollen doch sicher nach Langenwalde zurück?“

Ich konnte nichts weiter erwidern als ein halblautes Ja und schickte mich an, neben ihm zu gehen, dem Schlitten nach, der eben dort unten hielt.

„Es ist ein richtiger Weihnachtsabend,“ begann er unbefangen im Weiterschreiten „ein richtiger deutscher Weihnachtsabend.“ Und er lächelte dabei in eigener stiller Weise. Dann half er mir in den Schlitten und langsam ging es bergan. Der Schwager blies ein anderes Lied, ein altes Soldatenlied, das mein Vater zu pfeifen pflegte und das die Rekruten singen, wenn sie ausgehoben worden sind und mit farbigen Schleifen an den Mützen durch die Straßen ziehen, ein Lied, von dem ich nur die Melodie und die erste Strophe kannte:

„Was grüßt so traulich aus der Ferne,
Das liebe teure Vaterhaus?“

Da nahm er wieder das Tannenzweiglein in den Mund und biß darauf, als fühlte er einen körperlichen Schmerz, den er auf diese Weise unterdrücken wollte, und sich. zu mir wendend, sagte er lächelnd: „Ein Deutscher verlernt nicht das Heimweh, selbst wenn die Heimat ihn verstoßen und ihm Steine gegeben hat statt Brot – Herr Gott, das ist alles noch ebenso wie damals, und es muß nun grade so schön schneien, und die drei einzelnen Tannen da oben auf der Höhe müssen auch noch stehen! Schwager, wenn’s möglich ist, hören Sie auf, man wird ja zum kleinen Jungen, man vergißt, daß man – daß man – –“

Der Postillon setzte das Horn ab und sah sich verwundert nach uns um.

„Verzeihen Sie, Fräulein von Sternberg,“ wandte sich mein Nachbar an mich, „es giebt Augenblicke, in denen die Seele Mühe hat, ihr Gleichgewicht zu behalten. – Hören Sie nicht auf mich, wenn ich sentimentales Zeug rede, aber lachen Sie auch nicht darüber!“

„Waem soll ich den lachen?“ fragte ich. „Ich lache nie über jemand, der seine Heimat lieb hat.“

„Wissen Sie denn, daß dies meine Heimat ist?“

Und da kam plötzlich jene kecke Stimmung über mich, die mich rücksichtslos sagen ließ, was mir durch den Kopf zuckte. „Ich denke wohl, Herr Robert Nordmann.“ Ich hatte ihn dabei angesehen, und das Herz schlug mir wie wahnsinnig.

Er wandte mir ein leicht erblaßtes Gesicht zu. „Erklären Sie mir, woher wissen Sie?“ fragte er.

„Ach, ich bitte Sie,“ lachte ich, „wenn man alle Tage erzählen hört von diesem Robert, jeden Abend hört, wie ein Paar alte Frauenlippen inbrünstig beten, daß der liebe Gott ihn beschützen möge und zurückführen und wenn einem morgens immer gesagt wird: ‚Sehen Sie, Annelieseken, aus dieser Tasse hat er getrunken und sehen Sie, diese Beule hat er in den Löffel gebissen und von diesem Apfelbaum hat er seine ersten Aepfel genascht und wegen der Großmutter von der alten Katze hat er einst Ohrfeigen von mir bekommen, weil er das Unglückstier in seinen Kahn setzte und auf dem Mühlgraben schwimmen ließ. Und, Annelieseken, schauen Sie, das hat er für mich ausgesägt und das Gedicht hat er einst als Neujahrswunsch hergesagt, und, Annelieseken, das ist die Kappe, die hat er noch tags vorher aufgehabt, ehe er fortgegangen ist auf Nimmerwiederkehr. Und so hat er ausgesehen und – –‘ Da hat man doch das Porträt so ziemlich! Und dann steht da jemand plötzlich an Hannchens Grab, der hat so braune Haare und solche Augen, wie sie die Base immer beschreibt – nun, gehört da so große Findigkeit zu dieser Entdeckung, mein Herr?“

Er antwortete nicht, er lächelte bloß vor sich hin.

„Nur eines ist mir nicht klar,“ fuhr ich fort, „die Uniform. Sind Sie gekommen, um sich zu stellen, Ihr Jahr abzudienen?“

„Ja,“ sagte er einfach, „spät genug! Aber ich konnte nicht früher, ich durfte meinen alten Vater nicht verlassen.“

Ich hörte gar nicht, was er sprach, mein Herz jubelte plötzlich auf und ich dachte an den alten Schutzengel, die Base. „Die Base,“ rief ich, „was wird die Base sagen! Sie dürfen ihr so nicht in die Stube fallen, Herr Nordmann,“ fügte ich hinzu, „sie stürbe vor Freude. Soll ich sie vorbereiten?“

Ich hatte gar nicht mehr das Gefühl, daß ein Fremder neben mir sitze, ein Mann, mit dem ich soeben das erste Wort gewechselt hatte; ich war einfach glücklich in dem Gedanken an die alte Frau und bemerkte nicht, daß er still wurde, daß er mich sprechen ließ. Beschämt hielt ich plötzlich inne. „Verzeihen Sie!“ stotterte ich.

„Verzeihen? Was denn? Daß mir die alte Heimat einen Weihnachtsgruß schickt aus solch liebem Mädchenmunde? Sprechen Sie nur, spreche Sie weiter, Fräulein von Sternberg!“

„Nein,“ sagte ich verwirrt, „ich störe Sie in Ihren Erinnerungen.“

„Durchaus nicht! Ich will auch keine Erinnerungen in diesem Augenblick, sie sind trübe und schwer.“

„Aber warum kamen Sie nicht früher zur Base?“

„Ich wußte nicht, daß sie hier oben sei, und habe erst allerhand Erkundigungen eingezogen in Westenberg, zudem – es mußte mein erstes sein, mich der Militärbehörde zu stellen; es galt, lange Hinausgeschobenes nachzuholen. Sie sehen, ich stecke schon im bunten Rock, da hat man wenig eigene Zeit. Meinen sonstigen Verwandten beabsichage ich erst dann einen Besuch zu machen, wenn ich des Königs Rock wieder ausziehe. Wir haben einander wenig zu sagen, Ihr Herr Stiefvater und ich. Und dies Wenige –“

„Sie wissen, daß er Mama –“

„Ich weiß, ja; seit ganz kurzer Zeit weiß ich’s.“ Es klang wunderlich; der weiche Ton war fast scharf und absprechend geworden; er schien wenig einverstanden mit dieser Heirat.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 774. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_774.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2022)